Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums (Eine historische Untersuchung in 4 Bänden)


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Philosophen gehalten sein: eben um ihre Lehren als altpythagoreisch darzutun, wurden jene zahllosen Unterschiebungen von Schriften vorgenommen, welche alles Beliebige, mochte es auch noch so jung und mochte sein platonischer oder aristotelischer Ursprung noch so bekannt sein, unbedenklich einem Pythagoras oder einem Archytas in den Mund legten.“

      Ganz das gleiche finden wir bei der urchristlichen Literatur, die dann Chaos bildet, an dessen Entwirrung seit mehr als einem Jahrhundert eine Reihe der scharfsinnigsten Geister arbeitet, ohne dabei in der Erreichung gesicherter Resultate allzuweit gekommen zu sein.

      Wie heute noch die ma1migfachsten Auffassungen des Ursprungs der urchristlichen Schriften bunt durcheinander wirbeln, sei an einem Beispiel gezeigt, der Offenbarung Johannis, allerdings einer besonders harten Nuß. Über sie schreibt Pfleiderer in seinem Buch über Das Urchristentum, seine Schriften und Lehren:

      „Das uB1lch Daniel war die älteste solcher Apokalypsen und das Muster für die ganze Gattung. Wie man nun den Schlüssel für die Danielschen Visionen in den Zeitereignissen des jüdischen Krieges unter Antiochus Epiphanes gefunden hatte, so schloß man mit Recht, daß auch die johanneische Apokalypse aus den Verhältnissen ihrer Zeit zu erklären sein werde. Da nun die mystische Zahl 666 ins 13. Kapitel, 18. Vers fast gleichzeitig von mehreren Gelehrten (Benary, Hitzig und Reuß) nach dem Zahlenwert der hebräischen Buchstaben auf Kaiser Nero gedeutet worden war, so schloß man aus Vergleichung von Kapitel 13 und 17 auf die Entstehung der Apokalypse bald nach Neros Tod im Jahre 68. Dies blieb lange die herrschende Ansicht, besonders auch in der älteren Tübinger Schule, die, unter der für sie noch feststehenden Voraussetzung von der Abfassung des Buches durch den Apostel Johannes, in den Parteikämpfen zwischen den Judaisten und Paulinern den Schlüssel zur Erklärung des ganzen Buches gefunden zu haben meint, wobei es ohne grobe Willkür im einzelnen nicht abging (besonders bei Volkmar). Ein neuer Anstoß zur gründlichen Erforschung des Problems ging 1882 von einem Schüler Weizsäckers, Daniel Völter, aus, der eine mehrfache Erweiterung und Überarbeitung einer Grundschrift durch verschiedene Verfasser zwischen 66 und 170 (später bis 140) annahm. Wie hiermit aufgebrachte literargeschichtliche Methode erfuhr dann in den nächsten fünfzehn Jahren die mannigfachsten Variationen: Vischer ließ eine jüdische Grundschrift von einem christlichen Redaktor überarbeitet sein; Sabatier und Schön nahmen umgekehrt eine christliche Grundschrift an, in die jüdische Elemente hineingearbeitet worden seien; Weyland unterschied zwei jüdische Quellen aus der Zeit von Nero und Titus und einen christlichen Redaktor unter Trajan; Spitta unterschied eine christliche Grundschrift vom Jahre 60 n. Chr., zwei jüdische Quellen von 63 v. Chr. und 40 n. Chr. und einen christlichen Redaktor unter Trajan; Schmidt: drei jüdische Quellen und zwei christliche Bearbeiter; Völter in einem neuen Werk von 1893 eine Urapokalypse vom Jahre 62 und vier Überarbeitungen unter Titus, Domitian, Trajan und Hadrian. Der Erfolg aller dieser sich gegenseitig immer widerlegenden und überbietenden Hypothesen war aber zuletzt nur der, daß ‚die Nichtbeteiligten den Eindruck gewannen, auf dem Boden der neutestamentlichen Forschung sei nichts und sei man vor nichts sicher‘. (Jülicher)“

      Pfleiderer glaubt demgegenüber allerdings, daß „die eifrigen Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte“ ein „gesichertes Resultat“ ergeben, aber er wagt doch nicht, dies mit Bestimmtheit zu behaupten, sondern meint, es „scheine“ ihm so. Zu einigermaßen sicheren Ergebnissen in der urchristlichen Literatur kam man fast nur in negativer Beziehung, in der Erkenntnis dessen, was sicher gefälscht ist.

      Fest steht, daß von den urchristlichen Schriften nur die wenigsten von den Autoren herrühren, denen sie zugeschrieben werden, daß sie meist in späterer Zeit als der ihrer Datierung entstanden, und daß ihr ursprünglicher Text durch spätere Überarbeitungen und Zusätze vielfach aufs gröblichste entstellt wurde. Fest steht endlich, daß keines der Evangelien oder der sonstigen urchristlichen Schriftstücke von einem Zeitgenossen Jesu herrührt.

      Als das älteste Evangelium wird jetzt das sogenannte Markusevangelium angesehen, das jedenfalls nicht vor der Zerstörung Jerusalems entstand, die der Verfasser durch Jesus prophezeit werden läßt, das heißt, die schon vollzogen war, als der Verfasser zu schreiben begann. Es wurde demnach wahrscheinlich nicht früher abgefaßt, als etwa ein halbes Jahrhundert nach der Zeit, in die man Jesu Tod verlegt. Was es verzeichnet, ist also das Produkt einer halbhundertjährigen Legendenbildung.

      Auf Markus folgt Lukas, dann der sogenannte Matthäus, endlich als letzter von allen, Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, mindestens ein Jahrhundert nach Christi Geburt. Je weiter wir von Anfang an weiterschreiten, desto wunderbarer werden die Evangeliengeschichten. Schon Markus erzählt uns Wunder, aber sie sind noch harmlos gegenüber den späteren. So zum Beispiel die Totenerweckungen. Bei Markus wird Jesus zu Jairus’ Tochter gerufen, die in den letzten Zügen liegt. Alle nehmen an, sie sei schon tot, aber Jesus sagt: Sie schläft nur, reicht ihr die Hand, und sie erhebt sich. (Markus, 5. Kapitel)

      Bei Lukas kommt dazu der Jüngling von Nain, der erweckt wird. Er ist schon so lange tot, daß er zu Grabe getragen wird, wie ihm Jesus begegnet. Dieser läßt ihn von der Bahre auferstehen. (Lukas, 7. Kapitel)

      Johannes endlich genügt das noch nicht. Er führt uns im II. Kapitel die Erweckung des Lazarus vor, der schon vier Tage im Grabe liegt und bereits stinkt. Damit schlägt er den Rekord.

      Dabei waren die Evangelisten höchst unwissende Leute, die von vielen Dingen, über die sie schrieben, ganz verkehrte Vorstellungen hatten. So läßt Lukas Joseph mit Maria wegen eines römischen Reichszensns von Nazareth nach Bethlehem reisen, wo Jesus geboren wird. Aber ein solcher Zensus ist unter Augustus gar nicht vorgekommen. Über dies wurde Judäa erst nach dem Datum, das für Christi Geburt angegeben wird, eine römische Provinz. Im Jahre 7 nach Christi Geburt wurde allerdings ein Zensus abgehalten, aber in den Wohnorten. Die Reise nach Bethlehem machte er also nicht notwendig. Wir kommen darauf noch zurück.

      Auch das Prozeßverfahren Jesu vor Pontius Pilatus entspricht weder jüdischem noch römischem Recht. Also selbst da, wo die Evangelisten keine Wunder erzählen, berichten sie vielfach Falsches und Unmögliches.

      Und was auf diese Weise als „Evangelium“ zusammengebraut wurde, das erlitt dann durch spätere „Redakteure“ und Abschreiber noch mancherlei Veränderungen, zur Erbauung der Gläubigen.

      So schließen zum Beispiel die besten Handschriften des Markus das Werk mit dem 8. Vers des 16. Kapitels ab, wo die Frauen den toten Jesus in der Gruft suchen, aber statt seiner einen Jüngling in langem, weißem Kleid finden. Da verließen sie die Gruft,,und fürchteten sich“.

      Was in den herkömmlichen Ausgaben noch folgt, ist später hinzugefügt worden. Mit diesem 8. Vers kann aber das Werk unmöglich geschlossen haben. Schon Renan nahm daher an, das Weitere sei im Interesse der guten Sache gestrichen worden, weil es eine Darstellung enthielt, die der späteren Auffassung anstößig erschien.

      Andererseits kommt Pfleiderer wie auch andere nach eingehender Untersuchung zu dem Schlusse, „daß das Lukasevangelium noch nichts von der übernatürlichen Erzeugung Jesu erzählt habe, diese Erzählung vielmehr erst später aufgekommen und dann durch Einfügung der Verse 1, 34 ff. und der Worte „wie man glaubte“ in 3, 23 erst nachträglich in den Text eingetragen worden ist“. (Urchristentnm, I, S. 408)

      Angesichts alles dessen ist es kein Wunder, daß schon in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts die völlige Unbrauchbarkeit der Evangelien als Quellen zur Geschichte Jesu von manchen Forschern erkannt wurde und Bruno Bauer sogar dahin kommen konnte, die Geschichtlichkeit Jesu völlig zu leugnen. Daß trotzdem die Theologen von den Evangelien nicht lassen können und auch die liberalen unter ihnen alles aufbieten, deren Autorität zu erhalten, ist begreiflich. Was bleibt vom Christentum, wenn die Person Christi aufgegeben wird? Aber um diese zu retten, müssen sie sich gar sonderbar winden und drehen.

      So erklärte zum Beispiel Harnack in seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums (1900), David Friedrich Strauß habe wohl geglaubt, die Geschichtlichkeit der Evangelien in Nichts aufgelöst zu haben. Aber der historisch-kritischen Arbeit zweier Generationen sei es gelungen, sie in hohem Umfang wieder herzustellen. Allerdings seien die Evangelien nicht Geschichtswerk, sie wurden nicht geschrieben, um zu berichten, wie es geschehen ist, sondern waren Erbauungsschriften.