Spiele ausdehnten.
Es war eine trübselige Lage, in welcher unser armer Student sich befand, und ganz gewiß würde er darüber in Verzweiflung geraten sein, wenn er nur die Kraft gehabt hätte, zu verzweifeln. Endlich, endlich ... Hubert glaubte, es müsse acht oder neun Uhr sein ... ließen sich draußen wieder Schritte vernehmen, und zwar lautere, raschere Schritte als vorher; ein Lichtschimmer drang durch die Spalten der alten Tür, gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und der schwarzgekleidete Mann von vorhin trat ein, eine brennende Talgkerze auf einem gewundenen Silberleuchter in der Hand. Hinter ihm kam ein kleiner, schmächtiger Mann mit dünnem Zopf, gekleidet in einen braunen Frack mit großen übersponnenen Knöpfen und schmalem, stehendem Kragen, in eine überaus lange grüne Weste und in schwarzstoffene Kniehosen.
»Da ist der Doktor«, sagte der andere, indem er das Licht ohne weiteres schonungslos dem Gesichte Huberts nahe brachte.
»Sagen Sie mir, Herr Doktor,« sagte Hubert, während ihm der Arzt schweigend den Puls fühlte, »wo bin ich hier ... ich weiß weder, wo ...«
»Sie dürfen sich mit solchen Fragen nicht aufregen, mein lieber Herr«, antwortete der Doktor mit einem herablassenden Lächeln. »Sie müssen erst zu Kräften kommen, dann werden Sie es schon erfahren. Man hat Sie in sehr hilflosem Zustande gefunden und aus Mitleid hierher gebracht, um Sie zu pflegen. Halten Sie sich deshalb ganz ruhig und still ...«
»Aber wie soll ich ruhig ...«
»Sie dürfen nur die notwendigsten Worte reden, mehr nicht. Sie müssen vor allem die Halsorgane schonen. Ich verlasse Sie jetzt und komme morgen in der Frühe wieder.«
»Lassen Sie mir wenigstens Licht hier.«
»Herr Baptist wird Ihnen Licht lassen; er wird Ihnen zu essen bringen und dann das Nachtlicht anzünden. Aber suchen Sie zu schlafen. Mit der Medizin fahren wir fort, Baptist. Wenn er zu trinken verlangt, so geben Sie Limonade. Und nun gute Nacht, junger Freund. Seien Sie ohne Unruhe, man sorgt für Sie.«
Damit nickte der kleine Doktor seinem Patienten einen stillfreundlichen Gruß zu und verließ mit sachten Schritten das Zimmer. Baptist begleitete ihn mit dem Lichte hinaus und leuchtete ihm. Hubert war wieder allein und in der schrecklichen Dunkelheit; aber nach etwa einer Viertelstunde kam Baptist zurück und brachte auf einer Platte ein wenig eingemachtes Obst, Brot, Zwieback und eine Karaffe mit Limonade. Nachdem er Hubert behilflich gewesen, von den Erfrischungen zu nehmen, und als dieser über die Mäuse klagte, ging Baptist in seiner Humanität sogar so weit, ihm zu versprechen, daß er eine Katze holen wolle, um dem Übel gründlich abzuhelfen; und in der Tat brachte er nach einiger Zeit ein großes, dämonisch aussehendes Individuum dieser nützlichen Tierrasse, mit grünfunkelnden Augen und höchst martialischem Schnurrbart, dessen Anblick für Hubert etwas außerordentlich Beruhigendes hatte.
Und dann, nachdem er ein Nachtlicht entzündet, ging Baptist. Und Hubert lag wieder einsam mit gebrochener Kraft, ein Mensch, der in den Händen ihm unbekannter, feindseliger Mächte war, welche eigenwillig über sein Schicksal zu bestimmen sich anmaßten; er lag verlassen von aller Welt, von jedem seiner Mitgeschöpfe da, denn er hatte nicht eins auf dieser weiten Welt, nicht ein einziges Wesen, an das er denken konnte mit einem ermutigenden, Zuversicht und Vertrauen einflößenden Gedanken. Er hatte nur Freunde unter leichtsinnigen Studenten; Bekannte nur unter Professoren von sehr gründlicher, aber in vorliegendem Falle sehr wenig zweckentsprechender Gelehrsamkeit, und unter Bürgersleuten, die gewiß nicht geneigt waren, sich in fremde Händel zu mischen. Es war niemand unter ihnen allen, der ihm beistehen, der Nachforschungen nach ihm anstellen und ihn verteidigen würde wider Unrecht und Gewalt; sicherlich war Professor Bracht nicht der Mann, seinetwegen eine kriegerische Expedition in ein rauhes Bergland zu unternehmen; noch war Frau Zappes so unternehmender Natur, um Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, bis man ihr ihren Studenten herausgegeben. Und Verwandte, Menschen, die das gemeinsame Blut aufrief zu seiner Verteidigung ... Hubert hatte sie nicht, kannte sie nicht. Er hatte seit vielen Jahren verwaist allein gestanden in der Welt. Ein Geistlicher, der Pfarrer seines Heimatdorfes, sandte ihm die Mittel zu seinen Studien, und, wie er annehmen mußte, zum Teil aus Beiträgen wohlhabender Gemeindemitglieder.
Ein Wesen freilich war auf Erden, von dem er daß Gefühl hatte, daß es sich um ihn grämen und härmen werde ... aber dieses Wesen war ein schwaches, hilfloses Weib – es war Traudchen Gymnich. Sie sicherlich war nicht imstande, ihm irgendeinen Beistand zu leisten; und dennoch war ihr Bild das, was von allen Dingen, womit er sich beschäftigt, ihn allein mit einer gewissen Zuversicht erfüllte, ihm allein wie ein Trost war.
Und dazu kam etwas, das Hubert in glücklichster Weise Hilfe leistete, um endlich nach einigen Stunden Wachens wieder in einen tiefen und kräftigenden Schlummer fallen zu können. Dies war eine unverhofft eintretende völlige Stille. Der Uhu schien sich besonnen zu haben, daß sein entsetzliches Klagelied über die Nacht, das erbärmliche Menschenschicksal, den Tod, oder was er sonst alles bejammern mochte, nichts helfe, um es besser zu machen. Und was die Mäuse anging, so erfüllte der schnurrbärtige Kater in ausgezeichneter Weise seine zivilisatorische Mission unter ihnen. Es war wirklich merkwürdig, mit welchem tiefen Respekt die gesamte zahlreiche kleine Bevölkerung des weiten Gemachs die Anwesenheit dieses kriegerischen Individuums aufnahm; so laut und lustig ihre harmlosen Spiele früher gewesen, sie waren jetzt tot und erstorben, und nur ein paarmal deutete ein leiser Sprung und ein tiefer Kehllaut des Katers an, daß er ein vorwitzig aus der von der Natur ihm angewiesenen Sphäre der Verborgenheit hervorgedrungenes Subjekt beim Kragen ergriffen habe und daß durch summarische Exekution der Gerechtigkeit Genüge geschehen.
Hubert Bender schlief bis tief in den Morgen hinein. Und dann sah er den liebreichen Herrn Baptist eintreten, um ihm Medizin zu reichen und seinen erwachenden Appetit durch Nahrungsmittel, wie sie der Arzt erlaubt, zu befriedigen. Und dann kam der Arzt selber und zeigte sich erfreut über seines Patienten Fortschritte in der Genesung. Und so verging der erste Tag, und ähnlich vergingen der zweite und der dritte: und Huberts Kräfte wuchsen, und die Klarheit seiner Gedanken wuchs, und sein Mut und seine Entschlossenheit kehrte zurück; aber weder der Arzt noch Baptist erwiderte seine immer dringender werdenden Fragen mit andern Antworten als sie am ersten Tage gehabt.
Am dritten Tage hatte ihm der Arzt erlaubt, aufzustehen und eine Stunde außerhalb des Bettes zu verweilen, nachdem Baptist dazu Feuer in dem Kachelofen gemacht haben werde. Hubert nahm diese Erlaubnis lächelnd auf – er hatte sich bereits am Nachmittage vorher selbst die Erlaubnis genommen, aufzustehen und in seine Decken gehüllt an den Fenstern entlang zu schwanken, um von ihnen aus zu erkunden, wo in der Welt er sich befinde. Er hatte auf einer Seite ein Stück von einem gepflasterten Hofe wahrgenommen, dann ein langes Ökonomiegebäude mit einem viereckigen Turm in der Mitte, durch welchen eine große gewölbte Durchfahrt führte; links füllte eine Mauer den Raum zwischen diesem Bauwerk und dem Gebäudeflügel, in welchem Hubert sich befand, und aus dessen an der Giebelseite angebrachten Fenstern erblickte er die verfallene Front eines alten, dem Ruin überlassenen Speichergebäudes. Jenseit des Ökonomiegebäudes mit dem Durchfahrtturm erblickte der Student eine Berghöhe, bis zur Mitte mit Ackerländereien bedeckt, oben mit Laubholz bestanden; in das Tal hinabzusehen verhinderte ihn das lange rote Dach des Gebäudes; aber es war offenbar, daß ein Tal da unten sein müsse, vielleicht eine von einem Gewässer durchrauschte Schlucht. An der andern Seite des Zimmers waren die Fenster durch Läden geschlossen, aber Hubert nahm durch die Spalten derselben so viel wahr, daß sich unten ein Garten befinde, jenseit desselben eine hohe Mauer, und jenseit dieser, nach einem Zwischenraume, der ebenfalls auf das Vorhandensein eines Tales deutete, wieder Berghöhen. Die Fenster lagen zwei Stockwerke hoch über dem Boden.
So viel war gewiß, Hubert befand sich in einem aus mehreren Teilen bestehenden großen Baue, der auf einer isolierten Berghöhe zu liegen schien.
Zu derselben Zeit, als der Arzt dem Rekonvaleszenten erlaubt hatte aufzustehen, hatte er ihm täglich ein paar Gläser alten Weins und kräftigere Speisen verordnet; und Hubert fand sich am Abend dieses Tages davon so gestärkt, daß er bereits Fluchtpläne zu entwerfen begann. Zunächst beschloß er, sich in den Besitz eines Messers zu setzen – wenn Baptist ihm wieder Speisen bringe, wollte er das Messer zurückbehalten und irgendwo verbergen. Nach der Hofseite hinaus zu fliehen, schien nicht rätlich – aber sich in den Garten hinabzulassen,