mal wieder mit einem Besuch beehren.“ Ein stahlharter Blick aus grauen Augen traf mich. Obwohl Morris in einem dunkelblauen Anzug vor mir im Sand stand, inmitten nur wenig bekleideter Sonnenanbeter, verlor er nichts von seiner imposanten Erscheinung. Keine Ahnung, wie der Mann das anstellte, aber er schaffte es immer, eine Aura der Autorität und stoischen Ruhe um sich zu verbreiten.
„Ich weiß.“ Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Alles in der Bemühung, so zu tun, als würde mich Morris nicht wie einen kleinen Jungen fühlen lassen, der seine Suppe nicht aufgegessen hatte. „Ich habe im Moment viel zu tun“, fügte ich hinzu.
Die Aussage traf auf Schweigen. Der Blick aus den stahlgrauen Augen wurde noch durchdringender.
„Oh, okay. Sie wissen genau, warum ich mein Elternhaus meide. Warum schauen Sie mich so an?“
„Vor seinen Gefühlen davonzulaufen, hat noch nie etwas Gutes gebracht.“
„Mag sein, aber wenigstens werden keine schmerzhaften Erinnerungen wachgerufen, wenn ich hier am Strand liege.“
Statt einer Antwort verschränkte Morris die Arme vor der Brust. Noch immer sah er mir in die Augen. Ich wusste schon jetzt, wer als Erster wegschauen würde. „Na gut, ich komme.“
„Wann?“
Verdammt. Der Mann kannte mich zu gut.
„Am Wochenende.“
Morris zog die Augenbrauen hoch.
„Okay, okay. Morgen Mittag zum Lunch.“
Keine Bewegung. Nicht einmal ein Nicken.
„Also gut. Heute Abend.“
Morris drehte sich um. „Achtzehn Uhr. Seien Sie pünktlich.“
Obwohl Fisher Island nur drei Meilen vom Miami South Pointe Park entfernt ist – im Grunde hätte ich meiner Mutter zuwinken können, als ich dort am Strand saß –, dauerte es mit dem Auto etwa eine Dreiviertelstunde, bis ich dort war. Von dieser Zeit verbrachte ich den größten Teil auf der privaten Fähre, auf der nur Besucher und Bewohner von Fisher Island zugelassen sind. Aber das war nicht weiter schlimm, ich genoss die langsame Fahrt über den schmalen Wasserstreifen, der zu der kleinen Insel führte. Auf Fisher Island zu wohnen, bedeutete, dass man Geld hatte. Verdammt viel Geld.
Ich wuchs dort auf und verbrachte die meiste Zeit meines Lebens im oder auf dem Wasser. Jetski, Surfen, Tauchen, Segeln, Schwimmen. Egal, was es war, solange es was mit dem Meer zu tun hatte, war ich dabei.
Die Fähre legte langsam an und ich fuhr hinunter. Eine Meile noch, dann passierte ich das große eiserne Tor, das vor mir aufschwang. Morris hatte recht. Ich war schon zu lange nicht mehr hier gewesen. Seit dem Tod meines Vaters hatte ich mich mit meiner Mutter fast nur noch in Restaurants getroffen. Oder im Country Club. Hauptsache, ich musste nicht nach Hause und die Räume betreten, die so viele Erinnerungen an meinen Vater bargen … und an unsere letzte Begegnung.
Ich stellte den Motor ab und blieb für einen Augenblick sitzen, atmete tief durch. Dann erst öffnete ich die Fahrertür und stieg aus. Vor mir erhob sich der dreistöckige Bau. Eine weiß gestrichene Fassade, jede Menge Rundbögen. Alles sah aus wie immer. Die Auffahrt gesäumt von einem gepflegten Rasen, Palmen und Zitrusbäumen. Der Duft von Orangen lag in der Luft. Für mich bedeutete dieser Geruch, dass ich zu Hause war. Meine Mutter stammte aus Orlando, sie war in der Nähe der riesigen Orangenplantagen, die man in diesem Teil von Florida findet, aufgewachsen und hatte ein Stück ihrer Heimat mit nach Fisher Island gebracht.
Ich öffnete die Haustür mit meinem Schlüssel und trat ein, der helle Marmor der Eingangshalle glänzte, als sei er gerade eben poliert worden. Und so wie ich Giselle, die Haushälterin meiner Eltern, kannte, war genau das der Fall.
Ich schluckte. Dass der alte Mann tot war, konnte ich noch immer nicht glauben. Noch weniger wollte ich daran erinnert werden. Zum Glück hörte ich eilige Schritte auf mich zukommen, dann betrat meine Mutter die Eingangshalle.
„Tyler, da bist du ja!“ Sie umarmte mich, dann trat sie einen Schritt zurück. „Wie geht es dir?“, fragte sie mich mit leiser Stimme.
„Gut. Es geht mir gut.“ Ich räusperte mich. „Es tut gut, wieder hier zu sein“, sagte ich dann. Es war nicht einmal eine Lüge – oder zumindest keine allzu große Lüge. Es war gut, wieder in meinem Elternhaus zu sein.
„Schön!“ Mutter lächelte mich an. In ihren Augen lag noch die Traurigkeit, deren Anblick mir in den letzten Wochen so vertraut geworden war. Der plötzliche Tod meines Vaters war nicht nur für mich ein schwerer Schlag gewesen.
„Du bist ganz zerzaust.“ Sanft strich sie mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann richtete sie meinen Hemdkragen. „So“, sagte sie zufrieden, „jetzt siehst du schon wieder etwas präsentabler aus.“
Ich grinste sie an. „Die Frauen mögen diesen zerzausten Look.“
„Das kann sein, aber ich bin deine Mutter.“ Wieder stahl sich dieses Lächeln, das nicht ganz ihre Augen erreichte, auf ihr Gesicht. „Ich dachte, wir essen erst und dann … Es gibt da etwas, was dein Vater dir zeigen wollte, kurz bevor er …“ Sie brach ab. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Lass uns ins Esszimmer gehen. Giselle hat Penne arrabbiata gemacht. Sehr scharf, so wie du sie am liebsten magst. Komm.“ Sie drehte sich um und ging voraus, ihre Absätze klapperten auf dem Marmor. Der Klang gehörte ebenso zu meiner Kindheit wie der Duft von Orangenbäumen.
Meine Mutter führte mich ins Esszimmer. Jetzt, im Hochsommer, war es zu heiß, um auf der Terrasse zu sitzen. Sonnenlicht strömte durch die großen Flügeltüren, die Klimaanlage surrte leise und sorgte dafür, dass in dem Raum eine angenehm kühle Temperatur herrschte.
Der Tisch im Esszimmer war wie immer makellos gedeckt mit einer blütenweißen Tischdecke, teurem Porzellan und Kristallgläsern. Giselle kam und trug das Essen auf, kaum dass wir uns gesetzt hatten. Meine Mutter hob ihr Weinglas und prostete mir zu.
„Auf uns und …“ Sie schluckte. „Ich bin froh, dass du gekommen bist. Walter hätte nicht gewollt, dass dir eure letzte Begegnung so viel Trauer bereitet. Er wollte …“ Wieder schluckte sie. Ich konnte ihr förmlich ansehen, dass sie ihre Tränen zurückhalten musste. „Er war so aufgeregt in den Tagen kurz vor seinem Ableben. Er erzählte mir immer wieder, er hätte etwas entdeckt. Etwas, was genau das sei, was du … Er hat ein Projekt geplant, das er mit dir gemeinsam umsetzen wollte und … Entschuldige.“ Sie hob ihre Serviette und tupfte ihre Augen ab. „Ich habe dir die Unterlagen, an denen er gearbeitet hat, ins Arbeitszimmer gelegt. Du solltest dir das mal anschauen.“
„Worum geht es denn?“
„Das findest du am besten selbst heraus. Aber ich glaube, er hatte recht. Ich glaube, du wirst verstehen, was er meinte und warum er so begeistert war.“
„Du machst es ja ziemlich spannend.“
„Ja, nicht wahr? Aber jetzt lass uns essen, bevor alles kalt wird, sonst schimpft Giselle mit uns.“
Eine Stunde später stand ich im Büro meines Vaters im ersten Stock. Der Raum war genau so eingerichtet, wie man es von einem Mann vermuten würde. Schwere Mahagoni-Möbel, dick gepolsterte lederne Sessel. Nicht mal der Kamin fehlte, und das, obwohl er in Florida höchstens im Januar oder Februar benutzt wurde. Die Wand gegenüber der Tür wurde vollkommen von einem Bücherregal in Anspruch genommen. Hier bewahrte mein Vater die kostbaren Erstausgaben auf, die er im Laufe seines Lebens erworben hatte. Werke von Hemingway, Faulkner, Edgar Allan Poe fanden sich hier ebenso wie die von James Fenimore Cooper oder Margaret Mitchell. Mein Vater hatte nicht nur einen vielfältigen Literaturgeschmack, sondern war schon immer jemand gewesen, der sich mit den unterschiedlichsten Themen beschäftigte.
Vorsichtig