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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus


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Vorhersage trifft ein – verdächtigerweise tun sie das immer – und Betten werden frei. Doch im Gegensatz zum Publikum wird keine der Figuren im Drama skeptisch. „Have there been unexplained deaths?“ (73) fragt sich zwar Colin, aber alles in allem will das so genau gar niemand wissen. No questions asked – mit diesem Motto reagieren die Verantwortlichen auf die willkommenen freien Betten auf der Station.3

      Gilchrist fliegt schließlich auf, als ein Kamera-Team zufällig ihre Machenschaften aufdeckt. In einem an das Publikum adressierten Monolog erklärt sich Gilchrist in dem abschließenden Interview zur Vollstreckerin einer modernen Effizienzlogik: „I was a facilitator, self-appointed, I agree, and in any other profession – and nursing is a profession if it is allowed to be – in any other profession, I would be called a progress-chaser.“ (79) Gilchrist sieht sich als fortschrittliche Prozessbegleiterin, die sich streng an die Vorgaben zur Effektivitätssteigerung hält. Dass diese mittlerweile nur mit Methoden erreichbar ist, die unvereinbar mit der Vorstellung einer unveräußerlichen Menschenwürde sind, stört Gilchrist nicht weiter. Sie ist in der Tat nur ein „facilitator“, eine Umsetzerin dessen, was gesellschaftlich und diskursiv verhandelt worden ist. Dabei ignoriert Gilchrist im Einzelnen und der gesellschaftliche Diskurs im Ganzen, dass die Selbst- und Weltbeziehungen im Kapitalismus zunehmend erodieren. Die Pflege von kranken und alternden Menschen, so Allelujah!, ist aber kein Beruf wie jeder andere, sondern gerade hier sind Werte gefragt, die nicht finanziell kompensierbar und übersetzbar sind. Gerade in der Figur der Krankenschwester, die sich selbst als „progress-chaser“ beschreibt, manifestiert sich also eine Form des Fortschrittglaubens und der Effizienz, die mit einer westeuropäischen Werteordnung und dem Glauben an die Würde des Menschen unvereinbar ist.

      Die Ursachen dieses Denkens lokalisiert Allelujah! in der Thatcher-Ära, auf die mehrmals explizit referenziert wird. Vor allem der britische Bergarbeiterstreik von 1984/1985, bei dem Margaret Thatcher den Gewerkschaften erheblichen Schaden zugefügt hat, wird immer wieder thematisiert. In der Figur des Joe, der früher im Bergbau gearbeitet hat, sammeln sich diese Überlegungen. Naturgemäß ist er nicht besonders gut auf Thatcher zu sprechen: „I was a miner and with the mining I got a bad chest. Black lung. That was before Mrs Thatcher put paid to the mines.“ (6) Obwohl Joe erhebliche gesundheitliche Probleme durch seinen Beruf erlitten hat, („Staublunge“, 34), gilt sein Abscheu nicht den Arbeitsbedingungen per se. Seine Wortwahl, „Mrs Thatcher put paid to the mines“, deutet vielmehr an, dass sich seine Abneigung auf die bis heute als Premierministerin höchst umstrittene Margaret Thatcher richtet: Sie hat den Bergbau „zunichte gemacht“ (47). Mit Thatcher hat die Privatisierungs-Bewegung im Vereinigten Königreich ein Gesicht gewonnen, das bis heute bei vielen Arbeitern verhasst ist, steht es doch für die rücksichtslose Privatisierung und den Abbau der Gewerkschaften im Zeichen kapitalistischer Profitmaximierung. Allelujah! bezieht sich auf diese Zeit, in der der Grundstein für die jetzigen Missstände gelegt wurde.

      3. Jung versus Alt, Schnell versus Langsam

      Bislang, so scheint es jedenfalls, arbeitet Allelujah! mit einer klar gezogenen Trennung zwischen jenen, die am schnelllebigen Erfolg teilhaben, und den langsamen Verlieren des kapitalistischen Systems, den inzwischen zu Rentnern gewordenen Vertretern der Arbeiterklasse, die jetzt nicht mehr die Mittel haben, beziehungsweise diese noch nie hatten, um sich gegen Privatisierungen und Gewinnstreben durchzusetzen. Dieser Eindruck wird zu Beginn des Stückes klar durch die Art der Fortbewegung suggeriert, die den Figuren zu eigen ist. Die bereits erwähnte Mrs Maudsley kommt im Rollstuhl auf die Bühne gefahren, einem medizinischen Gefährt, das vor allem mit Begriffen wie Langsamkeit, Gebrechlichkeit, Verletzlichkeit und Behinderung konnotiert ist. Als Schwester Gilchrist auf der Bühne erscheint, und die Patientin fortschiebt („takes her off“, 3), erweitern Assoziationen wie Hilflosigkeit und Willkür das Bild, das sich das Publikum von den Bewohner_innen und deren Lebenssituation machen kann. Doch nicht nur Mrs Maudsley ist durch ihren Rollstuhl und die damit verbundenen Einschränkungen in ihrer Mobilität gekennzeichnet: Viele Patient_innen werden in Betten liegend über die Bühne geschoben, oder erleichtern sich das Laufen mithilfe von Gehstöcken. Meistens sitzen sie ohnehin auf Krankenhausstühlen (9).

      In frappierendem Gegensatz zu den Patient_innen steht Colin: Der junge Verwaltungsmitarbeiter „cycles into view, Lycra-clad and on a posh racing bike. Mobile in ear, he talks and rides without holding the handlebars.“ (3) Ausgestattet mit Fahrradtasche, rotfarbenem, eng-anliegendem Trainingsdress, sowie Helm und Sonnenbrille – Trinkflasche inklusive – radelt Colin dynamisch auf die Bühne (vgl. Bridge Theatre). Trotz seiner Aussage, er sei „a hundred and ninety-eight miles“ (3) unterwegs gewesen, wirkt Colins Leistung allerdings nicht besonders beeindruckend. Das grelle, hautenge Sportleroutfit lässt ihn statt sportlich eher lächerlich und aufgesetzt wirken. Mehrere Charaktere kommentieren seine Aufmachung entsprechend und sprechen damit aus, was sich das Publikum bereits denkt: „Got up like that?“ (22) Hier befindet sich Allelujah! irgendwo im „territory between ‚funny‘ and ‚sad‘“ (McKechnie 190) – ein Markenzeichen von Bennetts Stil. Zwar wirkt Colin so, als könne man ihn nicht besonders ernst nehmen; trotzdem hat seine Ankunft für die Bewohner gewichtige Konsequenzen, die ihr Leben gehörig auf den Kopf stellen werden.

      Der Spott der anderen lässt den Beamten allerdings kalt. Wenn der aus London herbei geradelte Colin also erklärt, „I cycle. I’ve won races“ (26), dann stellt er damit nicht nur seinen sportlichen Erfolg unter Beweis. Vielmehr will er seine Fahrradtrophäen als Karriereschritte verstanden wissen: Er hat die Distanz zwischen London und Leeds, zwischen gut bezahltem Ministeriums-Posten und Sohn eines arbeitslosen Minenarbeiters, erfolgreich überwunden. Seine Fahrradausstattung ist Colin nicht peinlich, sondern vielmehr eine Zierde, die er stolz vor sich herträgt. Mit seinem Rennrad ist er buchstäblich Teil der Beschleunigung.

      Darüber hinaus verbindet das Fahrrad die beiden jüngsten Charaktere auf der Station: Colin und Andy, der Praktikant, der eigentlich „irgendetwas mit Computern machen will“ (23). Mit den Worten „do you want a go?“ (22) leiht ihm Colin das Fahrrad. Unweigerlich kommt das Gespräch der beiden auf den abgehängten Norden, in dem es für die beiden Jüngeren keine Chancen zu geben scheint. Oder, wie Joe es ausdrückt: „You, you’re going nowhere. One won’t get you far.“ (66, Hervorhebung der Verf.) Erfolg ist scheinbar an Mobilität, Schnelligkeit, und die Überwindung von Distanzen gebunden („won’t get […] far“). Das Fahrrad wird dabei zum Symbol der Wahl. Es steht für all jene erfolgsversprechenden Eigenschaften – allen voran Mobilität, sowohl im physischen, wie auch im übertragenen Sinne –, die von Nöten sind, um den Norden hinter sich zu lassen: Es symbolisiert quasi ein Fluchtmittel, mit dem man es aus eigener Kraft weit bringen kann.

      London, die Hauptstadt im Süden des Vereinigten Königreiches, ist so ein Ziel, das sich in jedweder Hinsicht (kulturell bedeutender, liberaler, finanziell stärker, politisch mächtiger) vom Norden unterscheidet:

      ANDY. What’s London like?

      COLIN. Beats this.

      ANDY. Clubs and that?

      COLIN. Clubs. Food. Everything. (27)

      Der Norden, Andys und Colins Heimat, ist vor allem durch das Negative gekennzeichnet: Perspektivlosigkeit und eine gewisse konservative Rückschrittlichkeit (zum Beispiel die homophoben Ressentiments) scheinen diesen Teil Großbritanniens aus der Sicht der beiden jungen Charaktere zu charakterisieren. Der gesamtgesellschaftliche Minderwertigkeitskomplex, unter dem der lange Zeit wirtschaftlich und kulturell abgehängte Norden gelitten hat und nach wie vor leidet, erzeugt einen Fluchtreflex bei der jungen Bevölkerung, das heißt, den Wunsch, in den mondänen, fortschrittlichen Süden zu fliehen. Im direkten Vergleich zur Landeshauptstadt zieht Leeds laut Colin nämlich deutlich den Kürzeren („[b]eats this“). Mit „this“ ist aber nicht zwangsläufig nur die Stadt gemeint, sondern im konkreten Fall auch das geriatric ward und seine alten Bewohner_innen. Diese werden von den jüngeren Charakteren zunehmend als Belastung oder als Hindernis verstanden – auch deshalb sind sie das Opfer systematischer Altersdiskriminierung: Wenn Lucille auf die Frage, wieso sie im Beth sei, antwortet, „[w]ell, because I’m old“ (5), dann beschreibt sie damit eine Lebensform, die die Alten aus der Mitte