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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus


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einer drei Hektar großen Grundfläche. […] In meiner Vorstellung gleicht diese gewaltige Erhebung den Endlossträngen einer DNA, auf der alles gespeichert ist – Handelsoperationen, die Subtraktionen und Additionen der Finanzexperten, die Profitraten. (Gomorrha 341)6

      Anhand dieses Auszugs lässt sich ein Bezug zu einem der eingangs genannten Aspekte der Kapitalismuskritik herstellen: Die Gefahren für die Umwelt durch das Wirtschaftswachstum werden hier explizit benannt; am Beispiel der durch Zahlen benannten Mengen an illegal entsorgtem Müll, darunter Giftmüll, aus der industriellen Produktion wird veranschaulicht, welche Folgen ein auf Profitmaximierung ausgerichtetes Wirtschaftssystem für die Umwelt haben kann. Zwei Charakteristika von Savianos Erzählweise werden ebenfalls verdeutlicht: Das Aufzählen von Daten erfolgt ohne Quellenangabe; gleichzeitig meldet sich das erzählende Ich mit persönlichen Assoziationen zu Wort, als jemand, der stellvertretend für seine Leserinnen und Leser versucht, den Wirtschaftskreislauf zu verstehen, um Kritik daran üben zu können.

      Eingebettete anekdotische Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann, tragen ebenso wie die eindringliche Assoziation zwischen den anfallenden Müllmengen und der Form eines gigantischen Berges dazu bei, den abstrakten Fakten ein ‚Gesicht‘ zu geben – im folgenden Beispiel das eines Landwirtes, der beim Pflügen seines Feldes auf giftigen Restmüll stößt:

      Eines Tages pflügte ein Bauer seinen Acker, der genau an der Grenze zwischen den Provinzen Neapel und Caserta lag; er hatte das Stück Land gerade erst gekauft. Der Motor seines Traktors ging immer wieder aus, als wäre das Erdreich an diesem Tag ganz besonders fest. Und auf einmal beförderten die Pflugscharen Papier zutage. Geld. Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen. Der Bauer sprang von seinem Traktor und fing an, in fliegender Hast die Fetzen aufzusammeln, als wäre es die versteckte Beute aus einem großen Banküberfall. Aber es waren nur Papiergeldschnipsel, die Farbe ausgebleicht. Geschredderte Banknoten der italienischen Staatsbank. Tonnenweise zu Ballen gepreßte [sic!] Lirescheine, die man aus dem Verkehr gezogen hatte. Die alte italienische Währung, die man hier verscharrt hatte, vergiftete jetzt einen Blumenkohlacker mit Blei. (Gom 344-5)

      Auffällig an diesem Auszug sind Savianos narrative und rhetorische Strategien: Er schmückt die Episode um den Bauern aus Caserta durch plakative Beschreibungen seines Verhaltens aus, zum Beispiel durch die Wendung „in fliegender Hast“,7 so dass der Eindruck entsteht, als Augenzeuge ‚live‘ dabei zu sein. Die Klimax „Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen“8 unterstreicht hyperbolisch die Menge an Geldscheinen, die im Acker vergraben sind. Dass es sich gerade um Banknoten handelt, kann ebenfalls als geschickter rhetorischer Einfall gesehen werden, da Geld und Gewinn Dreh- und Angelpunkt des ganzen illegalen Wirtschaftskreislaufs bilden.

      5. Literarische (fiktionale) Darstellungen als Ergänzung und Weiterführung theoretischer Überlegungen

      Unter Rückbezug auf die eingangs zitierte Frage – „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur?“ – lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die in theoretischen Ausführungen dargelegte Kritik an kapitalistischen Strukturen und ihrem Einfluss insbesondere auf Moralvorstellungen und auf das ökologische System in Nelle mani giuste und Gomorra in konkrete, greifbare Handlungen und Figuren ‚übersetzt‘ wird: Beispiele dafür liefern die zugespitzte Darstellung des Journalisten Carú in Nelle mani giuste oder die anekdotische Episode um den ‚Geldacker‘ in Gomorra.

      Sowohl Nelle mani giuste als auch Gomorra zeigen die Freiheiten und Möglichkeiten gerade der fiktionalen Literatur auf, Kritik an entsprechenden Strukturen eindringlich darzustellen und – im Falle von De Cataldos Roman – die bekannten Fakten neu zu kombinieren und Vermutungen anzustellen, die in einem journalistischen Text, in dem alle Aussagen belegbar sein müssen, nicht möglich wären. Der Kriminalroman eignet sich – dies gilt, wie bereits zu Beginn kurz erwähnt, insbesondere für Italien – als Textsorte, die zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität genutzt werden kann. Durch beispielsweise politisches Engagement oder das Ausüben von Berufen im Bereich der Justiz, mit denen Integrität assoziiert wird, gewinnen auch die Autorinnen und Autoren von ‚Gialli‘ an Glaubwürdigkeit und ethos im Sinne von Korthals Altes, was sich wiederum auf die Rezeption ihrer Werke auswirken kann. Gomorra nimmt in diesem Panorama eine Sonderstellung ein: Es handelt sich hierbei nicht um einen Kriminalroman, sondern um eine Darstellung krimineller Aktivitäten mit hohem Realitätsbezug, die als Dokumentation und investigative journalistische Recherche angelegt ist. Roberto Saviano nennt entsprechend konkrete Namen und Orte, allerdings – und das ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert – ohne Quellenangaben. Für die Darstellung der geschilderten Fälle und Schicksale bedient der Autor sich darüber hinaus narrativer Strategien, die der fiktionalen Literatur entlehnt sind. Warum erscheinen die Schilderungen dennoch glaubwürdig? Es mag auf den ersten Blick paradox scheinen, aber es sind gerade die erwähnten Fiktionalitätsstrategien – vor allem die Schilderungen aus der Sicht des ‚erlebenden Ich‘ Roberto Saviano –, die den Eindruck einer unmittelbaren Nähe zum Geschehen vermitteln und ein ‚Mitfühlen‘ ermöglichen (vgl. dazu Conrad von Heydendorff 412).

      Festzuhalten ist abschließend, dass es sich in beiden Fällen nicht um eine dezidierte Kritik am Kapitalismus per se handelt: Eine kapitalistische Ordnung der Gesellschaft wird von De Cataldo und Saviano nicht grundsätzlich – zugunsten anderer Staats- und Wirtschaftsformen – in Frage gestellt. Offengelegt werden jedoch Entwicklungen innerhalb dieses Systems, die moralische Fragen aufwerfen, sowohl in Bezug auf individuelles (Fehl-)Verhalten als auch auf die Verwischung der Grenzen zwischen legalem und illegalem Unternehmertum sowie hinsichtlich des ausbeuterischen Umgangs mit natürlichen Ressourcen und mit dem Stellenwert des (menschlichen) Lebens, das in beiden hier betrachteten Texten zu einer ‚Ware‘, zu einer vernachlässigbaren Größe im Kampf um Geld und Einfluss oder zu einer (politischen) ‚Verhandlungsmasse‘ in Form von Wählerstimmen beziehungsweise Konsumentinnen und Konsumenten deklassiert wird.1

      Bibliographie

      Primärliteratur:

      De Cataldo, Giancarlo. Nelle mani giuste. Einaudi, 2007.

      —. Schmutzige Hände. Übersetzt von Karin Fleischanderl, Folio Verlag, 2011.

      Saviano, Roberto. Gomorra: Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra. Mondadori, 2016.

      —. Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra. Übersetzt von Friederike Hausmann und Rita Seuß, Carl Hanser Verlag, 2007.

      Sciascia, Leonardo. Todo modo. Einaudi, 1974.

      Sekundärliteratur:

      Amici, Marco. „Dall’epopea criminale all’ambiguità dei giorni nostri: Alcune considerazioni su Romanzo criminale e Nelle mani giuste di Giancarlo De Cataldo.“ Memoria in Noir: Un’indagine pluridisciplinare, herausgegeben von Monica Jansen und Yasmina Khamal, Peter Lang, 2010. S. 77-86.

      Arlacchi, Pino. Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus: Die unternehmerische Mafia. Übersetzt von Norbert Neumann, Cooperative Verlag, 1989.

      Behan, Tom. The Camorra. Routledge, 1996.

      Berger, Johannes. Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik. Springer VS, 2014.

      Caspar, Marie-Hélène, Herausgeberin. Trent’anni di giallo italiano, Sonderausgabe von Narrativa, 26 (2004).

      Conrad von Heydendorff, Christiane. Zurück zum Realen: Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur. V&R unipress, Mainz UP, 2017.

      Crovi, Luca. Tutti i colori del giallo: Il giallo italiano da De Marchi a Scerbanenco a Camilleri. Marsilio, 2002.