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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus


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wird De Cataldo beispielsweise in einem Artikel in der ZEIT explizit als Streiter für demokratische Werte vorgestellt;6 Saviano wiederum erscheint durch die unmittelbaren Folgen des Erscheinens von Gomorra – Morddrohungen durch die Camorra und ein ständiges Leben unter Polizeischutz an versteckten Orten – als besonders glaubwürdig; zudem äußert er regelmäßig in Zeitungsartikeln oder auch im Fernsehen Kritik an aktuellen politischen Entwicklungen in Italien.7 Die in außerfiktionalen Zusammenhängen zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Positionierungen können entsprechend auch auf die Rezeption der (fiktionalen) Werke zurückwirken; besonders deutlich wird dies am Beispiel von Gomorra, in dem die Grenze zwischen Erzähler- und Autorfigur bereits von der Anlage des Textes her durchlässig ist und sich fiktionale Erzählstrategien mit konkreten biographischen, faktenbezogenen Anteilen mischen.

      2. Kritik am Kapitalismus in Nelle mani giuste und Gomorra: theoretische Bezugspunkte

      Wie in der Einleitung skizziert, spielt vor allem in Nelle mani giuste die Verflechtung von Wirtschaft und Politik eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang ließe sich die Frage stellen, ob die Darstellung dieser Allianz dem entspricht, was der Soziologe Johannes Berger als „Herrschaftskritik“, verstanden als „Kritik der politischen Herrschaft im Staat“ (33), beschreibt.1 Wie Berger unter Bezugnahme auf marxistische Theorien erläutert, zeichnet sich dieser Aspekt der Kapitalismuskritik durch die Annahme aus, dass „[…] der Staat […] nichts anderes als ein ‚Instrument der herrschenden Klasse‘“ sei (33). Berger selbst steht dieser Sichtweise skeptisch gegenüber und bringt Argumente vor, die dagegen sprechen, „[…] im Staat nur den direkten oder indirekten Agenten des Kapitals zu erblicken“ (34). Er kommt zu dem Schluss, dass „die gegenwärtige Lage des Staats in westlichen Gesellschaften […] insgesamt eher durch ‚Herrschaftsverlust und Sanktionsverzicht‘ gekennzeichnet zu sein [scheint] als durch zunehmende Repression“ (34).

      Bergers Einwände erwecken den Eindruck einer idealtypischen Beschreibung demokratisch organisierter Staaten; im Gegensatz dazu zeigen Romane wie Nelle mani giuste auf, dass auch in Demokratien Regierungen sehr wohl – zum Beispiel durch die Wahl eines Vorzeige-Kapitalisten wie Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten – einer wirtschaftlich privilegierten Elite in die Hände spielen können. In diesem Sinne lässt sich De Cataldos Roman durchaus als „herrschaftskritisch“ bezeichnen.

      Eine besondere Rolle kommt, wie bereits angedeutet, in diesem Zusammenhang auch der Frage nach Moral und Unmoral im kapitalistischen System zu; hierzu zähle laut Berger „die Betrachtung der Auswirkungen der kapitalistischen Expansion auf die soziale und natürliche Umwelt des Wirtschaftssystems“ (37). Kritik, die im Zusammenhang mit den Folgen für die „soziale Umwelt“ geäußert wird, ziele in erster Linie darauf ab, das kapitalistische Wertesystem unter moralischen Gesichtspunkten zu beleuchten und auf Entwicklungen hinzuweisen, die als negativ wahrgenommen werden:

      Das Argument vom Gemeinschaftsverlust (oder Moralverlust) als Folge der Expansion der Marktwirtschaft tritt in mehreren Varianten auf. Es ist z.B. präsent in den Befürchtungen der christlichen Kirchen, dass materialistische Einstellungen überhand nähmen und andere, höherwertige moralische Orientierungen (‚Solidarität‘) verdrängten. Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine breite Strömung der Kritik am Konsumismus und Hedonismus einer kapitalistisch geprägten Kultur, die an die Stelle älterer und höher geschätzter Lebensformen und Wertorientierungen träten. (38)

      Deutlicher und plakativer als Berger, der Kritik am kapitalistischen System zwar darstellt, aber nicht zwangsläufig teilt,2 äußert sich der Philosoph Michael J. Sandel zum Einfluss der Wirtschaft auf die Gesellschaft, insbesondere zum Übergang von einer „market economy“ zu einer „market society“:3

      to decide where the market belongs, and where it should be kept at a distance, we have to decide how to value the goods in question – health, education, family life, nature, art, civic duties, and so on. These are moral and political questions, not merely economic ones. […] The difference is this: A market economy is a tool – a valuable and effective tool – for organizing productive activity. A market society is a way of life in which market values seep into every aspect of human endeavor. It’s a place where social relations are made over in the image of the market. (10-1)

      Ebenfalls aus einer soziologischen Perspektive zeichnen Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher und Philipp Ramos Lobato ein ähnlich düsteres Bild des „‚postfordistisch‘ transformierten Kapitalismus“ (9), in dem „[d]ie ‚Logik‘ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens unter das Warenverhältnis und zur Verdinglichung der sozialen Beziehungen, endgültig zu triumphieren [scheint], und zwar weltweit“ (ebd.).

      De Cataldo setzt in Nelle mani giuste ein vergleichbares Szenario literarisch um: Anhand der Überzeichnungen in der Figurendarstellung wird Politik als ein System dargestellt, in dem alle Beteiligten in erster Linie darum bemüht sind, ihren Profit zu maximieren, während das Gemeinwohl in den Hintergrund tritt. In Gomorra wiederum wird das System der organisierten Kriminalität als eine Parallelgesellschaft beschrieben, in der – Sandels Darstellung entsprechend – alles und jeder käuflich zu sein scheint und sowohl Objekte als auch (illegale) Dienstleistungen und Menschen einen ‚Preis‘ haben.

      Ein weiterer Aspekt der Kapitalismuskritik, der ebenfalls deutlich in Gomorra zu Tage tritt und mit der Darstellung der kriminellen Parallel-Marktgesellschaft zusammenhängt, betrifft Gefahren für die Umwelt. Auch hier lassen sich Anknüpfungspunkte an kapitalismuskritische Stimmen erkennen:

      Das wirtschaftliche Wachstum führt, so lautet der Tenor der Kritik, zu einer beängstigenden Verschmutzung von Luft, Erde und Wasser, es verbraucht in einem atemberaubenden Tempo die natürlichen Ressourcen, rottet Arten aus, vernichtet uralte Waldbestände und gefährdet damit nicht nur die Lebensräume vieler Arten, sondern letztlich auch die Lebensgrundlagen des Menschen. (Berger 38-9)

      Savianos Darstellung in Gomorra geht über diese generelle Kritik am Wirtschaftswachstum beziehungsweise an einem fehlenden Bewusstsein für die Folgen der Expansion und Industrialisierung, für die nur die Profitmaximierung im Vordergrund steht, weit hinaus. Ausführlich werden die Praktiken der illegalen Müllentsorgung geschildert, von der mehrere Seiten profitieren: zum einen die legale Wirtschaft, da sie Geld spart, zum anderen die organisierte Kriminalität, hier insbesondere die Camorra, für die das Müllgeschäft zu einer lukrativen Einnahmequelle geworden ist.

      Sowohl in Bezug auf Nelle mani giuste als auch auf Gomorra lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass insbesondere Aspekte der Kapitalismuskritik, die mit moralischen und ökologischen Fragestellungen in Zusammenhang stehen, aufgegriffen und mit Mitteln der – fiktionalen – Literatur dargestellt werden. Wie sich diese Umsetzung der Kritik konkret gestaltet, wird in den folgenden beiden Abschnitten anhand ausgewählter Textpassagen näher ausgeführt.

      3. Nelle mani giuste: Berlusconis Aufstieg an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Verbrechen

      Verstrickungen von Politik, Wirtschaft und Mafia sind nicht nur das zentrale Thema von Nelle mani giuste, sondern auch von dessen Vorgängerroman Romanzo criminale (2002), in dem De Cataldo ein umfassendes Panorama der Verflechtungen staatlicher, parastaatlicher und krimineller Strukturen in Italien von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart entfaltet.1 Romanzo criminale trägt bereits im Titel eine Referenz auf den Kriminalroman, ein Genre, das sich in Italien bereits seit seiner Entstehung als kritische und engagierte Literatur präsentiert.2 Der italienische ‚Giallo‘ – zu Deutsch ‚gelb‘; so benannt nach der Umschlagsfarbe einer Kriminalroman-Reihe des Verlags Mondadori – zeichnet sich zum einen durch einen hohen Lokalbezug aus; zum anderen beziehen sich Autorinnen und Autoren des ‚Giallo‘ immer wieder auf politisch brisante Themen wie ungelöste Kriminalfälle, in die Staat, Mafia und Wirtschaft verwickelt sind, um mit Mitteln der Fiktion literarische Hypothesen aufzustellen und nicht nachweisbare oder verschleierte Sachverhalte zu rekonstruieren. Der italienische Kriminalroman lässt sich entsprechend als Genre bezeichnen, „che affonda le radici nella realtà“ (Sangiorgi 21), also als eines, das in der Realität verwurzelt ist.