Levin Schücking

Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe


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zu erfüllen, bei dem er kein Interesse mehr haben konnte«? Bernhard entschloß sich deshalb, nach Bechenburg zu reisen, um nach Lenes Anweisung sich in den Besitz der für ihn so wichtigen Papiere zu setzen; er war nur noch unentschieden darüber, mit welchem Vorwande er Margret diese Reise begreiflich machen könne, und wanderte eines Abends – es mochten vierzehn Tage nach der Nacht von Lenes Verschwinden hingeflossen sein – mit diesem Plane beschäftigt durch das Tal, welches sich hinter dem Dörfen Kraneck nach Westen hin ausdehnte. Er war oben bei der Kapelle gewesen; jetzt schritt er hinab bis an das Ufer des Sees, der in der Mitte des Tales lag und von einem Bache gespeist wurde, welcher höher im Gebirge entspringend, zwischen schilfbewachsenen, ziemlich morastigen Ufern sich der Wasserfläche zuschlängelte, dann seinen Lauf weiter fortsetzte und das überflüssige Wasser des Sees durch die Schlucht, die das Tal öffnete, aus dem letzteren fortführte. Ein Steg für Fußgänger leitete hinüber; sonst war das Tal dadurch in zwei Hälften abgetrennt, da eine eigentliche Brücke nur in dem Dorfe sich befand. Bernhard stand auf jenem Stege und schaute in das zuckende Spiegelbild der Sonne, das golden auf der Wasserfläche vor ihm lag, bald vorwärts, bald rückwärts schießend, wie eine am Himmel vorüberziehende Wolke die Strahlen abschnitt oder frei ließ. Plötzlich zog ein »Holla? Hoho!«, das aus der Ferne klang, seine Aufmerksamkeit ab. Er schaute in der Richtung aus, woher der Ruf gekommen; es war zu seiner Linken, etwa in der Mitte zwischen ihm und dem in der Entfernung einer starken Viertelstunde vor ihm liegenden Dorfe – ein Mensch lief und rannte, sprang über Hecken und Zäune, immer querfeldein, in gerader Richtung auf den See zu; hinter ihm drein zwei Reiter, die wie in toller Jagd der Richtung folgten, die der Flüchtling nahm, ihm oft hart an der Ferse waren, dann aber wieder ihm einen bedeutenden Vorsprung lassen mußten, wenn er über einen Wall oder einen Graben sprang, über den ihre Pferde nicht wegzusetzen vermochten, so, daß sie auf Umwegen umhergeführt werden mußten. Auch hatte der Flüchtige den Vorteil, daß er leicht über die Schollen der frischgepflügten Aecker fortrannte, während die Pferde nur mit Mühe darüber wegkamen und fortwährend strauchelten.

      »Ha, sie haben ihn!« rief Bernhard, der sich auf seinem Stege auf die Zehen gestellt hatte und ausschauend den Hals reckte, »da, auf der Heide werden sie ihn einholen – nein, er wendet sich – er läuft in den Morast hinein – Viktoria! er steht bis an die Hüften im Wasser und lacht sie aus.«

      Der Flüchtling war fürs erste gerettet, denn die Reiter versuchten vergebens, ihm näher zu kommen, da ihre Tiere bei den ersten Schritten bis an die Knie in den Morast sanken, der den See umgab. Sie hielten und schienen zu ratschlagen; dann wandten sie, die fernere Verfolgung aufgebend, und ritten nun dem Dorfe zu. Der Mensch im Wasser hatte die Arme untergeschlagen und schaute ihnen nach; als sie hinter den ersten Häusern verschwanden, blickte er spähend um sich und schritt weiter durch das Wasser, dem andern Ufer zu. Bernhard ging von seinem Steg herunter, bis zu der Stelle des Gestades, die dem Fremden gegenüber lag; es war halb Neugier, halb Teilnahme für den gewandten Ausreißer, was ihn näher zog. Dieser hielt in seinem Waten inne, um ihn angestrengten Auges zu betrachten; dann stieß er einen Ruf aus und winkte mit der Hand, wie, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Bernhard erkannte ihn an diesem Rufe; es war Wendels.

      Der Scherenschleifer mochte etwa hundert Schritte noch vom Ufer entfernt sein, als er sich niederbeugte und die Arme zum Schwimmen auseinanderschlug. Es war die schmalste Stelle des Sees und zugleich die tiefste, an der er übersetzte; aber Wendels schien ein geschickter Schwimmer, denn er kam rasch vorwärts, als er plötzlich einen heftigen, schrillen Schrei ausstieß und mit den Armen über dem Kopf in der Luft umherfocht – ein heftiges Umsichgreifen, ein Arbeiten mit den Händen und den gespreizten Fingern – dann sanken sie – immer tiefer – schnellten wieder auf, das Haar seines Kopfes tauchte wieder empor – er verschwand im selben Augenblicke; das Wasser schäumte und spritzte auf, dann begann es seine Wellen in lange Kreise auszudehnen, und an der Stelle, wo der Schwimmer versunken, war es nach einigen Augenblicken wieder spiegelglatt.

      Bernhard hatte kein Auge hierfür, denn in dem Augenblicke, in dem er die Gefahr des Schwimmenden erkannte, den augenscheinlich ein plötzlicher Krampf gefaßt hatte, war er in das Wasser gesprungen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Aber er war ein schlechter Schwimmer, und wenn ihn jetzt seine Herzensangst auch die gewaltsamsten Anstrengungen machen ließ, so gelang es ihm doch nicht, tief und lange genug unterzutauchen, um den Versunkenen zu erfassen. Er stieß einen wehklagenden Hilferuf aus, tauchte noch einmal hinab und wieder auf, um nach Luft zu schnappen – noch einmal – nein, die Tiefe hielt ihr Opfer fest. Er eilte nun zum Dorfe und rief hier zusammen, was ihm zuerst begegnete; ihm selbst war es jedoch nicht möglich, mit diesen Leuten zum See zurückzugehen; er fühlte sich in seinen durchnäßten Kleidern zu Eis erstarren, seine Glieder versagten ihm den Dienst und, als er am Herde seiner Wohnung stand, sank er vor den Augen der erschrockenen Margret in Ohnmacht.

      Der Verunglückte wurde erst nach drei Tagen aufgefunden. Man verscharrte ihn, fern vom geweihten Grunde; die ärmeren Bauern hatten sich in seine besten Kleidungsstücke geteilt und mit einigem Gelde, das sie in seiner Tasche fanden, für ihre Arbeit bezahlt gemacht. Bernhard ließ emsig nachfragen, ob sie nicht auch Papiere und Briefschaften bei ihm gefunden, denn er selbst vermochte nicht, es zu untersuchen, weil er krank geworden war. Aber keiner wollte etwas dergleichen gesehen haben; er ließ sie noch einmal die geretteten Sachen durchforschen; nein, es war nichts da.

      Es soll nicht sein, dachte er mit jener Resignation, welche körperliche Schwäche gibt, und ergab sich in die Anfälle der Krankheit, die ihn wochenlang an das Lager fesselte und allen Hausmitteln der Frau Fahrstein Trotz bot.

      »Sie verquacksalbert ihn,« sagte Herr Gerhards mit einem Unwillen, wie ihn nur seine Teilnahme für den Leidenden in ihm hervorbringen konnte; »es würde am besten sein, wenn der gnädige Herr ihn aufs Schloß bringen ließ; ich würde ihn schon kurieren!«

      »Sie?« sagte Frau von Kraneck zweifelnd.

      »Zu dienen, gnädige Frau; ich wollte ihm schon was eingeben: zwei Schoppen alten spanischen Wein und darin eine Handvoll Pfeffer und Ingwer und dies eine Weile durcheinander gekocht –«

      »Das sollte eine Brustentzündung heben?«

      »Jawohl, gnädige Frau, das sollte wohl besser sein, als die Quacksalbereien der alten Margret; der arme Schelm wird sein Lebtage nicht wieder gesund, wenn die an ihm fortdoktert! Aber zwei Schoppen alten Spanischen und darin eine Handvoll –«

      »Herr Gerhards,« sagte Frau von Kraneck zu dem Vikar, der ein außerordentlich wichtiges Gesicht machte, als er sein Hausmittel empfahl, »zum Doktor sind sie verdorben, aber ihr Rat ist ein sehr viel Rücksicht verdienender. – Qu'en pensez vous, mon cher mari?« fuhr sie, zu Herrn von Kraneck gewendet, fort.

      »Ma chère,« versetzte dieser, »ich erwarte die Entschließung Ihres edelmütigen Herzens.«

      Diese Entschließungen erfolgten und der Vikar wurde beauftragt, den Transport des Kranken in das Schloß Hohenkraneck anzuordnen und zu beaufsichtigen. Er führte dies mit einer sehr großen Behutsamkeit und Sorgfalt aus, aber zugleich mit unerbittlicher Härte gegen die Protestationen der Mutter Fahrstein, die sich ihren Sohn nicht nehmen lassen wollte, oder ihm mindestens folgen zu dürfen verlangte, was der Vikar durchaus nicht zugestehen wollte.

      »Aber es handelt sich ja gerade darum, daß er Ihre Latwergen nicht mehr nehmen soll«, sagte Herr Gerhards, indem er ein Töpfchen mit einem solchen Inhalte, das in der Krankenstube auf dem Tische stand, an seine Nase führte. »Das schau einer an,« fuhr er kopfschüttelnd fort, »das soll gegen eine Brustentzündung gut sein! Nein, Frau, ich will Ihr sagen, was gut war, zwei Schoppen alten Spanischen –«

      »Ei was,« sagte Frau Fahrstein heftig, »ich bin ein ebenso guter Doktor wie Er, und will bei meinem Kinde bleiben!«

      Die letztere Behauptung hatte eine Entschiedenheit, die endlich des Vikars Eigensinn wanken machte, und so folgte denn die alte Margret dem Lager ihres Sohnes, das von rüstigen Trägern in das Schloß gebracht wurde. Frau von Kraneck hatte unterdes ein nach der Sonnenseite gelegenes stilles Zimmer mit grünen Gardinen um Bett und Fenster versehen lassen; sie erwartete dort den Kranken und beugte sich, als man ihn niedergelegt hatte, mit forschenden Bücken über sein bleiches Gesicht.

      Während Herr von Kraneck ihm an der