Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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scheinbar übermenschlichen Menschlichkeit genau wie Goethe, doch durchaus den normalen, den gesunden Menschen darstellt, das vollendete Exemplar der Gattung, das ewige Ich und das universale Wir, so empfinden wir – abermals wie bei Goethe – seine Biographie als eine vollendete Form des sich vollendenden Lebens.

      Krise und Verwandlung

       Inhaltsverzeichnis

       Das wichtigste Ereignis im Leben eines Menschen ist der Augenblick, wo er sich seines Ichs bewußt wird; die Folgen dieses Ereignisses können die wohltätigsten oder die schrecklichsten sein.

      November 1898

      Jede Gefährdung wird zu Gnade, jede Hemmung zu Hilfe und Heiltrieb im Schöpferischen, weil sie unbekannte Kräfte der Seele gewaltsam herausfordert; nichts wird einer dichterischen Existenz gefährlicher als Zufriedenheit und ebene Bahn. Tolstois Weltlauf kennt nur ein einziges Mal solche selbstvergessene Entspannung, dies Glück des Menschen, diese Gefahr des Künstlers. Nur einmal inmitten seiner Pilgerschaft zu sich selbst schenkt sich seine ungenügsame Seele Rast, sechzehn Jahre innerhalb eines dreiundachtzigjährigen Daseins; einzig die Zeit von seiner Vermählung bis zum Abschluß der beiden Romane »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« lebt Tolstoi mit sich und seinem Werke in Frieden. Dreizehn Jahre (1865 bis 1878) verstummt auch das Tagebuch, dieser Büttel seines Gewissens, Tolstoi, der Glückliche, in sein Werk Verlorene, beobachtet nicht sich mehr, sondern einzig die Welt. Er fragt nicht, weil er zeugt, sieben Kinder und die zwei mächtigsten epischen Werke: damals und nur damals allein lebt Tolstoi wie alle andern Sorglosen im bürgerlich ehrenhaften Egoismus der Familie, glücklich, zufrieden, weil von der »schrecklichen Frage nach dem Warum« befreit. »Ich grüble nicht mehr über meine Lage (alles Grübeln ist vorbei) und wühle nicht mehr in meinen Empfindungen – in den Beziehungen zu meiner Familie fühle ich nur und reflektiere nicht. Dieser Zustand gewährt mir außerordentlich viel geistige Freiheit.« Die Selbstbeschäftigung hemmt nicht das innerlich strömende Gestalten, der unerbittliche Wachtposten vor dem moralischen Ich tritt schläfernd zurück und läßt dem Künstler freie Bewegung, vollsinnliches Spiel. Er wird berühmt in jenen Jahren, Leo Tolstoi, er vervierfacht sein Vermögen, er erzieht seine Kinder und weitet sein Haus, aber sich am Glück zu befriedigen, am Ruhm sich zu sättigen, an Reichtum sich zu mästen, ist diesem moralischen Genie auf die Dauer nicht erlaubt. Von jeder Gestaltung wird er immer zurückkehren zu seinem ureigentlichen Werke der vollkommenen Selbstgestaltung, und da kein Gott ihn aufruft in der Not, wird er selbst ihr entgegengehen. Da kein Außen ihm ein Schicksal schenkt, wird er sich von innen seine Tragik erschaffen. Denn immer will sich das Leben – und wie erst ein so gewaltiges! – in der Schwebe halten. Setzt weltseitig der Zustrom des Schicksals aus, so höhlt von innen der Geist sich neue springende Quelle, damit der Kreislauf des Daseins nicht versiege. Was Tolstoi in der Nähe des fünfzigsten Jahres erfährt, seinen Zeitgenossen zu unerklärbarer Überraschung, nämlich seine plötzliche Abkehr von der Kunst, seine Hinwendung auf das Religiöse, dieses Phänomen betrachte man durchaus nicht als außerordentliches – vergebens sucht man nach einer Anormalität in der Entwicklung dieses allergesündesten Menschen – außerordentlich entäußert sich daran nur, wie immer bei Tolstoi, die Vehemenz der Empfindung. Denn die Umschaltung, die Tolstoi im fünfzigsten Jahre seines Lebens vornimmt, veranschaulicht nichts anderes als einen Vorgang, der dank geringerer Plastizität bei den meisten Männern unsichtbar bleibt: die unvermeidliche Anpassung des leibgeistigen Organismus an das nahende Alter, das Klimakterium des Künstlers.

      »Das Leben blieb stehen und wurde unheimlich«, so formuliert er selbst den Anfang seiner Seelenkrise. Der Fünfzigjährige hat jenen kritischen Punkt erreicht, wo die produktive Formkraft des Plasmas nachzulassen beginnt und die Seele droht, in Erstarrung überzugehen. Nicht mehr so bildnerisch drängen die Sinne, die Farbkraft der Eindrücke verblaßt wie jene des eigenen Haares, jene zweite Epoche beginnt, die gleichfalls uns von Goethe vertraute, da das warme Sinnenspiel sich zur Kelter der Begriffe sublimiert, Gegenstand zur Erscheinung, Bildnis zum Symbol wird. Wie jede profunde Verwandlung des Geistes leitet auch hier zunächst ein leises Unbehagen des Leibes solche Umgeburt ein. Eine geistige Kälteangst, eine entsetzliche Verarmungsfurcht schauert jählings über die beunruhigte Seele, und der feinnervige Seismograph des Körpers verzeichnet sofort herannahende Erschütterung (die mystischen Krankheiten Goethes bei jeder Verwandlung!). Aber – und hier betreten wir kaum durchlichtetes Gebiet – indes die Seele diesen Angriff vom Dunkel her noch nicht zu deuten weiß, hat im Organismus schon selbsttätig die Gegenwehr begonnen, eine Umstellung im Psycho-Physischen, ohne Wissen, ohne Willen des Menschen, aus der undurchdringlichen Vorsorge der Natur. Denn genau wie den Tieren noch lange vor dem Kälteeinbruch plötzlich ein warmes Winterhaar um den Leib sich legt, so wächst auch der menschlichen Seele im Zeitpunkt des ersten Altersüberganges, kaum daß der Zenit überschritten, ein neues geistiges Schutzkleid, eine dichte, defensive Deckhülle. Diese profunde Umstellung vom Sinnlichen ins Geistige, ausgehend vielleicht vom Zellwerk der Drüsen und hinvibrierend bis in die letzten Schwingungen schöpferischer Produktion, diese klimakterische Epoche formt sich als seelische Erschütterung genauso blutbedingt und krisenhaft wie die Pubertät selbst aus, wenn auch – heran, ihr Psychoanalytiker und Psychologen! – kaum in den körperlichen Grundspuren erlauscht, geschweige denn in den geistigen beobachtet. Bei den Frauen bestenfalls, wo das Phänomen der Geschlechtsrückbildung gröber und klinischer in beinahe greifbaren Formen zutage tritt, mögen einzelne Beobachtungen gesammelt sein; vollkommen unerforscht dagegen harrt noch die mehr geistige der männlichen Umschaltung und ihre seelischen Konsequenzen der psychologischen Durchlichtung. Denn das Mannesklimakterium ist fast einhellig die Lieblingszeit der großen Konversionen, der religiösen, der dichterischen und verstandesmäßigen Sublimierungen, Schutzkleid sie alle um das schwächer durchblutete Sein, geistiger Ersatz für verminderte Sinnlichkeit, verstärktes Weltgefühl für abklingendes Selbstgefühl, verebbende Lebenspotenz. Vollkommen komplementär der Pubertät, gleich lebensgefährlich bei den Gefährdeten, gleich vehement bei den Vehementen, gleich produktiv bei den Produktiven, leitet solcherart das Mannesklimakterium eine andersfarbige schöpferische Seelenepoche ein, einen neuen geistigen Johannestrieb zwischen Aufstieg und Niederstieg. Bei jedem bedeutenden Künstler begegnen wir diesem unausweichlichen Krisenaugenblick, bei keinem freilich mit solch erdaufwühlender, vulkanischer und beinahe vernichtender Impetuosität wie bei Tolstoi. Vom realen Raum aus betrachtet, von bequemer Objektivität her, geschieht ja Tolstoi in seinem fünfzigsten Jahr eigentlich nichts anderes als das Altersgemäße: eben, daß er sich altern fühlt. Das ist alles, sein ganzes Erlebnis. Ein paar Zähne fallen aus, das Gedächtnis dunkelt ab, manchmal schatten Mattigkeiten in die Gedanken: alltägliches Phänomen eines Fünfzigjährigen. Aber Tolstoi, dieser Vollmensch, diese nur im Strömen und Überströmen erfüllte Natur fühlt sich bei dem ersten Anhauch von Herbstlichkeit sofort schon welk und todesreif. Er vermeint, »nicht mehr leben zu können, wenn man nicht trunken ist vom Leben«; eine neurasthenische Depression, eine ratlose Verstörung überkommt den übergesunden Mann. Er kann nicht schreiben, er kann nicht denken – »Ich schlafe geistig und kann nicht aufwachen, mir ist nicht wohl, ich bin mutlos« –; wie eine Kette schleppt er »die langweilige und platte Anna Karenina« zu Ende, sein Haar färbt sich plötzlich grau, Falten zerschneiden die Stirn, der Magen revoltiert, die Gelenke werden schwach. Stumpf brütet er vor sich hin und sagt, »daß ihn nichts mehr freue, daß vom Leben nichts mehr zu erwarten sei, daß er bald sterben werde«, er »strebt mit allen Kräften fort vom Leben«, und knapp hintereinander verzeichnet das Tagebuch die zwei schneidenden Eintragungen »Todesfurcht« und dann wenige Tage später »Il faudra mourir seul«. Tod aber – ich habe es in der Darstellung seiner Vitalität auszuführen versucht – bedeutet diesem Lebensriesen den schrecklichsten aller Schreckgedanken, darum schauert er sofort zusammen, sobald nur ein paar Nähte seines ungeheuren Bündels Kraft sich zu lockern scheinen.

      Allerdings, der geniale Selbstdiagnostiker irrt nicht vollkommen, wenn er mit den Nüstern Verhängnis wittert, denn tatsächlich, etwas von dem ursprünglichen Tolstoi stirbt endgültig ab in dieser Krise. Bisher hatte Tolstoi niemals die Welt nach ihrem metaphysischen Sinn gefragt, er hat sie nur betrachtet wie der Künstler sein Modell; folgsam hatte sie sich ihm gegenübergestellt, wenn er ihr Bildnis