Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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zu vergrößern, notwendig, um ihn zu verteidigen. So schafft das Eigentum sich den Staat zu seinem Schutze, der Staat zu seiner Selbstbehauptung wiederum organisierte Formen brachialer Gewalt, die Armee, die Justiz, »das ganze Zwingsystem, das nur dient, das Eigentum zu schützen«, und wer sich dem Staate einordnet und ihn anerkennt, wird mit seiner Seele diesem Machtprinzip hörig. Ohne es zu ahnen, dienen nach Tolstois Auffassung selbst die scheinbar unabhängigen, die geistigen Menschen im modernen Staate einzig der Besitzerhaltung einiger weniger, sogar die Kirche Christi, die »in ihrer wahren Bedeutung staatsaufhebend war«, wendet sich »mit lügnerischen Lehren« von ihrer eigensten Pflicht ab. Die Künstler wiederum, sie, die freigeborenen berufenen Anwälte des Gewissens, Verteidiger des Menschenrechts, schnitzen an ihren elfenbeinernen Türmchen und »schläfern das Gewissen ein«. Der Sozialismus versucht Arzt zu sein am Unheilbaren, die Revolutionäre, die einzigen, die in richtiger Erkenntnis die falsche Weltordnung von Grund auf zersprengen wollen, gebrauchen fehlhafterweise selbst das mörderische Mittel ihrer Gegner und verewigen das Unrecht, indem sie das Prinzip des »Bösen« unangetastet lassen, ja noch heiligen: die Gewalt.

      Falsch und morsch also im Sinn dieser anarchistischen Forderungen das Fundament des Staates und unserer gegenwärtig gültigen Gesellschaftsordnung: vehement weist darum Tolstoi alle demokratischen, philanthropischen, pazifistischen und revolutionären Verbesserungen der Regierungsform als vergeblich und unzulänglich zurück. Denn keine Duma, kein Parlament und am wenigsten eine Revolution erlösen die Nation vom »Bösen« der Gewalt: ein Haus auf schwankem Grund kann nicht gestützt werden, man kann es nur verlassen und sich ein anderes erbauen. Der moderne Staat aber ruht auf dem Machtgedanken, nicht auf der Brüderlichkeit: folglich ist er für Tolstoi unwiderruflich zum Einsturz verurteilt, und alles soziale und liberale Flickwerk verlängert nur seinen Todeskampf. Nicht die staatsbürgerliche Beziehung zwischen Volk und Regierung, sondern die Menschen selbst müssen geändert werden: statt der gewaltsamen Zusammenpressung durch die Staatsmacht muß eine innigere seelische Bindung durch Brüderlichkeit jeder Völkergemeinschaft Festigkeit geben. Insolange aber diese religiöse, diese ethische Bruderschaft noch nicht die gegenwärtige Form des Zwangsbürgers ersetzt, so lange erklärt Tolstoi eine wahre Sittlichkeit nur möglich im unsichtbaren Geheimnisraum des Individualgewissens. Da der Staat identisch ist mit Gewalt, so darf sich ein ethischer Mensch nicht mit dem Staate identifizieren. Was not tut, ist eine religiöse Revolution, ein Sichlossagen jedes Gewissensmenschen von jeder Gewaltgemeinschaft. Darum stellt sich Tolstoi selbst mit entschlossenem Ruck außerhalb der Staatsformen und deklariert sich sittlich für unabhängig von jedem Pflichtgebot außer dem seines Gewissens. Er aberkennt sich »eine ausschließliche Zugehörigkeit zu irgendeinem Volke und Staate oder eine Untertanenschaft unter irgendeine Regierung«; er stößt sich freiwillig aus der orthodoxen Kirche, er verzichtet aus Prinzip auf den Appell an Justiz oder irgendeine statuierte Einrichtung der gegenwärtigen Gesellschaft, nur um nicht den Finger des »Teufels Gewaltstaat« zu fassen. Man lasse sich darum nicht durch die evangelische Sanftheit seiner Brüderlichkeitspredigten, durch die Überfärbung mit einer christlich-demütigen Diktion, die Anlehnung an das Evangelium hinwegtäuschen über das vollkommen Staatsfeindliche seiner Sozialkritik. Seine Staatslehre ist die erbittertste Antistaatslehre und seit Luther der vollkommenste Bruch eines einzelnen Menschen mit dem neuen Papismus, dem Unfehlbarkeitsgedanken des Eigentums. Selbst Trotzki und Lenin sind theoretisch nicht um einen Schritt über das »Alles muß geändert werden« Tolstois hinausgegangen, und genau wie Jean-Jacques Rousseau, der »ami des hommes«, mit seinen Schriften der Französischen Revolution die Minengänge höhlte, aus denen sie dann das Königtum in die Luft schmetterte, so hat kein Russe wuchtiger die Grundfesten der zaristischen, der kapitalistischen Ordnung erschüttert und sturmreif gemacht als dieser Radikalrevolutionär, dem man bei uns, durch den patriarchalischen Bart und eine gewisse Öligkeit der Doktrin getäuscht, einzig als Sanftmutsapostel anzusehen beliebt. Allerdings: genau wie Rousseau über die Sansculotten, hätte Tolstoi sich zweifellos über die Methodik des Bolschewismus entrüstet, denn er haßte Parteien – »welche der Parteien auch siegt, sie müßte, um ihre Macht zu erhalten, nicht nur alle vorhandenen Gewaltmittel anwenden, sondern noch neue erfinden«, steht prophetisch in seinen Schriften – aber eine aufrichtige Geschichtsdarstellung wird einmal bezeugen, daß er ihr bester Wegbereiter gewesen, daß alle Bomben aller Revolutionäre nicht dermaßen unterhöhlend und autoritätserschütternd in Rußland gewirkt haben, wie die offene Auflehnung dieses Einzigen und Größten gegen die scheinbar unüberwindbaren Mächte seiner Heimat: den Zaren, die Kirche und den Besitz. Seit dieser Genialste aller Diagnostiker den unterirdischen Baufehler unserer Zivilisationskonstruktion entdeckte, nämlich, daß unser Staatsgebäude nicht auf Humanität, auf Menschengemeinschaft, sondern auf Brutalität, auf Menschenbeherrschung beruht, hat er seine ungeheure ethische Stoßkraft dreißig Jahre lang in immer wieder erneuten Attacken gegen die russische Weltordnung geworfen, Winkelried der Revolution, ohne sie zu wollen, sozialer Dynamit, zersprengende, zerstörende elementarische Urkraft, und unbewußt damit Repräsentant seiner russischen Mission. Denn zwanghaft muß alles russische Denken, um aufzubauen, vorerst radikal und bei den Wurzeln zerstören – nicht zufällig bleibt keinem seiner Künstler erspart, zuvor in die schwärzesten Schächte des lichtlosesten, weglosesten Nihilismus niederzustürzen, um dann erst aus brennendster, ekstatischer Verzweiflung sich inbrünstig wieder neue Gläubigkeiten zu erzwingen; nicht wie wir Europäer, in zaghaften Verbesserungen, in pietätvoll aufpfropfender Vorsicht, sondern brüsk wie ein Holzfäller mit dem rechten Niederreißemut der gefährlichen Experimente geht der russische Denker, der russische Dichter, der russische Tatmensch auf die Probleme los. Ein Rostopschin zögert nicht, um der Idee des Sieges willen, Moskau, dies miraculum mundi, bis auf die Hausschwellen niederzubrennen, und ebensowenig Tolstoi – hierin Savonarola gleich – das ganze Kulturgut der Menschheit, Kunst, Wissenschaft, auf den Scheiterhaufen zu verbannen, nur damit eine neue und bessere Theorie gerechtfertigt sei. Mag sein, nie ist sich vielleicht der religiöse Träumer Tolstoi der praktischen Konsequenzen seines Bildersturms bewußt geworden, nie hat er wahrscheinlich durchzurechnen gewagt, wieviel irdische Existenzen der plötzliche Einsturz solch eines himmelweiten Weltgebäudes mit sich reißen würde – er hat einzig mit aller Seelenkraft und Starrnäckigkeit seiner Überzeugung an den Säulen des sozialen Staatsgebäudes gerüttelt. Und wenn ein solcher Simson seine Fäuste reckt, neigt und beugt sich auch das riesigste Dach. Darum bleiben alle nachzüglerischen Debatten, inwieweit Tolstoi bolschewistischen Umsturz gebilligt oder befeindet hätte, überflüssig gegen das nackte Faktum, daß nichts die russische Revolution geistig so sehr gefördert hat wie die fanatischen Bußpredigten Tolstois gegen Überfluß und Besitz, die Petarden seiner Broschüren, die Bomben seiner Pamphlete. Keine Kritik der Zeit, auch jene Nietzsches nicht, der als Deutscher doch immer nur auf die Gebildeten zielte und schon durch seine dichterisch-dionysische Diktion sich jeden Masseneinfluß versperrte, hat derart seelenaufwühlend und glaubensumstürzend in die breite Volksmasse gewirkt; und wider seinen Wunsch und Willen steht Tolstois Herme für alle Zeiten im unsichtbaren Pantheon der großen Revolutionäre, der Machtumstürzer und Weltverwandler.

      Wider seinen Wunsch und Willen: denn Tolstoi hat deutlich seine christlich-religiöse Revolution, seinen Staatsanarchismus von jeder aktiven und gewalttätigen abgesondert. Er schreibt in den »Reifen Ähren«: »Wenn wir Revolutionären begegnen, täuschen wir uns häufig in der Meinung, daß wir und sie uns berühren. Sie und auch wir rufen: keinen Staat, kein Eigentum, keine Ungleichheit und vieles andere. Dennoch besteht da ein großer Unterschied: für den Christen gibt es keinen Staat – jene aber wollen den Staat vernichten. Für den Christen gibt es kein Eigentum – jene wollen es abschaffen. Für den Christen sind alle gleich – sie wollen die Ungleichheit zerstören. Die Revolutionäre kämpfen mit der Regierung von außen, das Christentum kämpft aber gar nicht, es zerstört die Fundamente des Staates von innen.« Man sieht, Tolstoi wollte nicht den Staat mit Gewalt vernichtet wissen, sondern durch die Passivität unzähliger Einzelner, langsam in seiner Autorität geschwächt, indem sich Molekül nach Molekül, ein Individuum nach dem andern seiner Umklammerung so lange entzieht, bis endlich der Staatsorganismus infolge Entkräftung sich selbst auflöst. Der schließliche Effekt aber bleibt doch der gleiche: Zerstörung aller Autorität, und dieser Anstrengung hat Tolstoi ein Leben lang leidenschaftlich gedient. Allerdings wollte er zugleich eine neue Ordnung, eine Staatskirche dem Staat, eine humanere, brüderlichere Lebensreligion begründen, das altneue und urchristliche, das tolstoi-christliche