Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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jenes beispiellose Material an sinnlicher Substanz zu, das dann die geheimnisvolle Chemie dieses flügellosen Künstlers genauso langsam in Seele umsetzt, wie ein Chemiker ätherische Stoffe aus Pflanzen und Blüten geduldig destilliert. Immer resultiert die ungeheure Einfachheit des Erzählers Tolstoi aus einer ungeheuren und gar nicht nachrechenbaren Vielfalt von Myriaden Einzelbeobachtungen. Wie ein Arzt beginnt er zunächst mit einer Generalaufnahme, einer Inventur aller körperlichen Eigenheiten bei dem einzelnen, ehe er den epischen Destillationsprozeß auf die ganze Welt seiner Romane anwendet. »Sie können sich gar nicht vorstellen«, schreibt er einmal einem Freunde, »wie schwer mir diese vorbereitende Arbeit fällt, die Notwendigkeit, erst einmal das Feld durchzupflügen, auf dem ich dann gesonnen bin zu säen. Es ist furchtbar schwer, zu denken und immer wieder zu überdenken, was sich alles ereignen kann mit allen erst werdenden Personen des in Aussicht genommenen, sehr umfangreichen Werkes. Es ist furchtbar schwer, die Möglichkeiten so vieler Aktionen zu bedenken, um aus diesen dann ein Millionstel zu wählen.« Und da dieser mehr mechanische als visionäre Prozeß bei jeder einzelnen Person sich wiederholt, berechne man, wie viele Staubkörner in dieser Geduldmühle zerrieben und neu gebunden werden müssen. Jede Einzelheit, jeder Mensch resultiert aus tausend Einzelheiten, jede Einzelheit aus weiteren Infinitesimalen, denn mit der kalten und unbeirrbaren Gerechtigkeit einer Vergrößerungslinse durchforscht er jedes charakterologische Symptom. Im Holbein-Stil, Strich am Strich, wird etwa ein Mund gestaltet, die Oberlippe von der Unterlippe abgegrenzt mit all ihren individuellen Anomalien, jedes Zucken der Winkel bei gewissen seelischen Affekten genau notiert, die Art des Lächelns wie der Zornfalte zeichnerisch gemessen. Dann erst wird die Farbe dieser Lippe langsam eingemalt, ihre Fleischigkeit oder Feste mit unsichtbarem Finger angefühlt, das kleine Dunkel von Schnurrbart, der sie umschattet, wissend eingestichelt – dies ergibt jedoch erst die Rohform, die bloß fleischliche der Lippengestaltung, und sie wird ergänzt nun durch ihre charakteristische Funktion, durch die Rhythmik des Sprechens, den typischen Ausdruck der Stimme, die organisch als eine besondere diesem besonderen Mund angeglichen wird. Und so wie eine Lippe, wird im anatomischen Atlas seiner Darstellung Nase, Wange, Kinn und Haar mit einer fast beängstigend genauen Akribie festgestellt, ein Detail mit dem andern auf das genaueste verzahnt, und all diese Beobachtungen, die akustischen, phonetischen, optischen und motorischen, werden im unsichtbaren Laboratorium des Künstlers dann noch einmal gegeneinander ausgewogen. Erst aus dieser phantastischen Summe von Detailbeobachtungen zieht dann der ordnende Künstler die Wurzel, die verwirrende Fülle wird durch das Sieb der auslesenden Wahl gedrückt – so steht einer verschwenderischen Beobachtung eine sehr sparsame Verwertung der Resultate entgegen.

      Denn erst, wenn alles Sinnliche geradezu geometrisch präzise festsitzt, die Physis vollendet, beginnt der Golem, der visuell konstruierte Mensch zu sprechen, zu atmen, zu leben. Immer ist bei Tolstoi die Seele, Psyche, der göttliche Schmetterling in dem tausendmaschigen Netz spinndünner Beobachtungen gefangen. Bei Dostojewski, dem Hellseher, seinem genialen Gegenspieler, setzt die Individuation genau gegenteilig ein: bei der Seele. Ihm ist die Seele das Primäre, und der Körper liegt nur lose und leicht wie ein Insektenkleid um ihren durchleuchtenden feurigen Kern. In den seligsten Sekunden kann sie ihn sogar durchbrennen und aufsteigen, auffliegen in den Äther des Gefühls, in die reine Ekstase. Bei Tolstoi, dem Klarseher, dem Wachkünstler aber kann die Seele niemals fliegen, ja nicht einmal völlig frei atmen, immer bleibt hartschalig und schwer der Körper um die Seele gehängt. Darum können auch die Beschwingtesten seiner Geschöpfe nie auf zu Gott, nie sich ganz aus dem Irdischen schwingen und weltfrei werden; sondern mühsam wie Lastträger, Schritt für Schritt, gleichsam den eigenen Leib auf den Rücken gehängt, steigen sie keuchend Stufe um Stufe zur Heiligung und Reinigung empor, immer wieder ermüdend an ihrer schweren Last und Irdischkeit. Immer sind wir bei diesem flügellosen, humorlosen Künstler daran schmerzhaft erinnert, daß wir auf enger Erde leben und von Tod umgrenzt sind, daß wir nicht fliehen können und nicht entfliehen, daß wir umringt sind media in vita von dem andrängenden Nichts. »Ich wünsche Ihnen mehr geistige Freiheit«, hat einmal seherisch Turgenjew Tolstoi geschrieben. Genau dies wünscht man seinen Menschen, etwas mehr geistige Freiheit, etwas mehr seelische Flugkraft, ein Hinwegkönnen aus dem Sachlichen und Leiblichen oder zumindest ein Träumenkönnen von reineren, klareren Welten.

      Herbstkunst, so möchte man sie darum nennen: jede Kontur hebt sich messerschneideklar und scharf vom hügellosen Horizont russischer Steppe, und der bittere Duft von Welken und Vergängnis drängt von falben Wäldern her. In Tolstois Landschaft fühlt man immer herbstlich: bald wird es Winter sein, bald tritt der Tod in die Natur, bald werden alle Menschen und ebenso der ewige Mensch in uns ausgelebt haben. Eine Welt ohne Traum, ohne Wahn, ohne Lüge, eine furchtbar leere Welt und sogar eine Welt ohne Gott – den erfindet sich Tolstoi erst später aus Lebensräson, wie Kant aus Staatsräson, in seinen Kosmos hinein –, sie hat kein anderes Licht als ihre unerbittliche Wahrheit, nichts als ihre Klarheit, die gleichfalls unerbittliche. Vielleicht drückt bei Dostojewski der Seelenraum zunächst noch düsterer, schwärzer und tragischer als diese ebenmäßige Kalthelligkeit, aber Dostojewski zerschneidet manchmal seine Nächtigkeit mit Blitzen rauschartiger Verzückung, für Sekunden zumindest fahren die Herzen in visionäre Himmel empor. Die Kunst Tolstois dagegen kennt keine Trunkenheit und keinen Trost, sie ist immer bloß heilig-nüchtern, durchsichtig und unberauschend wie Wasser – in alle Tiefen kann man dank ihrer wunderbaren Durchsichtigkeit hinabblicken, aber dies Erkennen tränkt niemals die Seele mit voller Entrückung und Entzückung. Sie macht ernst und nachdenklich wie Wissenschaft mit ihrem steinernen Licht, mit ihrer bohrenden Sachlichkeit, aber sie macht nicht glücklich, die Kunst Tolstois.

      Wie aber hat er selbst, der Wissendste aller, dies Gnadenlose und Ernüchternde seines strengen Augenwerks empfunden, einer Kunst ohne den vergütigenden Goldglanz des Traums, ohne die Gnade der Musik! Und im tiefsten hat er sie niemals geliebt, weil sie weder ihm noch den andern einen beglückenden, bejahenden Sinn des Lebens zu schenken wußte. Denn wie furchtbar hoffnungslos gebärdet sich das ganze Dasein vor dieser unbarmherzigen Pupille: die Seele ein zuckender kleiner Körpermechanismus inmitten der umhüllenden Raumstille des Todes, die Geschichte ein sinnloses Chaos zufallsmäßig fallender Fakten, der fleischerne Mensch ein wandelndes Skelett, für kurze Frist nur in die warme Hülle des Lebens gekleidet, und dies ganze unerklärbar ordnungslose Getriebe zwecklos wie laufendes Wasser oder welkendes Laub. Ist es da wirklich so unverständlich, daß nach dreißig Jahren Schattenbildens Tolstoi plötzlich von seiner Kunst sich abwendet? Daß er sich sehnt nach einer Auswirkung seines Wesens, die jene Schwere entkettet und andern das Leben erleichtert, nach einer Kunst, »die in den Menschen höhere und bessere Gefühle erweckt«? Daß auch er einmal an die silberne Lyra der Hoffnung rühren will, die schon bei leisester Schwingung in der Brust der Menschheit gläubig zu tönen beginnt, daß ihn Heimweh faßt nach einer Kunst, die löst, erlöst von dem dumpfen Druck aller Irdischkeit? Aber vergebens! Die grausam klaren, die wachen und überwachen Augen Tolstois können das Leben, wie es ist, niemals anders als todüberschattet, dunkel und tragödisch erblicken; nie wird unmittelbar von dieser Kunst, die nicht zu lügen weiß und nicht lügen will, ein wahrhafter Seelentrost ausgehen können. So mag dem Alternden der Wunsch erwacht sein, da er das wirkliche reale Leben nicht anders als tragisch zu sehen und darzustellen vermochte, das Leben selbst zu ändern, die Menschen besser zu machen, ihnen Tröstung zu geben durch ein sittliches Ideal. Und tatsächlich, in seiner zweiten Epoche findet Tolstoi, der Künstler, nicht mehr Genüge daran, das Leben einfach darzustellen, sondern er sucht bewußt seiner Kunst einen Sinn, eine ethische Aufgabe, indem er sie in den Dienst der Versittlichung und Erhebung der Seele stellt. Seine Romane, seine Novellen wollen nun nicht bloß mehr die Welt abbilden, sondern neubilden und »erzieherisch« wirken; in jener Epoche beginnt Tolstoi eine besondere Art Kunstwerke, die »ansteckende« werden wollen, das heißt, den Leser durch Beispiele vor dem Unrecht warnen, durch Vorbilder im Guten bestärken; der spätere Tolstoi erhebt sich aus dem bloßen Dichter des Lebens zum Richter des Lebens.

      Diese zweckmäßige doktrinäre Tendenz macht sich schon in der »Anna Karenina« bemerklich. Bereits hier sind die Sittlichen und Unsittlichen im Schicksal voneinander geschieden. Wronski und Anna, die Sinnenmenschen, die Ungläubigen, die Egoisten ihrer Leidenschaft werden »bestraft« und in die Fegefeuer der Seelenunruhe geworfen, Kitty und Lewin dagegen erhoben in die Läuterungen; zum erstenmal versucht hier der bislang unbestechliche Darsteller Partei zu nehmen für oder gegen seine eigenen