Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Nebenabsicht drängt immer ungeduldiger vor. In der »Kreutzersonate«, in der »Auferstehung« verhüllt schließlich nur noch dünnes dichterisches Kleid die nackte Moraltheologie, und die Legenden dienen (in herrlicher Form!) dem Prediger. Kunst wird für Tolstoi allmählich nicht mehr Endzweck, Selbstzweck, sondern er vermag »die schöne Lüge« nur noch zu lieben, sofern sie der »Wahrheit« dient, aber nun nicht mehr wie vordem der Wahrhaftmachung des Wirklichen, der sinnlich-seelischen Realität, sondern einer – wie er meint – höheren, geistigen, der religiösen Wahrheit, die ihm seine Krise offenbarte. »Gute« Bücher nennt Tolstoi fortan nicht die vollendet gestalteten, sondern einzig diejenigen (gleichgültig gegen ihren artistischen Wert), die »das Gute« befördern, die den Menschen geduldiger, sanfter, christlicher, humaner, liebevoller gestalten helfen, so daß der brave und banale Berthold Auerbach ihm wichtiger scheint als der »Schädling« Shakespeare. Immer mehr gleitet das Richtmaß aus den Händen des Künstlers Tolstoi in jene des sittlichen Doktrinärs: der Menschheitsschilderer, der unvergleichliche, tritt bewußt und ehrerbietig zurück vor dem Menschheitsverbesserer, dem Moralisten.

      Aber die Kunst, unduldsam und eifersüchtig wie alles Göttliche, rächt sich an dem, der sie verleugnet. Wo sie dienen soll, unfrei einer angeblich höheren Macht unterordnet, entzieht sie sich ungestüm selbst dem Meister, und gerade an jenen Stellen, wo Tolstoi doktrinär gestaltet, ermattet und blaßt sofort die elementare Sinnlichkeit seiner Figuren; ein. graues kaltes Licht von Verstand nebelt herein, man holpert und stolpert über logische Weitschweifigkeiten und tastet sich nur mühsam dem Ausgang entgegen. Mag er auch später verächtlich seine »Kindheitserinnerungen«, »Krieg und Frieden«, seine Meisternovellen aus moralischem Fanatismus »schlechte, nichtige, gleichgültige Bücher« nennen, weil sie nur ästhetischen Anspruch, also »einen Genuß niederer Art« – höre es, Apoll! – befriedigen, in Wahrheit bleiben doch sie seine Meisterwerke und die zielbewußten moralischen seine brüchigen. Denn je mehr sich Tolstoi seinem »sittlichen Despotismus« hingibt, je weiter er sich von dem Urelement seines Genies, der Sinnenwahrhaftigkeit, entfernt, um so ungleichmäßiger wird er als Künstler: wie Antäus hat er alle Kraft von der Erde. Wo Tolstoi ins Sinnliche sieht mit seinen herrlichen diamantscharfen Augen, bleibt er bis ins letzte Greisenalter genial, wo er ins Wolkige, ins Metaphysische tastet, mindert sich in erschreckender Weise sein Maß. Und es ist beinahe erschütternd, zu sehen, mit welcher Gewaltsamkeit ein Künstler durchaus ins Geistige schweben und fliegen will, dem es vom Schicksal einzig bestimmt war, mit schwerem Schritt auf unserer harten Erde zu gehen, sie zu ackern und zu pflügen, sie zu erkennen und zu schildern wie kein anderer unserer Gegenwart.

      Tragischer Zwiespalt dies, urewig wiederholt in allen Werken und Zeiten: was das Kunstwerk erhöhen sollte, die überzeugte und überzeugen wollende Gesinnung, vermindert zumeist den Künstler. Die wahre Kunst ist egoistisch, sie will nichts als sich selbst und ihre Vollendung. Nur an sein Werk darf der reine Künstler denken, nicht an die Menschheit, der er es zubestimmt. So ist auch Tolstoi so lange am größten als Künstler, als er ungerührten, unbestechlichen Auges die Sinnenwelt gestaltet. Sobald er der Mitleidige wird, helfen will, verbessern, führen und belehren durch sein Werk, verliert seine Kunst an ergreifender Kraft, und er selbst wird durch sein Schicksal erschütterndere Gestalt als all seine Gestalten.

      Selbstdarstellung

       Inhaltsverzeichnis

       Unser Leben erkennen, heißt sich selbst erkennen.

      An Russanow, 1903

      Unerbittlich ist dieser strenge Blick gegen die Welt gerichtet, unerbittlich streng auch gegen sich selbst. Tolstois Natur duldet keine Undeutlichkeit, kein Vernebeltes und Verschattetes weder im Innen noch Außen der irdischen Welt: so kann, der als Künstler gewöhnt ist, den genauesten Umriß in der Linie eines Baumes oder in der zuckenden Bewegung eines aufschreckenden Hundes zwanghaft präzise zu sehen, auch sich selbst nie ertragen als ein dumpf und undeutlich Gemengtes. Unwiderstehlich darum, unablässig und von frühester Zeit an wendet sich sein elementarer Forschungsdrang gegen sich selbst: »Ich will mich durch und durch kennenlernen«, schreibt der Neunzehnjährige in sein Tagebuch. Ein wahrheitsfanatischer Mensch wie Tolstoi kann gar nicht anders als ein leidenschaftlicher Autobiograph sein.

      Aber Selbstdarstellung entspannt sich im Gegensatz zur Weltdarstellung niemals vollkommen durch einmalige Leistung im Kunstwerk. Das eigene Ich läßt sich durch Verbildlichung niemals vollkommen abspalten, weil einmalige Betrachtung das ständig wandelhafte Ich nicht erledigt. Darum wiederholen die großen Selbstdarsteller ihr Eigenbildnis das ganze Leben entlang. Alle beginnen sie, Dürer, Rembrandt, Tizian, ihre frühesten Jugendwerke vor dem Spiegel und lassen sie erst mit sinkender Hand, weil sie an der eigenen physischen Gestalt ebenso das Beharrend-Beständige wie das Fließende der Verwandlung reizt. Genauso kommt der große Wirklichkeitszeichner Tolstoi mit seiner Selbstdarstellung niemals zu Rande. Kaum hat er sich dargetan in, wie er meint, definitiver Gestalt, sei es als Nechljudow, als Saryzin oder Pierre oder Lewin, so erkennt er im beendigten Werke das eigene Antlitz nicht mehr; um die erneute Form zu fassen, muß er noch einmal beginnen. Aber ebenso unermüdlich, wie Tolstoi, der Künstler, nach seinem Seelenschatten hascht, flieht sein Selbst weiter in seelischer Flucht, immer neue und unvollendbare Aufgegebenheit, die zu bezwingen der Willensriese sich immer neu angelockt fühlt. Dadurch entsteht kein Werk innerhalb dieser sechzig Jahre, das nicht in irgendeiner Gestalt Tolstois eigenen Umriß enthielte, und nicht eines, das allein für sich die Weite dieses Mannes umfaßte; erst als Summe ergeben alle seine Romane, Novellen, Tagebücher und Briefe seine Selbstdarstellung, dann aber auch das vielfältigste, wachsamste und kontinuierlichste Eigenbildnis, das in unserem Jahrhundert ein Mensch hinterlassen hat.

      Denn niemals kann dieser Nichterfinder, er, der immer nur Erlebtes und Wahrgenommenes wiederzugeben befähigt ist, sich selbst, den Lebenden, den Wahrnehmenden aus dem Blickfeld ausschalten. Unablässig, zwanghaft, oft gegen seinen Willen und immer jenseits seines Wachwillens muß er sich bis zur Erschöpfung durchforschen, belauschen, erklären, »Wache halten« über sein eigenes Leben. Und so steht sein autobiographischer Furor nicht einen Augenblick stille, sowenig wie der Herzhammer in seiner Brust, die Gedanken unter seiner Stirn: dichten heißt für ihn immer, sich selbst richten und berichten. Es gibt darum keine Form der Selbstdarstellung, die Tolstoi nicht geübt hätte, die rein mechanische Tatsachenrevision der Erinnerung, die pädagogische, die moralische Kontrolle, die sittliche Anklage und die seelische Beichte, also Selbstdarstellung als Selbstbändigung und Selbstanfeuerung, Autobiographie als einen ästhetischen Akt und religiösen – nein, man wird nicht fertig, alle die Formeln, Motive seiner Selbstdarstellungen einzeln abzuschildern. Wir kennen den Siebzigjährigen aus seinem Tagebuch nicht minder als den Achtzigjährigen, wir wissen seine Jugendleidenschaften, seine Ehetragödie, seine intimsten Gedanken ebenso archivarisch genau wie seine banalsten Handlungen, denn, auch hier ganz Gegensatz zu Dostojewski, der »mit geschlossenen Lippen« lebte, verlangte Tolstoi, sein Dasein »bei offenen Türen und Fenstern« zu führen. Wir kennen jeden Wink und Schritt von ihm, jede flüchtigste und belangloseste Episode seiner achtzig Jahre genauso, wie wir sein physisches Bildnis von unzähligen Reproduktionen kennen, beim Schustern und im Gespräch mit den Bauern, zu Pferde und beim Pfluge, am Schreibtisch und beim Lawn-Tennis, mit der Frau, den Freunden, der Enkelin, im Schlafe sogar und im Tode. Und diese so unvergleichliche leibgeistige Darstellung und Selbstdokumentierung erscheint überdies noch gleichsam gegengezeichnet von den unzähligen Erinnerungen und Aufzeichnungen seiner ganzen Umgebung, von Frau und Tochter, von Sekretären und Reportern und zufälligen Besuchern: ich glaube, man könnte die Wälder von Jasnaja Poljana noch einmal aufbauen aus dem zu Tolstoi-Erinnerungen verholzten Papier. Nie hat ein Dichter bewußt so offen gelebt, selten sich einer mitteilsamer den Menschen aufgetan. Seit Goethe haben wir keine durch innere und äußere Beobachtung derart restlos dokumentierte Gestalt wie die seine.

      Dieser Selbstbeobachtungszwang Tolstois reicht so weit zurück wie sein Bewußtsein selbst. Er beginnt schon im rosig umtapsenden Kinderleib lange vor der Sprache und endet erst im dreiundachtzigsten Jahr auf dem Totenbett, da das gewollte Wort die Sprache nicht mehr zwingt. Innerhalb dieses riesigen Raumes vom Schweigen des Anfangs bis zum Schweigen des Endes aber gibt es keinen Augenblick ohne