Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


Скачать книгу

zum seelischen Bestandteil seines Lebens und damit die ursprüngliche Angst »gleich Null« – »man braucht nicht über ihn nachzudenken, man muß ihn aber immer vor sich sehen. Das ganze Leben wird dann festlicher, wichtiger und wahrhaft fruchtbarer und freudiger«. Aus der Not ist eine Tugend geworden – Tolstoi hat (ewige Rettung des Künstlers!) seine Angst überwunden, indem er sie objektiviert; er hat den Tod und die Todesangst von sich weg entfernt, indem er sie in andere, in seine Geschöpfe hineingestaltet. So wird, was anfangs vernichtend schien, nur Vertiefung des Lebens und höchst unerwarteterweise die großartigste Steigerung seiner Kunst: dank seiner angstvollen Durchforschung, des tausendmaligen Voraussterbens in der Phantasie, wird gerade dieser leidenschaftlichste Vitalist zum wissendsten Darsteller des Sterbens, zum Meister aller, die jemals den Tod gebildet. Angst, immer ist sie, die der Wirklichkeit vorauseilende, sie, die phantasiebeflügelte, immer ist sie ja schöpferischer als das stumpfe und dumpfe Gesundsein – wie aber erst eine so schauernde, panische, jahrzehntelang wache Urangst, der heilige Horror und Stupor eines Gewaltigen! Ihr zum Dank kennt Tolstoi alle Symptome des leiblichen Verlöschens, jeden Zug, jedes Zeichen, den der Grabstichel des Thanatos einzeichnet in das vergehende Fleisch, jeden Schauer und Schreck der versinkenden Seele: mächtig fühlt der Künstler sich angerufen von dem eigenen Wissen. Das Sterben des Iwan Iljitsch mit seinem gräßlich heulenden »Ich will nicht«, »Ich will nicht«, das erbärmliche Verlöschen von Lewins Bruder, die vielfältigen Lebensloslösungen in den Romanen, die »Drei Tode« – all dieses hinabgebeugte Lauschen über den äußersten Rand des Bewußtseins, Tolstois größte psychologische Leistungen, undenkbar wären sie ohne jenes katastrophale Erschüttertsein, diese Durch-und-durch-Aufgewühltheit selbsterlittenen Grausens; um diese hundert Tode zu schildern, mußte Tolstoi seinen eigenen Tod bis in die feinsten Faserungen des Gedankens hundertmal in der zerrütteten Seele vorgelebt, nachgelebt, mitgelebt haben: nur die vorahnende Angst hat seine Kunst vom Flächigen, vom bloßen Anschauen und Abmalen der Realität, in die Tiefe des Wissens getrieben; nur sie hat ihn nach rubens-sinnlicher Wirklichkeitsfülle auch dies von innen vorbrechende, gleichsam metaphysische Rembrandt-Licht inmitten der tragischen Verschattung gelehrt. Einzig, weil Tolstoi den Tod vehementer als alle inmitten des Lebens vorausgelebt, hat er ihn wie kein zweiter für uns alle lebendig gemacht.

      Jede Krise ist ein Geschenk des Schicksals an den schaffenden Menschen: so entsteht, genau wie in Tolstois Kunst, auch in seiner weltgeistigen Haltung schließlich ein neues und höheres Gleichmaß. Die Gegensätze durchdringen einander, der furchtbare Streit der Lebenslust mit ihrem tragischen Widerpart weicht einer weisen und harmonischen Verständigung. Ganz im Sinne Spinozas ruht das endlich beruhigte Gefühl in reiner Schwebe zwischen Furcht und Hoffnung der letzten Stunde: »Es ist nicht gut, sich vor dem Tode zu fürchten; es ist nicht gut, ihn zu wünschen. Man muß den Waagbalken so stellen, daß der Zeiger gerade steht und keine Schale überwiegt: das sind die besten Bedingungen des Lebens.«

      Die tragische Dissonanz ist endlich harmonisiert. Der Greis Tolstoi hat keinen Haß mehr wider den Tod und keine Ungeduld ihm entgegen; er flieht ihn nicht mehr, er bekämpft ihn nicht mehr: er träumt ihn bloß in linden Meditationen, wie ein Künstler ahnend plant an unsichtbar schon gegenwärtigem Werke. Und gerade die letzte, die lang gefürchtete Stunde schenkt ihm darum vollendete Gnade: ein Sterben, groß wie sein Leben, das Werk seiner Werke.

      Der Künstler

       Inhaltsverzeichnis

       Es gibt kein wahres Vergnügen außer jenem, das dem Schaffen entspringt. Man kann Bleistifte, Stiefel, Brot und Kinder, das heißt Menschen erzeugen, ohne Schaffen gibt es kein wahres Vergnügen, keines, das nicht mit Angst, Leid, Gewissensbissen und Scham verbunden wäre.

      Brief

      Jedes Kunstwerk erreicht erst dann die höchste seiner Stufen, sobald man sein künstliches Gewordensein vergißt und sein Dasein als Wirklichkeit empfindet. Bei Tolstoi ist diese erhabene Täuschung oftmals vollendet. Nie wagt man, so sinnlich wahrhaft treten sie an uns heran, zu vermuten, diese Erzählungen seien erfabelt, ihre Gestalten erfunden. Ihn lesend, meint man nichts anderes getan zu haben, als durch ein offenes Fenster in die reale Welt hineinzusehen.

      Gäbe es darum nur Künstler von Tolstois Art, so ließe man sich leicht zu der Meinung verleiten, Kunst sei etwas ungemein Einfaches, Dichten nichts anderes als ein genaues Nacherzählen der Wirklichkeit, ein Durchpausen ohne höhere geistige Mühe, und man benötige dazu seinem eigenen Wort gemäß »nur eine negative Eigenschaft: nicht zu lügen«. Denn mit einer überwältigenden Selbstverständlichkeit, der naiven Natürlichkeit einer Landschaft, steht rauschend und reich dieses Werk vor unseren Blicken, noch einmal Natur, so wahrhaft wie die andere. Alle jene geheimnisvollen Mächte des Furors, der gebärenden Brunst, der phosphoreszierenden Visionen scheinen in Tolstois Epik überflüssig und abwesend: kein trunkener Dämon, sondern ein nüchterner klarer Mann, so meint man, habe durch sein bloß sachliches Anschauen, durch beharrliches Nachzeichnen anstrengungslos ein Duplikat der Wirklichkeit angefertigt.

      Aber hier betrügt eben die Vollkommenheit des Künstlers den dankbar genießenden Sinn, denn was wäre schwieriger als Wahrheit, was mühsamer als Klarheit? Die Urschriften bieten Zeugnis, daß Leo Tolstoi durchaus kein mit Leichtigkeit Beschenkter gewesen, sondern einer der erhabensten, geduldigsten Arbeiter, und seine ungeheuren Fresken der Welt sind ein kunst-und mühevolles Mosaik aus unzähligen, kleinfarbigen Steinchen von Millionen minuziöser Einzelbeobachtungen. Siebenmal ist das ungeheure zweitausendseitige Epos »Krieg und Frieden« abgeschrieben worden, die Skizzen und Notizen dazu füllten hohe Kasten. Jede Kleinigkeit im Historischen, jedes Detail im Sinnlichen ist sorgfältig dokumentiert: um der Schilderung der Schlacht von Borodino sachliche Präzision zu geben, umreitet Tolstoi zwei Tage lang mit der Generalstabskarte das Schlachtfeld, fährt meilenweit mit der Bahn, von irgendeinem noch lebenden Kriegsteilnehmer ein winzig ausschmückendes Detail zu erfahren. Er durchackert alle Bücher, durchstöbert die Bibliotheken, er fordert sogar von adeligen Familien und Archiven verschollene Dokumente und private Briefe ein, nur um noch ein Körnchen Wirklichkeit aufzuraffen. So sammeln sich in Jahren und Jahren die kleinen Quecksilberkügelchen von zehntausend, hunderttausend winzigen Beobachtungen, bis sie allmählich fugenlos ineinanderrinnen, runde, reine, vollkommene Form. Und nun erst nach beendigtem Kampf um die Wahrheit beginnt das Ringen um die Klarheit. Wie Baudelaire, der lyrische Artist, jede Zeile seines Gedichts, so feilt und putzt und poliert, so hämmert und ölt und schmeidigt Tolstoi mit der Fanatik des fehllosen Künstlers seine Prosa. Ein einziger überhängender Satz, ein nicht ganz einschnappendes Adjektiv inmitten des Zehntausend-Seiten-Werkes kann ihn dermaßen beunruhigen, daß er entsetzt der abgesandten Korrektur an den Setzer in Moskau nachtelegraphiert, die Druckmaschinen zu stoppen, damit er den Tonfall jener unzulänglichen Silbe noch abändern könne. Diese erste Druckfassung wird dann abermals zurückgeworfen in die geistige Retorte, noch einmal eingeschmolzen, noch einmal geformt – nein, wenn irgendeines Kunst, so war gerade diese des scheinbar Allernatürlichsten nicht mühelos. Durch sieben Jahre arbeitet Tolstoi acht Stunden, zehn Stunden am Tag – kein Wunder darum, daß selbst dieser gesundnervigste Mann nach jedem seiner großen Romane psychisch zusammenbricht; der Magen versagt plötzlich, die Sinne taumeln trüb, und er muß hinaus in die absolute Einsamkeit, ganz weit weg von aller Kultur, in die Steppe zu den Baschkiren, um dort in Hütten zu wohnen und mit einer Kumyßkur das seelische Gleichgewicht wieder zu erlangen. Gerade dieser homerische Epiker, dieser naturhafteste, wasserhelle, beinahe volkstümlich primitive Erzähler, verbirgt einen ungeheuer ungenügsamen und gequälten Künstler (gibt es andere?). Aber Gnade aller Gnaden – die Mühsamkeit des Schaffens bleibt unsichtbar im vollendeten Dasein des Werkes. Gleichsam von ewig her, ursprungslos, alterslos wie Natur erscheint Tolstois als Kunst gar nicht mehr fühlbare Prosa inmitten unserer Zeit und zugleich jenseits aller Zeiten. Nirgends trägt sie die erkennbare Präge bestimmter Epoche; kämen einzelne seiner Novellen ohne Namen ihres Bildners einem erstmalig zur Hand, niemand wagte zu bestimmen, welches Jahrzehnt, ja Jahrhundert sie geschaffen, derart bedeuten sie absolutes zeitloses Erzählen. Die Volkslegenden von den »Drei Greisen« oder »Wieviel Erde braucht der Mensch« könnten gleichzeitig mit Ruth und Hiob, ein Millennium vor Erfindung des Druckes und im Anfang der Schrift erfabelt sein, Iwan Iljitschs