Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


Скачать книгу

dem Joch von Tyrannen schmachten? Sie werden kämpfen und sich bemühen, die Sklaverei loszuwerden. Und ich sage es Ihnen am Vorabende Ihres Todes, Leo Nikolajewitsch, die Welt wird noch im Blute ersticken, und man wird mehr als einmal nicht nur die Herren, ohne Unterschied des Geschlechtes, sondern auch ihre Kinder erschlagen und in Stücke reißen, damit die Erde auch von diesen nichts Schlimmes mehr zu gewärtigen habe. Ich bedaure, daß Sie diese Zeit nicht mehr erleben werden, damit Sie selbst Augenzeuge Ihres Irrtums sein könnten. Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tod.«

      Niemand weiß, wer diesen wetterleuchtenden Brief geschrieben. War es Trotzki, Lenin oder irgendeiner der namenlosen Revolutionäre, die in der Schlüsselburg vermoderten: wir werden es nie erfahren. Aber vielleicht hat in diesem Augenblick Tolstoi schon gewußt, daß seine Lehre Rauch und Vergeblichkeit wider die Wirklichkeit gewesen, daß die wirre und wilde Leidenschaft allezeit mächtiger sein wird unter den Menschen als die brüderliche Güte. Sein Antlitz wurde – so erzählen die Zeugen – ernst in diesem Augenblick. Er nahm das Blatt und ging damit nachdenklich in sein Zimmer, eine Schwinge der Ahnung kühl um das alternde Haupt.

      Der Kampf um Verwirklichung

       Inhaltsverzeichnis

       Es ist leichter, zehn Bände Philosophie zu schreiben, als einen einzigen Grundsatz in der Praxis durchzuführen.

      Tagebuch 1847

      Im Evangelium, das Leo Tolstoi in jenen Jahren so beharrlich durchblättert, wird er nicht ohne Erschütterung das prophetische Wort gelesen haben: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, denn dies Schicksal erfüllt sich nun in seinem eigenen Leben. Niemals wirft ohne Sühne ein einziger Mensch, und am wenigsten ein gewaltiger, seine geistige Unruhe in die Welt: tausendfältig schwillt im Rückstoß der Aufruhr wider die eigene Brust. Heute, da längst die Diskussion ausgekühlt ist, vermögen wir gar nicht mehr zu ermessen, welche fanatische Erwartung im ersten Anruf die Botschaft Tolstois in der russischen und darüberhin in der ganzen Welt entzündete: ein Seelenaufruhr muß es gewesen sein, gewaltsame Erweckung eines ganzen Volksgewissens. Vergebens, daß die Regierung, von solch umstürzender Wirkung erschreckt, die polemischen Schriften Tolstois hastig verbietet, in Schreibmaschinenkopien schleichen sie von Hand zu Hand, sie werden eingeschmuggelt dank ausländischer Ausgaben; und je kühner Tolstoi die Elemente der bisherigen Ordnung, den Staat, den Zaren, die Kirche angreift, je glühender er eine bessere Weltordnung für die Mitmenschheit postuliert, um so strömender wendet sich das jeder Heilsbotschaft offene Herz der Menschheit ihm entgegen. Denn trotz Eisenbahn, Radio und Telegraph, trotz Mikroskop und aller technischen Magie hat unsere sittliche Welt sich genau dieselbe messianische Erwartung eines höheren moralischen Zustandes bewahrt wie in den Tagen Christi, Mohammeds oder Buddhas; unaustilgbar lebt und bebt in der ewig wunderwilligen Massenseele eine immer wieder erneute Sehnsucht nach einem Führer und Lehrer. Immer darum, wenn ein Mensch, ein einzelner, sich mit einer Verheißung an die Menschheit wendet, rührt er an den Nerv dieser Glaubenssehnsüchtigkeit, und eine unendliche aufgestaute Opferbereitschaft pocht jedem entgegen, der den Mut auf sich nimmt, aufzustehen und das verantwortlichste Wort zu wagen: »Ich weiß um die Wahrheit.«

      So wenden sich aus ganz Rußland Millionen Seelenblicke zu Ende des Jahrhunderts Tolstoi entgegen, kaum daß er seine apostolische Botschaft ankündigt. Die »Beichte«, für uns längst bloß noch ein psychologisches Dokument, berauscht die gläubige Jugend wie eine Verkündigung. Endlich, so jubeln sie, hat einmal ein Gewaltiger und Freier und überdies der größte Dichter Rußlands als Forderung ausgesprochen, was bisher nur die Enterbten klagten, die halb Leibeigenen heimlich flüsterten: daß die gegenwärtige Ordnung der Welt ungerecht, unmoralisch und darum unhaltbar sei und eine neue, bessere Form gefunden werden müsse. Ein unverhoffter Impuls ist allen Unzufriedenen geworden, und zwar nicht von einem der professionellen Fortschrittsphraseure, sondern von einem unabhängigen und unbestechlichen Geiste, dessen Autorität und Ehrlichkeit niemand zu bezweifeln wagt. Mit seinem eigenen Leben, mit jeder Handlung seines offensichtlichen Daseins will, so hören sie, dieser Mann beispielgebend vorausgehen, er will als Graf seine Vorrechte, als reicher Mann sein Eigentum lassen und als erster der Besitzenden und Großen demütig sich einordnen in die unterschiedslose Werkgemeinschaft des arbeitenden Volkes. Bis zu den Ungebildeten, zu den Bauern und Analphabeten wandert die Botschaft von dem neuen Heiland der Enterbten, schon scharen sich die ersten Jünger zusammen, die Sekte der Tolstoianer beginnt buchstabengläubig ihres Lehrers Wort zu erfüllen, und hinter ihnen erwacht und wartet die unübersehbare Masse der Bedrückten. So glühen Millionen Herzen, Millionen Blicke Tolstoi, dem Verkünder entgegen und blicken gierig auf jeden Akt, jede Tat seines weltbedeutsam gewordenen Lebens. »Doch dieser hat gelernt, er wird uns lehren.«

      Aber sonderbar, Tolstoi scheint ursprünglich gar nicht wahrzunehmen, welche Wucht von Verantwortung er sich zulastet. Selbstverständlich ist er klarsichtig genug, um zu empfinden, daß man eine solche Lebenslehre als Verkünder nicht nur in kalten Lettern auf dem Papier stehenlassen, sondern beispielhaft inmitten der eigenen Existenz verwirklichen müsse. Aber – und dies ist der Irrtum seines Anfangs – er meint, schon genug getan zu haben, wenn er die Durchführbarkeit seiner neuen sozialen und ethischen Forderungen in seiner Lebenshaltung nur symbolisch andeutet und ab und zu ein Zeichen prinzipieller Bereitschaft gibt. Er kleidet sich also wie ein Bauer, um den äußern Unterschied zwischen Herrn und Knecht unsichtbar zu machen; er arbeitet auf dem Felde mit Sense und Pflug und läßt sich dabei von Rjepin malen, damit jedermann schwarz auf weiß gewahren könne: Arbeit im Felde, grobe, ehrliche Arbeit um das Brot empfinde ich nicht als Schande, und niemand muß sich ihrer schämen, denn seht! ich selbst, Leo Tolstoi, der, wie ihr alle wißt, derlei nicht nötig hätte und den seine geistige Leistung vollkommen entschuldigte, ich nehme sie freudig auf mich. Er überträgt, um mit der »Sünde« des Eigentums nicht länger die Seele zu beflecken, seinen Besitz, sein Hab und Gut (damals schon mehr als eine halbe Million Rubel) an die Frau und Familie und weigert sich, von seinen Werken weiterhin noch Geld oder Geldeswert zu empfangen. Er gibt Almosen und dem fremdesten, niedersten Menschen, der ihn anspricht, seine Zeit in Besuchen und Briefen; er nimmt sich jedes Unrechts und jeder Ungerechtigkeit auf Erden mit brüderlich helfender Liebe an. Aber dennoch, bald muß er erkennen, daß noch mehr von ihm gefordert wird, denn die große grobe Masse der Gläubigen, jenes »Volk« eben, das er mit allen Sinnen seiner Seele sucht, hat kein Genügen an jenen geistig gedachten Symbolen der Demütigung, sondern fordert mehr von Leo Tolstoi: die völlige Entäußerung, das restlose Aufgehen in seinem Elend und Unglück. Wahrhaft Gläubige und Überzeugte schafft immer nur die Märtyrertat – und immer steht darum am Anfang jeder Religion ein Mann der vollkommenen Selbsthingabe – niemals aber die bloß andeutende, die versprechende Haltung. Und alles, was Tolstoi bisher tat, um seine Lehre in ihrer Erfüllbarkeit zu bekräftigen, war nie mehr als bloß Geste der Erniedrigung, ein religiös demütiger Symbolakt, vergleichbar etwa jenem, den die katholische Kirche dem Papst oder den strenggläubigen Kaisern auferlegt, daß sie am Gründonnerstage, also einmal im Jahre, zwölf Greisen die Füße waschen. Damit wird bekundet und vor dem Volke gezeigt, daß selbst die niedrigste Handhabung auch die Höchsten der Erde nicht erniedrige. Aber sowenig der Papst oder die Kaiser Österreichs und Spaniens durch diesen einmal jährlichen Akt der Bußübung sich ihrer Macht begeben und wirklich zu Badeknechten werden, sowenig wird der große Dichter und Adelsherr durch die eine Stunde mit Pfriem und Leisten zum Schuster, durch die zwei Stunden Feldarbeit schon zum Bauern, durch die Vermögensübertragung an seine Hausgenossen zum wirklichen Bettler. Tolstoi demonstrierte zuerst nur die Erfüllbarkeit seiner Lehre, aber er erfüllt sie nicht. Gerade aber dies hatte das Volk, dem Symbole (aus einem tiefen Instinkt) nicht genügen und das nur ein vollkommenes Opfer zu überzeugen vermag, von Leo Tolstoi erwartet, denn immer legen die ersten Anhänger ihres Meisters Lehre viel buchstabengenauer und strenger und wortwörtlicher aus als der Lehrer selbst. Darum jene profunde Enttäuschung, da sie, zu dem Propheten der freiwilligen Armut pilgernd, bemerken müssen, daß genau wie auf den andern Adelssitzen, die Bauern von Jasnaja Poljana weiterhin im Elend sielen, er aber, Leo Tolstoi, ganz wie vordem die Gäste als Graf im Herrenhaus herrschaftlich empfängt und somit immer noch der »Klasse von Menschen« angehört, »die durch allerlei Kunstgriffe dem Volk das Notwendige rauben«. Jene laut