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Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus


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entzieht sich damit den Klassifikationsmustern, welche gesellschaftlich angewendet werden, um Menschen zu kategorisieren.

      Darüber hinaus besteht das Drama nicht nur darauf, die Senior_innen als gleichwertige, das heißt, im Innersten – um bei der Darm-Symbolik zu bleiben – junge Charaktere zu lesen. Vielmehr zeigt es an einer Stelle dezidiert auf, dass der Kapitalismus und sein Effizienz-Diktat gemeinsame und universelle Probleme schaffen, die alle Charaktere unabhängig von Alter, Erfolg, Herkunft und Geschlecht gleichermaßen betreffen. Valentine, beispielsweise, hat mit dem Migrationsamt zu kämpfen, das ihn lediglich als Arbeitskraft sieht, aber ansonsten baldmöglich wieder abschieben möchte: „I see you had a student visa but stayed on. Well, at least you didn’t come in with a truckload of oranges. So, what makes you think you would be an asset to this country?“ (80) Und auch Schwester Pinkney erfährt, was es heißt, nicht mehr gebraucht zu werden: „Nurse Pinkney was right when she said Tadcaster was going to be heaven. Only she never got to be an angel there, a casualty of the downsizing that privatisation inevitably involves.“ (84) Vom Effizienzgedanken wegrationalisiert, spürt Schwester Pinkney, eigentlich eine Figur, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit zu den Gewinnern gehören müsste, am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, zum Opfer von Beschleunigung und Rationalisierung zu werden. Sie wird im neuen Krankenhaus nicht mehr gebraucht. Der freie Markt, so das Stück, ist also nicht in eine Gewinner- und Verliererseite eingeteilt, die sich auf der einen Seite durch dynamische, wettbewerbsorientierte, junge Arbeitnehmer_innen und auf der anderen Seite durch langsame, sozialistisch-geprägte, arbeitslose Rentner_innen auszeichnet; vielmehr, so betont Allelujah!, produziert die kapitalistische Beschleunigung der Arbeitsprozesse Verlierer auf allen Seiten.

      5. Gegen das Primat der Zeit: Die Betonung des (Theater-)Raumes

      In seinen Überlegungen vertritt Hartmut Rosa die Überzeugung, dass der Raum als solcher innerhalb des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung verliert, denn die Zeit und nicht der Ort, bestimmt Gewinn und Umsatz – etwa beispielsweise bei der Entwicklung neuer Güter, beim Kauf von Aktien oder bei der Lieferung von Produkten:

      [D]er Raum [verliert] für die meisten sozialen Handlungen und Interaktionen seine vorrangige Bedeutung. Dies wird durch die Tatsache eher bestätigt als widerlegt, dass gerade aufgrund dieser lokalen und räumlichen ‚materiellen‘ Bedeutungslosigkeit den sekundären Qualitäten des Raums mehr Bedeutung zukommt. Da es zum Beispiel nicht länger ökonomisch ins Gewicht fällt, wo ein Call Center eröffnet wird, kann man es genauso gut in einer ökologisch attraktiven Umwelt ansiedeln. (Rosa 61)

      Dieser kapitalistischen Akzentuierung der Zeitachse setzt Allelujah! eine Neu-Gewichtung des Raumes gegenüber: Theater als sozialer Treffpunkt von Publikum und Schauspieler_innen ist explizit im Raum verhaftet. Anders als Romane, Lyrik, Filme und Fernsehserien zeichnet sich das Drama vor allem durch seine Raumhaftigkeit aus, die laut Erika Fischer-Lichte erst durch die Aufführung performativ entsteht: Räumlichkeit „existiert nicht vor, jenseits oder nach der Aufführung, sondern wird – ebenso wie Körperlichkeit und Lautlichkeit – immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht“ (187). In ihrer Ästhetik des Performativen (2004) betont Fischer-Lichte das ‚Ereignis‘ des Theaters als solches:

      Es gibt kein ‚Spiel‘ auf der Bühne, das so tut, als fände es in Abwesenheit eines Publikums statt, sondern eine produktive ‚Feedback-Schleife‘ zwischen der Performanz der Akteure und den unmittelbaren Reaktionen ihrer Zuschauer. Zeit fügt sich nicht zum Bogen einer ‚Erzählung‘, sondern stiftet Form durch ‚Rhythmus‘ und ‚Time Brackets‘. („Sanfte Wende“)

      Ohne die Form des Raums festlegen zu wollen (Art der Bühne, Verhältnis Zuschauer-Schauspieler, Bewegungsradius der Darsteller, et cetera) besteht Fischer-Lichte auf dem zentralen Aspekt des Raums für ihren Begriff des Performativen: Es bedarf eines Raumes, um Aufführungen überhaupt erst stattfinden zu lassen. Aus dem „geometrischen Raum“, dem Theaterhaus, der Bühne, den Sitzreihen des Publikums, entsteht der „performative Raum“, der die Wahrnehmung des Publikums steuert (vgl. 187).

      Alan Bennetts Allelujah! scheint sich der Wirkung des Theaters als Plattform für Gesellschaftsanalyse und -kritik bewusst, denn zu Ende des Stückes eröffnet das Drama eine Meta-Ebene, die genau diese Dimension verhandelt. Nachdem der ursprünglich ach-so leidenschaftlich für das Krankenhaus kämpfende Salter zugibt, nach der Schließung des Instituts die Gebäude für seine eigene Immobilienfirma abzugreifen, tritt Colin ein letztes Mal auf und eröffnet dem Publikum, was mit den Figuren passiert, nachdem der Vorhang gefallen ist:

      Salter notwithstanding, the sale represents a healthy capital gain for NHS funding, the hospital having reinvented itself as a boutique hotel, with, in a graceful acknowledgement of its previous existence, the principal suites named after Florence Nightingale and Edith Cavell. For the moment, its best-known nurse remains uncommemorated, though a play about her is threatened at the local theatre. (85)

      Mit der Ankündigung, das lokale Theater werde Gilchrists Biographie auf die Bühne bringen, weißt Allelujah! nicht nur über seine eigenen textuellen Grenzen hinaus, zurück in die extratextuelle Wirklichkeit der Zuschauer, sondern betont noch einmal die Stellung des Theaters im gesellschaftlichen Diskurs: Es schafft Räume zur Diskussion gesamtgesellschaftlicher Fragen wie die Zukunft des NHS und zur Aufarbeitung von Konflikten wie die Bewahrung der Menschenwürde in Zeiten konstanter kapitalistischer Beschleunigung und neoliberaler Profitmaximierung.1 Dabei ist seine Raumhaftigkeit von besonderer Bedeutung. Allein die Tatsache, dass Aufführungen im Raum verhaftet sind, und nicht beliebig oft reproduzierbar, positioniert das Theater als kapitalismuskritische Instanz, die sich dem Effizienzdiktat widersetzt. Allelujah! stößt also nicht nur inhaltliche Denkprozesse an, sondern verweigert sich als Kunstform den Logiken, die es selbst kritisiert.

      6. Bennett: Ein unpolitischer Autor?

      In seinem Aufsatz „Alan Bennett: Political Playwright“ (1996) beschreibt Richard Scarr das Paradoxon, das Alan Bennett als Schriftsteller umgibt:

      Bennett is not usually thought of as a political writer. His work is seldom compared with that of pronounced left-wing dramatists such as Wesker, Edgar, of Griffiths. More often he is cited alongside such apolitical and conservative (or in some instances, Conservative) contemporaries as Alan Ayckbourn, Michael Frayn and Simon Gray – that is, polite, educated, middle-class writers producing ‚nice‘, well-made, intelligent theatre. Yet Bennett belongs to neither of these groups. Instead he walks a middle ground making poignant political statements in a way which is often so covert that audiences are unaware of the full resonances and ramifications of his work until after they have left the theatre. (309)

      Mit Allelujah! legt Bennett ein solches Stück vor, das, zugegebenermaßen, einen unterhaltsamen Theaterabend verspricht, zugleich aber als „State of the Nation“-Play tief in die Seele Großbritanniens schaut (vgl. Billington): Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd, Ageism und Migrationspolitik vermischen sich mit der ethischen Kritik am Kapitalismus zu einem schlichten Gesamtwerk, das trotz oder gerade wegen seiner Alltäglichkeit den Finger in die Wunde legt und aufzeigt, wie der freie Markt die Selbst- und Weltbeziehungen des Einzelnen so fundamental stört, dass selbst Eingriffe in die Würde des Menschen durch das Effizienzdiktat möglich werden. Das „hospital a[s] microcosm of modern society“ (Billington) steht für das große Ganze der Gesellschaft. Zwar verliert Bennett dabei niemals seinen charakteristischen Humor in Allelujah!, allerdings ist sein jüngstes Stück auch eines seiner unversöhnlichsten: Allelujah!, so der Theaterkritiker Ben Brantley, „is the most openly angry play of this master satirist’s career“. Mit seinem kapitalismuskritischen Inhalt dürfte es auch eines der relevantesten sein.

      Bibliographie

      Primärliteratur:

      Bennett, Alan. Allelujah! Faber & Faber, 2018.

      Sekundärliteratur:

      Baum, Caroline. „The Ugly Truth about Ageism: It’s a Prejudice Targeting