übrig.
3. Der Kampf um das Jesusbild
Im besten Falle erhalten wir als historischen Kern der urchristlichen Berichte über Jesus nicht mehr, als was uns Tacitus berichtet: daß zur Zeit des Tiberius ein Prophet hingerichtet wurde, von dem die Sekte der Christen ihren Ursprung herleitete. Was dieser Prophet gelehrt und gewirkt, darüber ist bisher nicht das mindeste mit Bestimmtheit zu erforschen. Auf keinen Fall kann er das Aufsehen erregt haben, von dem die urchristlichen Darstellungen erzählen, sonst würde sicher Josephus darüber berichten, der vieles sehr unbedeutende erzählt. Die Agitation und Hinrichtung Jesu erregte unter seinen Zeitgenossen jedenfalls nicht die mindeste Aufmerksamkeit. War aber Jesus wirklich ein Agitator gewesen, den eine Sekte als ihren Vorkämpfer und Wegweiser verehrte, so mußte die Bedeutung seiner Persönlichkeit wachsen, wenn die Sekte wuchs. Nun begann sich ein Legendenkranz um diese Persönlichkeit zu bilden, in den die frommen Gemüter alles hineinverwebten, was sie wünschten, daß ihr Vorbild gesagt und getan habe. Je vorbildlicher aber dadurch Jesus für die ganze Sekte wurde, desto mehr suchte jede der zahlreichen Richtungen, aus denen sie von Anfang an bestand, dieser Persönlichkeit gerade jene Ideen beizulegen, die ihr besonders am Herzen lagen, um sich dann auf diese Autorität berufen zu können. So wurde das Bild Jesu, wie es in den anfangs bloß mündlich kolportierten, später auch schriftlich fixierten Legenden gemalt wurde, immer mehr das einer übermenschlichen Persönlichkeit, der Inbegriff aller Ideale, die die neue Sekte entwickelte, so wurde es aber auch ein immer widerspruchsvolleres Bild, dessen einzelne Züge zueinander nicht paßten.
Als dann die Sekte zu einer festen Organisation kam, eine umfassende Kirche wurde, in der eine bestimmte Tendenz die Herrschaft eroberte, da war es eine ihrer Aufgaben, einen festen Kanon zu entwerfen, ein Verzeichnis aller der urchristlichen Schriften, die sie als echt anerkannte. Es waren natürlich nur solche, die im Sinne der herrschenden Tendenz sprachen. Alle jene Evangelien und sonstigen Schriften, die ein Bild Jesu entwarfen, das mit dieser Tendenz der Kirche nicht übereinstimmte, wurden als „ketzerisch“, als gefälscht, oder doch als „apokryph“, als nicht ganz zuverlässig verworfen und nicht weiter propagiert, ja sogar möglichst unterdrückt und ihre Abschriften vernichtet, so daß nur wenige uns erhalten sind. Die in den Kanon aufgenommenen Schriften wieder wurden „redigiert“, um möglichste Einheitlichkeit in sie hineinzubringen, glücklicherweise aber so ungeschickt, daß Spuren früherer, abweichender Darstellungen immer noch hie und da durchblicken und den Gang der Entwicklung erraten lassen.
Ihren Zweck, auf diese Art die Einheitlichkeit der Meinungen in der Kirche sicherzustellen, erreichte diese aber nicht und konnte ihn nicht erreichen. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugte immer wieder Verschiedenartigkeiten der Anschauungen und Bestrebungen in der Kirche. Und dank der Widersprüche, die trotz aller Redaktionen und Ausmerzungen in dem von der Kirche anerkannten Jesusbild erhalten waren, fanden diese Verschiedenheiten immer wieder in jenem Bilde Punkte, an die sie anknüpfen konnten. So wurde der Kampf der gesellschaftlichen Gegensätze im Rahmen der christlichen Kirche anscheinend ein bloßer Kampf um die Auslegung der Worte Jesu, und oberflächliche Geschichtschreiber glauben denn auch, alle die großen, oft so blutigen Kämpfe in der Christenheit, die unter religiöser Flagge ausgefochten wurden, seien nichts als Kämpfe um bloße Worte gewesen, ein trauriges Zeichen für die Dummheit des Menschengeschlechts. Aber wo man eine gesellschaftliche Massenerscheinung auf bloße Dummheit der beteiligten Menschen zurückführt, da bezeugt diese anscheinende Dummheit bloß die Verständnislosigkeit des Beobachters und Kritikers, der sich in eine ihm fremde Denkart nicht hineinzufinden und zu den ihr zugrunde liegenden materiellen Bedingungen und Triebkräften nicht vorzudringen vermag. Es waren in der Regel sehr reale Interessen, die miteinander rangen, wenn die verschiedenen christlichen Sekten über die verschiedene Bedeutung der Worte Christi stritten.
Das Aufkommen der modernen, die Überwindung der kirchlichen Denkweise hat dann freilich den Streitigkeiten um das Bild Christi immer mehr ihre praktische Bedeutung genommen und sie zu bloßen Haarspaltereien der Theologen herabgedrückt, die von Staats wegen dazu besoldet werden, die kirchliche Denkart noch möglichst wachzuhalten, und die dafür doch etwas leisten müssen.
Die neuere Bibelkritik, die die Methoden der historischen Quellenforschung auf die biblischen Schriften anwendet, hat jedoch dem Streit um die Auffassung der Person Jesu einen neuen Anstoß gegeben. Sie erschütterte die Sicherheit des bisher überlieferten Jesusbildes, konnte sich aber, weil meist von Theologen betrieben, doch nur selten zu der zuerst von Bruno Bauer vertretenen, später auch von anderen, so namentlich von A. Kalthoff vertretenen Anschauung aufschwingen, daß bei dem gegebenen Zustande der Quellen ein neues Bild überhaupt nicht wiederherzustellen sei. Sie versucht eine solche Wiederherstellung immer und immer wieder, mit demselben Resultate, wie es ehedem das Christentum früherer Jahrhunderte produzierte: jeder der Herren Theologen legt in sein Jesusbild seine eigenen Ideale, seinen eigenen Geist hinein. Wie die Darstellungen Jesu aus dem zweiten, bezeugen auch die aus dem zwanzigsten Jahrhundert nicht das, was Jesus wirklich lehrte, sondern das, was die Hersteller dieser Bilder wünschen, daß er gelehrt hätte.
Sehr fein kennzeichnet diese Wandlungen des Jesusbildes Kalthoff:
„Vom sozialtheologischen Standpunkte aus ist deshalb das Christusbild der sublimierteste religiöse Ausdruck alles dessen, was in einem Zeitalter an sozialen und ethischen Kräften wirksam gewesen ist, und in den Wandlungen, die dieses Christusbild ständig erfahren hat, in seinen Erweiterungen und Verschränkungen, in dem Verblassen seiner alten Züge und dem Aufleuchten in neuen Farben haben wir den feinsten Gradmesser für die Wandlungen, welche das zeitgenössische Leben von den Höhen seiner geistigsten Ideale bis zu den Tiefen seiner materiellsten Lebensvorgänge durchmacht. Dieses Christusbild trägt bald die Züge des griechischen Denkers, bald die des römischen Cäsaren, dann wieder die des feudalen Grundherrn, des Zunftmeisters, des gequälten, fronpflichtigen Bauern und des freien Bürgers, und diese Züge sind alle echt, alle lebendig, solange nicht die Theologen der Schule auf den Einfall kommen, die einzelnen Züge gerade ihrer Zeit als die ursprünglichen und historischen an dem Christus der Evangelien nachweisen zu wollen. Höchstens entsteht ein Schein der Geschichtlichkeit dieser Züge daraus, daß in den Entwicklungs- und Bildungszeiten der christlichen Gesellschaft die verschiedenartigsten, ja entgegengesetztesten Kräfte zusammengewirkt haben, von denen eine jede einzeln eine gewisse Ähnlichkeit mit den heute wirksamen Kräften verrät. Das Christusbild der Gegenwart sieht nun auf den ersten Blick sehr widerspruchsvoll aus. Es trägt zum Teil noch die Züge des alten Heiligen oder des himmlischen Monarchen, daneben aber auch die ganz modernen Züge des Proletarierfreundes, ja des Arbeiterführers. Damit verrät es nur die innersten Widersprüche, die durch unsere Gegenwart hindurchgehen.“
Und früher:
„Die meisten Vertreter der sogenannten modernen Theologie brauchen bei ihren Exzerpten die Schere nach der von David Strauß beliebten kritischen Methode: das Mythische in den Evangelien wird weggeschnitten, was übrig bleibt, soll der historische Kern sein. Aber dieser Kern ist den Theologen schließlich selber unter den Händen zu dünn geworden ... In Ermanglung jeder historischen Bestimmtheit ist dann der Name Jesus für die protestantische Theologie ein leeres Gefäß geworden, in welches jeder Theologe seinen eigenen Gedankeninhalt hineingießt. So macht der eine aus diesem Jesus einen modernen Spinozisten, der andere einen Sozialisten, während die offizielle Kathedertheologie ihn naturgemäß in der religiösen Beleuchtung des modernen Staates betrachtet, ja ihn neuerdings immer durchsichtiger als den religiösen Repräsentanten aller derjenigen Bestrebungen darstellt, die heute in der großpreußischen Staatstheologie eine führende Stellung beanspruchen.“
Bei einem solchen Stande der Dinge ist es kein Wunder, daß die weltliche Geschichtschreibung nur ein geringes Bedürfnis nach der Erforschung der Ursprünge des Christentums verspürt, wenn sie von der Ansicht ausgeht, es sei von einer einzelnen Persönlichkeit geschaffen worden. Wäre diese Ansicht richtig, dann könnte man freilich das Forschen nach der Entstehung des Christentums aufgeben und deren Darstellung der religiösen Dichtkunst unserer Theologen überlassen.
Anders gestaltet sich aber die