Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Man führt den Kälteschauernden hinein, und plötzlich ist alles wahr, was er geträumt; da ist das kleine Zimmer, niedrig und dumpf, voll Dunst und Armut, das eiserne Bett, das kärgliche Licht der Petroleumlampe – meilenweit weg mit einem Mal der Luxus und die Bequemlichkeit, vor der er geflohen ist. Im Sterben, im letzten Augenblick wird alles genau, wie sein innerster Wille gewollt: rein, schlackenlos, ein erhabenes Symbol fügt der Tod sich vollkommen seiner Künstlerhand. In wenigen Tagen türmt sich der großartige Bau dieses Sterbens empor, erhabene Bekräftigung seiner Lehre, nicht mehr zu unterwühlen von der Mißgunst der Menschen, nicht mehr zu stören und zu zerstören in seiner urirdischen Einfachheit. Vergebens, daß draußen vor der verschlossenen Tür der Ruhm atemlos, mit lechzenden Lefzen lauert, daß die Reporter und Neugierigen, die Spione und Polizisten und Gendarmen, der vom Synod abgesandte Priester, die vom Zaren bestimmten Offiziere drängen und warten: ihre grelle und schamlose Geschäftigkeit vermag nichts mehr gegen diese unzerstörbare letzte Einsamkeit. Nur die Tochter hält Wache, ein Freund und der Arzt, stille und demütige Liebe umgibt ihn mit Schweigen. Auf dem Nachttisch liegt das kleine Tagebuch, sein Sprachrohr zu Gott, aber die fiebrigen Hände vermögen den Stift nicht mehr zu halten. So diktiert er aus jagender Lunge, mit verlöschender Stimme der Tochter noch seine letzten Gedanken, nennt Gott »jenes unbegrenzte All, von dem sich der Mensch als einen begrenzten Teil fühlt, seine Offenbarung in Stoff, Zeit und Raum« und verkündigt, daß die Vereinigung dieser irdischen Wesen mit dem Leben anderer Wesen einzig durch die Liebe geschehe. Zwei Tage vor seinem Tode spannt er noch alle seine Sinne, die obere Wahrheit, die unerreichbare, zu fassen. Dann erst schattet mählich die Dunkelheit über dieses strahlende Gehirn.

      Draußen drängen die Menschen neugierig und frech. Er fühlt sie nicht mehr. Vor den Fenstern späht, von Reue gedemütigt, durch die Tränen ihrer strömenden Augen Sophia Andrejewna, seine Frau, herein, die ihm achtundvierzig Jahre verbunden war, um nur von ferne noch einmal sein Antlitz zu sehen: er erkennt sie nicht mehr. Immer fremder werden dem hellsichtigsten aller Menschen die Dinge des Lebens, immer dunkler und stockender rollt das Blut durch die brechenden Adern. In der Nacht des vierten Novembers rafft er sich noch einmal auf und stöhnt: »Aber die Bauern – wie sterben denn die Bauern?« Noch wehrt sich das ungeheure Leben gegen den ungeheuren Tod. Erst am 7. November kommt das Sterben über den Unsterblichen. Hin sinkt das weißumloderte Haupt in die Kissen, die Augen verlöschen, die wissender als alle die Welt gesehen. Und nun erst weiß der ungeduldige Sucher endlich die Wahrheit und den Sinn alles Lebens.

      Ausklang

       Inhaltsverzeichnis

       Der Mensch ist gestorben, aber sein Verhältnis zur Welt wirkt fort auf die Menschen und nicht nur so wie im Leben, sondern weit stärker, und seine Wirkung steigert sich an seiner Vernünftigkeit und Liebe und wächst wie alles Lebende ohne Pause und ohne Ende.

      Brief

      Einen menschheitlichen Menschen hat Maxim Gorki einmal Leo Tolstoi genannt: unübertreffliches Wort. Denn er war Mensch mit uns allen, geformt aus dem gleichen brüchigen Lehm und behaftet mit denselben irdischen Unzulänglichkeiten, aber tiefer um sie wissend, schmerzlicher an ihnen leidend. Nicht als ein andersartiger, ein höherer denn die andern seines Weltalters ist Leo Tolstoi gewesen, nur mehr Mensch als die meisten, sittlicher, hellsinniger, wacher und leidenschaftlicher – gleichsam ein erster und klarster Abdruck jener unsichtbaren Urform in des Weltkünstlers Werkstatt.

      Dieses Bildnis des ewigen Menschen aber, von dem ein schattenhafter und oftmals schon unkenntlicher Entwurf uns allen zugrunde liegt, inmitten unserer vermengten Welt möglichst vollkommen zu entäußern, erwählt sich Tolstoi als eigentliche Lebenstat – eine nie beendbare, nie völlig erfüllbare und doppelt heldische darum. Er hat den Menschen gesucht in der äußersten Erscheinung dank einer unvergleichlichen Wahrhaftigkeit der Sinne, er hat ihn gesucht im Geheimnisraum des eigenen Gewissens, hinabdringend in Tiefen, die man nur erreicht, indem man sich verwundet. Mit einem grimmigen Ernst, mit einer unbarmherzigen Härte hat dieses vorbildlich ethische Genie rückhaltlos sich die Seele aufgewühlt, um jenes unser vollkommenes Urbild aus seiner irdischen Kruste zu befreien und der ganzen Menschheit ihr edleres und gottähnlicheres Antlitz zu zeigen. Nie ruhend, nie sich befriedend, nie seiner Kunst die arglose Freude des bloßen Formenspiels gönnend, arbeitet dieser unerschrockene Bildner achtzig Jahre an diesem großartigen Werke der Selbstvervollkommnung durch Selbstdarstellung. Seit Goethe hat kein Dichter derart sich selbst und gleichzeitig den ewigen Menschen offenbar gemacht.

      Aber nur scheinbar hat dieser heroische Wille zur Weltversittlichung durch Prüfung und Prägung der eigenen Seele mit dem Atem dieses einmaligen Menschen geendet – unentwegt gestaltend und fortgestaltend wirkt der mächtige Impuls seines Wesens ins Lebendige weiter. Noch sind als Zeugen seiner Irdischkeit manche zur Stelle, die erschauernd in dies stahlgrau schneidende Auge geblickt, und doch ist längst schon der Mensch Tolstoi zum Mythos geworden, sein Leben eine hohe Legende der Menschheit und sein Kampf wider sich selbst ein Beispiel für unser und jedes Geschlecht. Denn alles aufopfernd Gedachte, alles heldisch Vollbrachte ist auf unserer engen Erde immer für alle geleistet, an jeder Größe eines Menschen gewinnt die Menschheit neues und größeres Maß. Nur an dem Selbstbekenntnis der inbrünstig Wahren ahnt der suchende Geist seine Grenzen und Gesetze. Nur dank der Selbstgestaltung seiner Künstler wird die Seele der Menschheit irdisch erfaßbar, der Genius Gestalt.

      Schachnovelle

       Inhaltsverzeichnis

      Buenos Aires 1942

      Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deck-show spielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei-oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch vom Reportern interviewt und photographiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte. »Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den Czentovic.« Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: »Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien.«

      In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar einiger Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere-, mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlage neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt; seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York hatte noch nie der Einbruch eines völlig Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt. Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch eine blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch, daß dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, »seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell«. Sohn eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem Getreidedampfer Überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.

      Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die schon hundertmal ihm erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an;