Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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öffentlich hat er ja die Kunst als eine »Überflüssigkeit«, eine »Sünde« verhöhnt und erniedrigt). Da sind sie, die heimlich geschriebenen, vor den Menschen versteckten Werke, »Hadschi Murat«, »Der gefälschte Coupon«; er blättert sie an und liest ein paar Seiten. Das Auge wird wieder warm. »Ja, das ist gut geschrieben«, fühlt er, »das ist gut! Daß ich seine Welt schildere, nur dazu hat mich Gott gerufen, nicht daß ich seine Gedanken verrate. Wie schön ist die Kunst, wie rein das Schaffen und wie qualvoll das Denken! Wie war ich glücklich damals, als ich jene Blätter schrieb, mir selber rannen die Tränen nieder, als ich den Frühlingsmorgen im ›Eheglück‹ schilderte, und noch nachts kam Sophia Andrejewna herein, mit brennenden Augen, und umarmte mich: beim Abschreiben mußte sie innehalten und mir danken, und wir waren glücklich die ganze Nacht, das ganze Leben. Aber ich kann jetzt nicht mehr zurück, ich darf die Menschen nicht mehr enttäuschen, ich muß weiter auf dem begonnenen Weg, weil sie von mir Hilfe erhoffen in ihrer Seelennot. Ich darf nicht innehalten, meine Tage sind gezählt.« Er seufzt auf und schiebt die geliebten Blätter wieder in das Versteck der Lade zurück; wie ein Lohnschreiber, stumm, ärgerlich schreibt er weiter an dem theoretischen Traktat, die Stirn zerfurcht und das Kinn so tief gebückt, daß der weiße Bart manchmal raschelnd über das Papier mitstreift.

      Endlich Mittag! Genug getan für heute! Weg die Feder: er springt auf und wirbelt mit seinen flinken, kleinen Schritten die Treppe hinab. Dort hält schon der Reitknecht Delire, die Lieblingsstute, bereit. Ein Ruck in den Sattel, und schon strafft sich die beim Schreiben gebückte Gestalt, er scheint größer, stärker, jünger, lebendiger, als er, aufrecht sitzend, leicht und locker wie ein Kosak auf dem schmalhufigen Pferde gegen den Wald sprengt. Der weiße Bart wellt und weht im Sausen des Windes, weit und wollüstig öffnet er die Lippen, um den Brodem der Felder stärker in sich einzusaugen, Leben, das lebendige, im alternden Leib zu fühlen, und die Wollust des gerüttelten Blutes rauscht ihm warm und süß durch die Adern bis zu den Fingerspitzen und in die dröhnende Muschel des Ohres. Wie er jetzt in den jungen Wald einreitet, hält er plötzlich an, um zu sehen, noch einmal zu sehen, wie an der lenzlichen Sonne die klebrigen Knospen aufgebrochen schimmern und ein dünnes, zittriges Grün, zart wie Stickerei, in den Himmel halten. Mit scharfem Schenkeldruck drängt er das Pferd zu den Birken, sein Falkenauge beobachtet erregt, wie eine hinter der andern, vor und zurück, ein mikroskopisches Paternosterwerk, die Ameisen die Borke entlangziehen, die einen, beladen schon, mit dickem Bauch, die andern noch das Baummehl fassend mit ihren winzigen Filigranzangen. Minutenlang steht er reglos begeistert, der greise Patriarch, und blickt auf das Winzige im Ungeheuren, Tränen strömen ihm warm in den Bart. Wie wunderbar das ist, seit mehr als siebzig Jahren immer wieder neu wunderbar, dieser Gottesspiegel der Natur, still und sprechend zugleich, ewig von andern Bildern erfüllt, allzeit belebt und weiser in seiner Stille als alle Gedanken und Fragen. Unter ihm schnaubt ungeduldig das Pferd. Tolstoi erwacht aus seiner sinnenden Versunkenheit, drückt der Stute kräftig die Schenkel an die Flanken, um nun im Sausen des Windes nicht bloß das Kleine und Zärtliche, sondern auch Wildheit und Leidenschaft der Sinne zu fühlen. Und er reitet und reitet und reitet, glücklich und gedankenlos, reitet zwanzig Werst, bis schon glänzender Schweiß die Flanke der Stute weiß überschäumt. Dann lenkt er sie heimwärts in ruhigem Trab. Seine Augen sind ganz licht, seine Seele leicht, er ist glücklich und froh wie als Knabe in denselben Wäldern, auf demselben seit siebzig Jahren vertrauten Weg, der alte, uralte Mann.

      Aber in der Nähe des Dorfes verfinstert sich plötzlich das übersonnte Gesicht. Sein fachmännischer Blick hat die Felder geprüft: hier liegt inmitten seines Gutsbereiches eins schlecht gehalten, verwahrlost, der Zaun abgefault und zur Hälfte wahrscheinlich verheizt, der Boden nicht gepflügt. Zornig reitet er heran, Auskunft zu fordern. Aus der Türe tritt barfüßig, mit versträhntem Haar und geducktem Blick eine schmutzige Frau; zwei, drei kleine, halbnackte Kinder drängen ängstlich nach an ihrem zerschlissenen Rock, und von rückwärts aus der niederen, rauchigen Hütte quäkt noch ein viertes. Gerunzelter Stirn forscht er nach dem Grund der Verwahrlosung. Die Frau flennt zusammenhanglose Worte, seit sechs Wochen sei ihr Mann im Gefängnis, verhaftet wegen Holzdiebstahls. Wie sollte sie sorgen ohne ihn, den Starken und Fleißigen, und er habe es doch nur aus Hunger getan, der Herr wisse ja selbst: die schlechte Ernte, die hohen Steuern, die Pacht. Die Kinder, ihre Mutter flennen sehend, beginnen mitzuheulen, hastig greift Tolstoi in die Tasche und reicht, um jede weitere Erörterung abzuschneiden, ihr ein Geldstück hin. Dann reitet er rasch, ein Flüchtling, davon. Sein Antlitz ist düster, seine Freude verflogen. »Das also geschieht auf meinem – nein, auf dem Grunde, den ich meiner Frau und meinen Kindern geschenkt habe. Aber warum verstecke ich immer feig hinter meine Frau Mitwissen und Schuld? Ein Lügenspiel vor der Welt, nichts sonst war jene Vermögensüberweisung; denn genau, wie ich selbst von Bauernfron satt geworden bin, saugen jetzt die Meinen aus dieser Armut ihr Geld. Ich weiß doch: von dem Neubau des Hauses, in dem ich sitze, ist jeder Ziegel aus dieser Leibeigenen Schweiß gebacken, ihr steingewordenes Fleisch, ihre Arbeit. Wie durfte ich meiner Frau und meinen Kindern schenken, was mir nicht gehörte, die Erde jener Bauern, die sie pflügen und bestellen. Schämen muß ich mich vor Gott, in dessen Namen ich, Leo Tolstoi, immer Gerechtigkeit den Menschen predige, ich, dem täglich fremdes Elend in die Fenster sieht.« Ganz zornig ist sein Antlitz geworden und verdunkelt sich noch mehr, wie er jetzt an den steinernen Säulen vorbei in den »Herrensitz« einreitet. Der livrierte Lakai und der Reitknecht stürzen aus der Tür, um ihm vom Pferd zu helfen. »Meine Sklaven«, höhnt ingrimmig von innen die selbstanklägerische Scham.

      Im weiträumigen Speisezimmer erwartet ihn schon die lange Tafel, blühweiß gedeckt und mit Silbergeschirr: die Gräfin, die Töchter, die Söhne, der Sekretär, der Hausarzt, die Französin, die Engländerin, ein paar Nachbarn, ein revolutionärer Student, als Hauslehrer angestellt, und dann jener englische Reporter: der breite Menschenbrei brodelt heiter durcheinander. Jetzt freilich, da er eintritt, bricht sofort ehrfürchtig das Lärmen ab. Ernst, adelshöflich begrüßt Tolstoi die Gäste und setzt sich an den Tisch, ohne ein Wort zu sprechen. Wie der livrierte Diener ihm jetzt seine erlesenen vegetarischen Gerichte hinstellt – Spargel, fremdländische Ware, auf das zärtlichste zubereitet –, muß er denken an die zerschlissene Frau, die Bäuerin, der er zehn Kopeken geschenkt. Finster sitzt er und sieht in sich hinein. »Wenn sie doch nur verstehen wollten, daß ich nicht so leben kann und will, umringt von Lakaien, vier Gänge zu Mittag, auf Silber mit allen Überflüssigkeiten, indes die anderen nicht das Nötigste haben; sie wissen doch alle, daß ich nur dies eine Opfer von ihnen begehre, nur dies eine, daß sie den Luxus lassen, diese schändliche Sünde an der von Gott gleichgewollten Menschheit. Aber sie, die meine Frau ist und meine Gedanken teilen sollte wie mein Bett und mein Leben, sie steht als Feind gegen meine Gedanken. Ein Mühlstein ist sie an meinem Hals, eine Gewissenslast, die mich hinabzieht in ein falsches, verlogenes Leben; längst sollte ich die Stricke zerschneiden, mit denen sie mich binden. Was habe ich noch mit ihnen zu tun? Sie stören mich in meinem Leben, und ich störe sie in dem ihren. Überflüssig bin ich hier, eine Last für mich und sie alle.«

      Unwillkürlich feindselig hebt er den Blick aus seinem Zorn und sieht sie an, Sophia Andrejewna, seine Frau. Mein Gott, wie ist sie alt geworden und grau, auch ihr queren Falten die Stirn, auch ihr zerreißt Gram den verfallenen Mund. Und eine weiche Welle überflutet plötzlich des alten Mannes Herz. »Mein Gott«, denkt er, »wie sieht sie düster, wie sieht sie traurig aus, sie, die ich als junges, lachendes, unschuldiges Mädchen in mein Leben nahm. Ein Menschenalter, vierzig, fünfundvierzig Jahre leben wir nun zusammen, als ein Mädchen habe ich sie genommen, ich schon halb verbrauchter Mann, und sie hat mir dreizehn Kinder geboren. Meine Werke hat sie schaffen helfen, meine Kinder gesäugt, und ich, was habe ich aus ihr gemacht? Eine verzweifelte, fast wahnsinnige, überreizte Frau, der man die Schlafmittel versperren muß, damit sie nicht ihr Leben wegwirft, so unglücklich wurde sie durch mich. Und da, meine Söhne, ich weiß, sie mögen mich nicht, und da, meine Töchter, denen zehre ich die Jugend weg, und da, die Sekretäre, die jedes Wort aufschreiben und jedes meiner Worte aufpicken wie Spatzen den Pferdemist; schon haben sie den Balsam und Weihrauch im Kasten bereit, um meine Mumie für das Museum der Menschheit zu erhalten. Und dort dieser englische Laffe wartet schon mit dem Notizbuch, wie ich ihm ›das Leben‹ erklären werde – eine Sünde gegen Gott und gegen die Wahrheit ist dieser Tisch, dieses Haus, gräßlich geheimnislos und ohne Reinheit, und ich Lügner sitze behaglich in dieser Hölle und fühle mich warm und wohl, statt aufzuspringen