Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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angetastet werden, denn gerade die Vehemenz ihres Rückschlags macht jede Emotion zur Gefahr. Darum fürchtet er (ganz wie Goethe, wie Plato) die Musik, denn sie erregt zu stark die geheimnisvoll tiefe Woge seines Gefühls. »Musik wirkt furchtbar auf mich«, bekennt er, und wirklich, indes seine Familie freundlich zuhörend um das Klavier sitzt, beginnt es unheimlich um seine Nüstern zu zucken; die Brauen ziehen sich abwehrend zusammen, er empfindet »einen sonderbaren Druck im Halse« – und plötzlich wendet er sich brüsk ab und geht zur Tür hinaus, denn die Tränen strömen ihm über. »Que me veut cette musique«, sagt er einmal, ganz erschrocken von seiner eigenen Überwältigung. Ja, er spürt, sie will etwas von ihm, sie droht etwas aus ihm herauszuholen, das er entschlossen ist nie herzugeben; etwas, was er versteckt hält ganz unten im Geheimschrank der Gefühle, und nun quillt das auf in mächtiger Gärung und droht die Dämme zu überschwellen. Irgendein Übergewaltiges, vor dessen Kraft und Übermaß er sich fürchtet, beginnt sich zu regen, widerwillig spürt er sich tief innen, ganz tief innen, von der Woge der Sinnlichkeit angefaßt und in abwegige Strömung gerissen. Er aber haßt (oder er fürchtet) um eines wahrscheinlich nur ihm bekannten Übermaßes willen die eigene Blutüberfüllung: darum verfolgt er ja auch »das« Weib mit einem für einen gesunden Menschen unnatürlichen, anachoretischen Haß. »Unschädlich« erscheint die Frau ihm nur, »solange sie von den Aufgaben der Mutterschaft erfüllt ist, im Stande der Sittsamkeit oder in der Vénérabilité des Alters« – also jenseits der Geschlechtlichkeit, die er »als eine schwere Schuld des Leibes sein ganzes Leben empfunden hat«. Das Weib wie die Musik bedeuten diesem Antigriechen, diesem künstlichen Christen, diesem Gewaltmönch das Böse schlechthin, weil beide durch Sinnlichkeit »von den uns angeborenen Eigenschaften des Mutes, der Entschlossenheit, der Vernunft, des Gerechtigkeitsgefühls« ablenken, weil sie uns, wie Pater Tolstoi später predigen wird, »zur Sünde der Fleischlichkeit« führen. Auch die Frauen »wollen etwas von ihm«, das er sich herzugeben weigert; auch sie rühren an etwas Gefährliches, das er aufzuwecken sich fürchtet – und was, dies zu erraten, gehört nicht viel Geist: an seine eigene ungeheuerliche Sinnlichkeit. Musik – da lockert sich das Band des Willens: schon reckt »das Tier« sich auf. Die Frauen – schon röhrt das blutgierige Geheul der Meute und rüttelt an den eisernen Gitterstäben. Nur an Tolstois rasender Mönchsangst, an seinem zelotischen Schauer selbst vor der gesundheiteren, nackt-natürlichen Sinnlichkeit kann man die verborgen panische Männischkeit, die Tiermenschenbrunst in ihm ahnen, die in der Jugend sich noch frei in wildesten Exzessen austobte – einen »unermüdlichen Hurer« nennt er sich Tschechow gegenüber –, um dann gewalttätig durch fünfzig Jahre in Kellergewölben vermauert zu bleiben, vermauert, aber nicht begraben; daß dieses Übergesunden Sinnlichkeit lebenslang ein Übermaß blieb, hat in seinem streng sittlichen Werk nur eines verraten: eben diese seine Angst, seine wüstenväterische, überchristliche, gewaltsam die Augen wegdrehende, polternde Angst vor »dem Weibe«, vor der Versucherin – in Wahrheit aber vor dem eigenen und anscheinend maßlosen Gelüst.

      Immer fühlt man das und überall: vor nichts fürchtet sich Tolstoi mehr als vor sich selbst, vor seiner Bärenkraft. Dem manchmal trunkenen Glück über seine Übergesundheit schattet unaufhaltsam ein Grauen vor dem Tierisch-Hemmungslosen der Sinne nach. Gewiß hat er sie gebändigt wie kein zweiter, aber er weiß: man ist nicht ungestraft Russe, also Volksmensch des Übermaßes, Fanatiker der Exzesse, Knecht der Extreme. Darum müdet seine Willensklugheit den eigenen Körper nieder, darum beschäftigt er ständig die Sinne, läßt sie auslaufen, gibt ihnen ungefährliche Spiele, Luftfutter und Lustfutter. Er rackert die Muskeln ab durch berserkerische Anstrengung mit Sense und Pflug, macht sie matt durch gymnastische Spiele; um sie zu entgiften, sie unschädlich zu machen, drängt er seine Kraftgefahren aus dem privaten Leben hinaus in die Natur, und dort entströmt dann überschwenglich, was im Binnendasein der Wille energisch verhält. Seiner Leidenschaften Leidenschaft war darum die Jagd: da können alle Sinne sich ausschwelgen, die hellen wie die dunklen. Der vorapostolische Tolstoi berauscht sich am schweißigen Geruch der Pferde, an der Aufregung tollkühnen Reitens, des nervenspannenden Hetzens und Zielens, an der Angst sogar (unfaßbar dies für den späteren Mitleidsfanatiker), an der Qual des niedergerissenen, blutigen, mit brechenden Augen aufstarrenden Wilds. »Ich empfinde ein wahrhaftes Wonnegefühl bei dem Leiden des verendenden Tieres«, gesteht er, als er einem Wolf mit wuchtigem Stockhieb den Schädel einschmettert, und bei diesem triumphierenden Aufschrei der Blutlust ahnt man erst alle die brutalen Instinkte, die er ein Leben lang (außer in den tollwütigen Jahren der Jugend) in sich niedergehalten hat. Noch zur Zeit, da er aus moralischer Überzeugung der Jagd längst entsagt hat, zucken ihm immer unwillkürlich die Hände schußgierig auf, wenn er einen Hasen im Felde aufspringen sieht. Aber er zwingt diese wie jede andere Lust beharrlich entschlossen nieder; schließlich begnügt seine sinnliche Freude am Körperlichen sich mit dem bloßen Anschauen und Nachbilden des Lebendigen – aber welch eine vehemente und wissende Freude noch immer! Glückseliges Lachen schiebt ihm jedesmal breit die Lippen auseinander, wenn er an einem schönen Pferde vorbeikommt; beinahe wollüstig klopft und tätschelt er ihm den warmen seidigen Bug und läßt sich voll die pochende tierische Wärme in die Finger gleiten: alles rein Animalische begeistert ihn. Er kann stundenlang mit verzückten Augen den Tanz junger Mädchen nur um der Anmut der gelockerten Leiber willen betrachten; und wenn ihm ein schöner Mann, eine Frau begegnet, so bleibt er stehen, vergißt sich im Gespräch, nur um sie besser anzustaunen und begeistert auszurufen: »Wie wunderbar ist es doch, wenn der Mensch schön ist!« Denn er liebt den Körper als das Gefäß des lebendigen Lebens, als fühlende Fläche des Lichts, als Hülle des heiß strömenden Blutes, er liebt ihn in all seiner warm wogenden Fleischlichkeit als den Sinn und die Seele des Lebens.

      Ja, er liebt als der leidenschaftlichste Animalist der Literatur seinen Körper wie der Künstler sein Instrument; er liebt den Leib als die naturhafteste Form des Menschen und sich selbst in seinem elementaren Körper mehr als in seiner brüchigen und doppelzüngigen Seele. Er liebt ihn in allen Formen und Zeiten von Anfang bis zu Ende, und der erste Bewußtseinsbericht dieser autoerotischen Leidenschaft reicht – kein Schreibfehler dies! – zurück bis in sein zweites Lebensjahr! In das zweite Lebensjahr – dies will betont sein, damit man begreift, wie kieselhell und linienscharf bei Tolstoi jede Erinnerung unter dem Geström der Zeit sichtbar bleibt. Während Goethe und Stendhal kaum bis zum siebenten oder achten Jahre sich deutlich zurückbesinnen, empfindet Tolstoi als Zweijähriger schon mit genauso konzentrisch gesammelter Vielfalt aller Sinne wie der spätere Künstler. Man lese diese Schilderung seines ersten Körperempfindens: »Ich sitze in einer Holzbadewanne, ganz eingehüllt in den mir neuen, aber nicht unangenehmen Geruch einer Flüssigkeit, mit der man meinen Körper reibt. Es wird wohl Kleienwasser gewesen sein, das ich höchstwahrscheinlich bekam; die Neuheit des Eindrucks wirkt auf mich, und ich bemerke zum erstenmal wohlgefällig meinen kleinen Körper mit den vorn an der Brust sichtbaren Rippen und die glatten dunklen Wangen, die aufgestreckten Ärmel meiner Pflegerin und auch das warme, dampfende Kleienwasser und seinen Geruch, am stärksten aber das Gefühl der Glätte, das die Wanne in mir hervorrief, sooft ich mit meiner kleinen Hand darüberfuhr.«

      Nachdem man dies gelesen, zerlege und ordne man diese Kindheitserinnerungen nach ihren sensuellen Zonen, um die universelle Wachheit der Sinne richtig zu bestaunen, mit der Tolstoi schon in der winzigen Larve des Zweijährigen die Umwelt erfaßt: er sieht die Wärterin, er riecht die Kleie, er unterscheidet schon den neuartigen Eindruck, er fühlt die Wärme des Wassers, er hört das Geräusch, er tastet die Glätte der Holzwand, und all diese gleichzeitigen Wahrnehmungen der verschiedenen Nervenstränge münden in die einmütig »wohlgefällige« Selbstbetrachtung des Körpers als der einzig fühlsamen Fläche aller Lebensempfindungen. Dann begreift man, wie früh hier Saugnäpfe der Sinne sich schon an das Dasein anklammern, wie mächtig und wie präzise bewußt der vielfältige Eindrang der Welt bei dem Kinde Tolstoi sich bereits in deutliche Impressionen umsetzt, und mag nun ermessen, wie erst der Erwachsene jeden Eindruck subtilisieren und andererseits steigern wird. Da wird dies kleine spielhaft-kindische Wohlbehagen an dem winzigen Eigenleib in der engen Wanne sich notwendig ausweiten zu einer wilden und beinahe wütigen Daseinslust, die genau wie das Kind Außen und Innen, Welt und Ich, Natur und Leben vermengt in ein einziges hymnisches Rauschgefühl. Und tatsächlich, dieser Rausch der Identität mit dem All überkommt den Vollerwachsenen manchmal wie eine große Trunkenheit; man lese nur, wie der schwere Mann sich manchmal