Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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einmal seine Empfindung getroffen war, übernimmt Stendhal die Garantie für sachliche Wahrhaftigkeit; ausdrücklich »protestiert« er in einem seiner Werke »er vermesse sich niemals, die Realität der Dinge zu schildern, sondern einzig den Eindruck, den sie ihm hinterließen« (»je ne prétends pas peindre les choses en elles-mêmes, mais seulement leur effet sur moi«). Nichts beweist also deutlicher, daß für Stendhal die Geschehnisse an sich, »les choses en elles-mêmes«, gar nicht existent werden, sondern nur insoweit, als sie sich in Seelenerregung auswirken: dann freilich setzt dies absolut einseitige Gefühlsgedächtnis mit einer Schärfe ohnegleichen ein, und der vollkommen unsicher ist, ob er Napoleon jemals gesprochen, und nicht weiß, ob er sich an den Übergang über den Großen Sankt Bernhard wirklich erinnert oder bloß an einen Kupferstich, ebenderselbe Stendhal erinnert sich der flüchtigen Geste einer Frau, eines Tonfalls, einer Bewegung mit Diamantklarheit, insofern er einmal innerlich von ihr erregt gewesen. Überall, wo das Gefühl unbeteiligt blieb, lagern reglose dunkle Nebelschichten oft über Jahrzehnte – und sonderbarer noch, auch wo das Gefühl wiederum allzu vehement einsetzte, auch da ist bei Stendhal das Erinnerungsvermögen zerstört. Hundertemal und gerade in den spannendsten Augenblicken seines Lebens (bei der Schilderung des Alpenüberganges, der Reise nach Paris, der ersten Liebesnacht) wiederholt er die Feststellung: »Ich habe daran keine Erinnerung mehr, die Empfindung war zu vehement.« Außerhalb dieser also eng begrenzten Gefühlssphäre ist Stendhals Gedächtnis (und damit auch seine Künstlerschaft) niemals einwandfrei: »Je ne retiens que ce qui est peinture humaine. Hors de là je suis nul«: einzig seelenbetonte Eindrücke halten bei Stendhal dem Vergessen stand. Darum vermag dieser entschiedenste Egozentriker selbstbiographisch niemals Weltzeuge zu sein; er kann sich eigentlich nicht zurück denken, er kann sich nur zurück fühlen. Auf dem Umweg über den Reflex in seiner Seele – nicht also direkt – rekonstruiert er sich den tatsächlichen Ablauf »il invente sa vie«: statt zu finden, erfindet, erdichtet er sich die Tatsachen aus der Erinnerung des Gefühls. So eignet seiner Selbstbiographie etwas Romanhaftes sowie seinen Romanen etwas Selbstdarstellerisches; man erwarte sich nie von ihm eine so rundumschlossene Darstellung seiner Eigenwelt, wie etwa Goethe sie in »Dichtung und Wahrheit« gegeben. Auch als Autobiograph muß Stendhal naturgemäß Fragmentariker, Impressionist sein. Tatsächlich beginnt er sein Selbstbildnis nur mit lockern, zufälligen Strichen und Notizen in jenem »Journal«, seinem durch Jahrzehnte fortgeführten Tagebuch, das er selbstverständlich nur zum Eigengebrauch bestimmt. Nur notieren zunächst, nur festhalten die kleinen Erregungen, solange sie noch heiß sind, solange sie in der Hand unruhig pochen wie das Herz eines gefangenen Vogels! Nur sie nicht wegflattern lassen, alles haschen und halten, nicht dem Gedächtnis vertrauen, diesem unruhigen Fluß, der alles in seinem Laufe verschiebt und verströmt! Nicht sich scheuen, Belangloses, bloßes Kinderspielzeug der Sinne, kunterbunt in die große Truhe zu schichten: wer weiß, vielleicht beugt der Erwachsene sich gerade am liebsten über das Kuriose und Banale seines verschollenen Herzens. Darum ist es ein genialer Instinkt, der den Jüngling diese kleinen Blitzbilder des Gefühls sorgfältig sammeln und bewahren läßt; der gereifte Mann, der gelernte Psychologe, der überlegene Künstler wird sie später dankbar und kennerisch einordnen in das große Gemälde seiner Jugendgeschichte, jener Autobiographie, die er »Henri Brulard« nennt, diesen wunderbaren und romantischen Spätblick auf seine Kindheit.

      Denn spät erst wie seine Romane unternimmt Stendhal den geistigen Aufbau seiner Jugend in bewußtem, autobiographischem Werke. Auf den Stufen von San Pietro in Montorio in Rom sitzt ein alternder Mann und sinnt über sein Leben nach. Ein paar Monate noch und er wird fünfzig Jahre sein: vorbei, endgültig vorbei die Jugend, die Frauen, die Liebe. Nun wäre es wohl an der Zeit, zu fragen: »Wer war ich? Wer bin ich gewesen?« Vorbei die Zeit, da das Herz sich durchforschte, um bereiter, schlagkräftiger zu werden für Aufschwung und Abenteuer: nun verlangt die Stunde schon, ein Fazit zu ziehen, zurückzuschauen. Und abends, kaum daß Stendhal von der Abendgesellschaft beim Gesandten gelangweilt zurückkehrt (gelangweilt, denn man erobert keine Frauen mehr und ist müde geworden alles lockern Konversierens), beschließt er plötzlich: »Ich muß mein Leben aufschreiben! Und wenn das getan ist, in zwei oder drei Jahren, werde ich vielleicht endlich wissen, wie ich gewesen: heiter oder melancholisch, geistreich oder ein Dummkopf, mutig oder feig, und vor allem ein Glücklicher oder ein Unglücklicher.«

      Ein leichter Vorsatz, eine gewaltige Aufgabe! Denn Stendhal hat sich vorgenommen, in diesem »Henri Brulard« (den er in Chiffren niederschreibt, um sich allfälligen Neugierigen unkenntlich zu machen) »simplement vrai«, »einfach wahr« zu sein; aber wie schwer ist, er weiß es, das Wahrsein, dies Wahrbleiben wider sich selbst! Wie sich zurechtfinden in dem schattenhaften Labyrinth der Vergangenheit, wie unterscheiden zwischen Irrlicht und Licht, wie den Lügen entkommen, die verlarvt hinter jeder Windung des Weges zudringlich warten! Stendhal, der Psychologe, erfindet da – erstmalig und vielleicht als einziger eine geniale Methode, von der Falschmünzerei der allzu gefälligen Erinnerung sich nicht prellen zu lassen, nämlich mit fliegender Feder zu schreiben, nicht nachzulesen, nicht nachzudenken (»je prends pour principe, de ne pas me gêner et d’effacer jamais«). Die Scham, die Bedenken also einfach überrennen; überraschend aus sich hervorbrechen mit seinen Geständnissen, ehe der Selbstrichter, der Zensor innen aufwacht. Nicht malerisch arbeiten, sondern wie ein Momentphotograph! Immer die urtümliche Wallung in ihrer charakteristischen Bewegung festhalten, ehe sie eine künstliche theatralische Pose annimmt. Stendhal schreibt seine Selbsterinnerungen mit fliegender Feder, in einem Ruck, und tatsächlich, ohne jemals die Blätter wieder zu überlesen, um Stil, um Einheitlichkeit, um methodische Plastik so vollkommen unbekümmert, als wäre das Ganze nur ein Privatbrief an seinen Freund: »J’écris ceci sans mentir, j’espère sans me faire illusion, avec plaisir comme une lettre à un ami.« An diesem Satz ist jedes Wort wichtig: Stendhal schreibt seine Selbstdarstellung, »wie er hofft«, wahrhaft, »ohne sich Illusionen zu machen«, »mit Vergnügen«, und »wie einen Privatbrief«, und dies, »um nicht kunsthaft zu lügen wie Jean-Jacques Rousseau«. Bewußt opfert er die Schönheit seiner Memoiren der Aufrichtigkeit, die Kunst der Psychologie.

      In der Tat, rein artistisch gesehen, bedeutet der »Henri Brulard«, ebenso wie seine Fortsetzung, die »Souvenirs d’un égotiste« eine dubiose Kunstleistung: dazu sind beide zu eilfertig, zu lässig, zu planlos hingespritzt. Was Stendhal an Erinnerungsfakten gerade in die Finger kommt, wirft er blitzschnell in das Buch hinein, gleichgültig, ob sie an jene Stelle hinpassen oder nicht. Genau wie in seinen Notizbüchern nachbart das Sublimste mit dem Seichtesten, abwegige Allgemeinheiten mit den intimsten Personalien. Aber gerade diese Ungezwungenheit, dies Sicherzählen in Hemdsärmeln verrät allerhand Aufrichtigkeiten, von denen jede einzelne seelendokumentarischer wirkt als sonst ein Folioband. Geständnisse jener entscheidenden Art wie das berüchtigte über seine gefährliche Neigung zur Mutter, den tierischen tödlichen Haß gegen den Vater, solche bei andern feig in die Winkel des Unterbewußtseins verkrochene Augenblicke wagen sich nicht heraus, sobald ein Zensor Zeit hat, sie zu überwachen: diese intimsten Dinge sind – man kann es nicht anders sagen – durchgepascht in der Sekunde absichtsvoll erzwungener moralischer Unachtsamkeit. Nur durch dieses geniale Psychologensystem, daß Stendhal seinen Empfindungen niemals Zeit läßt, sich auf »schön« oder »moralisch« zu frisieren, hat er sie wirklich gepackt, wo sie am kitzligsten sind, wo sie anderen, Plumperen, Langsameren aufschreiend wegspringen: nackt, vollkommen seelennackt und noch völlig schamlos stehen diese ertappten Sünden und Sonderlichkeiten plötzlich auf glattem Papier und starren zum erstenmal Menschenblicken in die Augen. Welch wunderbare, tragisch wilde Beängstigungen, welche dämonisch urmächtigen Zorngefühle brechen da aus einem winzigen Kinderherzen auf! Kann man die Szene vergessen, wie der kleine Henri, als die ihm verhaßte Tante Seraphie stirbt (»einer der beiden Teufel, die auf meine arme Kindheit losgelassen waren« – der andere war der Vater), wie das verbitterte, ureinsame Kind »in die Knie fällt und Gott dankt«. Und knapp daneben (bei Stendhal verschränken sich die Gefühle labyrinthisch vielfältig) jene kleine Bemerkung, daß selbst dieser Teufel einmal die erotische Frühreife des Kindes eine (genau beschriebene) Sekunde lang reizte. Kaum hat man jemals vor Stendhal gespürt, wie vielfach der Mensch geschichtet ist, wie das Konträrste und Widerspaltigste an den äußersten Nervenenden sich berührt, wie schon die unflügge Kinderseele das Gemeine und das Erhabenste, Brutalität und Zartheit in ganz dünnen Lagen, Blatt über Blatt zusammengefaltet enthält; und gerade mit diesen ganz zufälligen achtlosen Entdeckungen