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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus


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Kleine Geschichte des Neoliberalismus (2005) nahe, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus geradezu auf. Diese vielbeschriebenen Tendenzen beinhalten unter anderem die Privatisierung vormals öffentlicher Bereiche und Güter mit dem Ziel, „der Kapitalakkumulation neue Bereiche zu erschließen, die bis dato als dem Profitkalkül entzogen galten“ (Harvey 198), wie zum Beispiel den der Sozialleistungen. Sie beinhalten ferner die Verstärkung transnationaler Wirtschaftsverflechtungen durch Globalisierungsprozesse, oder die zunehmende Bedeutung des Finanzsektors und gehen einher mit der Hervorhebung der Eigenverantwortung des Individuums für ein gelingendes Leben, dem Druck zur Effizienzausrichtung und Selbstoptimierung, sowie mit einem Weltbild, das den Markt „als geeignete Leitinstanz – ja als ethisches Leitprinzip – für alles menschliche Handeln“ (ebd. 205) betrachtet. Wie Harvey unmissverständlich aufzeigt, werden dabei die mit dem Kapitalismus von jeher verbundenen sozialen und ökologischen Probleme in neue Höhen getrieben. Er beschreibt etwa, wie, befördert durch kurzfristige, an bestimmte Aufgaben geknüpfte Arbeitsverhältnisse und die zunehmende Mobilität des Kapitals, im Neoliberalismus „der Prototyp der ‚disponiblen Arbeitskraft‘ die weltwirtschaftliche Bühne“ (209) betritt, die gezwungen ist, jedwede Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, um der allzeit drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen.3 Zentraler Aspekt der Neoliberalisierung, so Harvey, ist die Umverteilung von Reichtum durch einen Prozess, den er in Anlehnung an Marx‘ ursprüngliche Akkumulation als „Akkumulation durch Enteignung“ (198) beschreibt. Er weist beispielsweise darauf hin, dass ein strategisches Orchestrieren von Schuldenkrisen dazu dient, Reichtum von armen zu ohnehin schon reichen Ländern umzuverteilen (vgl. 200-1), der neoliberale Staat zum Agenten einer Umverteilung von unten nach oben wird, anstatt sozio-ökonomische Gefälle innerhalb der Bevölkerung auszugleichen (vgl. 203), und der Finanzsektor als einer der bedeutendsten „Mechanismen der Umverteilung mittels Spekulation, Ausplünderung, Betrug und Diebstahl“ (199) fungiert.

      Dass ein solches System in vielerlei Hinsicht Anlass zu Kritik bietet, liegt auf der Hand. Einen imaginativen Spielraum für solche Kritik bietet die Literatur. Dabei führt sie zum einen klassische Genres fort, etwa den Industrieroman der 1830-1850er Jahre; zum anderen kristallisieren sich neue Genres heraus, die sich dezidiert mit dem neoliberalen Kapitalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts auseinandersetzen. Im anglo-amerikanischen Raum zum Beispiel prägte der Journalist Sathnam Sanghera den Begriff ‚crunch lit‘ für ein Genre, das, wie der Name schon andeutet, im Kontext der globalen Finanzkrise von 2007 bis 2008 entstand – crunch referiert auf credit crunch, zu Deutsch Kreditkrise (vgl. Shaw 7). Gründete das Genre zunächst auf „financial confessional narratives“ der Insider des Londoner Finanzgeschehens und beleuchtete die unethischen Verhältnisse und illegalen Machenschaften innerhalb dieser Welt, so deckt der Begriff crunch lit inzwischen eine Bandbreite fiktionaler Abhandlungen zur Finanzkrise ab (vgl. ebd.).

      Solche Genres sind Betrachtungsgegenstand einer Ausrichtung der Literaturwissenschaft, die sich mit dem Verhältnis zwischen literarischen Texten und dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem befasst. Neben spezifischen Genres (vgl. beispielsweise Shaw) stehen etwa Figuren wie die des Unternehmers (vgl. beispielsweise von Matt) oder ökonomische Motive wie das des Geldes (vgl. beispielsweise Hörisch) im Zentrum literatur- und kulturwissenschaftlicher Analysen. Gleichsam (und mitunter im Zusammenspiel mit den genannten Gesichtspunkten) finden sich Ansätze, die wirtschaftlichen Prozessen und Theorien aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive begegnen (vgl. beispielsweise Vogl), auf Gemeinsamkeiten der Systeme Literatur und Ökonomie hinweisen oder das Feld der Literatur im Kontext marktwirtschaftlicher Zusammenhänge untersuchen.4 Wichtige Impulse innerhalb dieses Forschungsgebiets gingen unter anderem vom sogenannten ‚new economic criticism‘ aus. Unter diesem Begriff fassten Martha Woodmansee und Mark Osteen in den frühen 1990er Jahren einen Ansatz, der sich der wechselseitigen Betrachtung von Literatur und Wirtschaft verschreibt und sowohl literarische Texte anhand wirtschaftlicher Denkfiguren als auch die Literarizität wirtschaftlicher Diskurse studiert (vgl. Urbatsch 567). In einer solch interdisziplinären Tradition verorten lässt sich ganz aktuell beispielsweise der Sammelband Economics and Literature: A Comparative and Interdisciplinary Approach (2018), herausgegeben von Ҫınla Akdere und Christine Baron, der Perspektiven der Literatur- und Wirtschaftswissenschaft vereint. Auch weitere Studien der vergangenen Jahre stellen das wechselseitige Verhältnis zwischen Literatur und Wirtschaft heraus, beispielhaft anzuführen wäre der gleichnamige, bereits genannte Sammelband ‚Denn wovon lebt der Mensch?‘: Literatur und Wirtschaft von Dirk Hempel und Christine Künzel, der neben der „Wirtschaft ‚in der‘ Literatur“ auch die „Literatur ‚als‘ Wirtschaft bzw. Wirtschaft ‚als‘ Literatur“ betrachtet (Hempel/Künzel 16-7, Hervorhebung im Orig.).

      Zielsetzung und Beiträge des vorliegenden Bandes

      Wo mit Titeln wie Literatur und Wirtschaft oder Economics and Literature eine gegenseitige Durchdringung beider Teilbereiche zum Ausdruck gebracht wird, richtet der vorliegende Band das Augenmerk dezidiert auf die Literatur und, im engeren Sinne, auf die Darstellungsinhalte und -weisen literarischer Texte. Dieser Fokus ermöglicht im Gegenzug die Betrachtung einer Bandbreite von Gattungen – darunter Romane, TV-Serien, Theaterstücke und Song Lyrics – sowie verschiedener nationaler Literaturen und trägt damit dem gegenwärtigen „Kapitalismus der ‚postnationalen Konstellation‘“ (Preglau 23) Rechnung. Die Beiträge sind als Schlaglichter in einem Band konzipiert, der keinen Anspruch auf eine allumfassende Darstellung erhebt; sie regen allerdings an vielen Stellen dazu an, Querverbindungen herzustellen und ergeben so ein facettenreiches Gesamtbild zeitgenössischer Literatur. Auch der gewählte zeitliche Fokus auf literarische Werke der Gegenwart unterscheidet sich von der diachronen Betrachtung vergleichbarer Publikationen; er erst macht es aber möglich, sich dem Gegenstand dieses Bandes in der gegebenen Breite und Tiefe zu nähern. Schließlich sollte aus den Darlegungen dieser Einleitung auch ersichtlich geworden sein, warum im Titel dieses Bandes gezielt das Schlagwort ‚Kapitalismus‘ gewählt wurde. Zum einen verweist dies auf eine spezifisch historische Situierung des Untersuchungsgegenstandes der folgenden Beiträge – gelegen ist uns weniger an Reflektionen über die Wirtschaft als solche als vielmehr an der Situation des Kapitalismus im 21. Jahrhundert im Spiegel der Literatur. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass das Erkenntnisinteresse dieses Bandes in der kapitalistischen Wirtschaftsform als Gesellschaftsform liegt. Es wäre daher kurzsichtig, wirtschaftliche Prozesse nicht in Verbindung mit weiteren gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, oder ökologischen Fragen zu denken, die im Folgenden adressiert werden.

      So beleuchtet die erste Sektion des Sammelbandes, „Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus“, den Kapitalismus als moralisches Problem. Diese Sektion nimmt vor allem die Auswirkungen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in den Blick, indem sie illustriert, wie Menschen unter den Ungerechtigkeiten desselben leiden. Dabei liefern sie eine differenzierte Darstellung davon, was, wie Rahel Jaeggis provokant formulierter Essay-Titel fragt, am Kapitalismus falsch ist.

      Stephanie Neu-Wendel eröffnet den Band mit ihren Überlegungen zum italienischen Kriminalroman der Gegenwart am Beispiel von Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006), die die Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität Italiens dokumentieren. Diese Romane, so die Autorin, bedienen sich einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen und Fiktion, um die Folgen illegaler Wirtschaftskreisläufe für Mensch und Umwelt, beispielsweise die Umweltverschmutzung in Süditalien, zu kritisieren. Annika Gonnermann konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die dem Kapitalismus inhärenten Beschleunigungstendenzen und zeichnet die individuellen wie gesellschaftlichen Folgen einer auf Effizienz fixierten Logik im Theaterstück Allelujah! (2018) des Briten Alan Bennett nach. Zentral sind hierbei Fragen zum gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Alter und zu den Folgen von Margaret Thatchers neoliberaler Politik im Großbritannien der 1980er Jahre. Katharina Motyl untersucht, welchen Zusammenhang die TV-Serie The Wire (2002-2008) zwischen der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik und der ‚punitiven Revolution‘ in den USA sieht. Besonders im Fokus stehen dabei, so Motyl, die komplexen Erzählstrukturen der Serie, die sich signifikant von anderen US-amerikanischen Krimiserien ihrer Ära unterscheiden und den Zuschauer_innen