Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Medium der Weltsicht als das seine, den überscharfen, schmerzhaft schauenden Verstand, auch sie nur Ungeduldige zu Gott hin und nicht Ruhende in Gott. Sie schaffen Systeme für den Geist, aber keinen Frieden einer beunruhigten Seele, sie geben Wissen, aber keinen Trost.

      Und wie ein gequälter Kranker, an dem die Wissenschaft versagte, mit seinem Gebrest zu den Wurzelweibern und Dorfbadern, so geht Tolstoi, geht der geistigste Mensch Rußlands im fünfzigsten Jahre seines Lebens zu den Bauern, zum »Volk«, um von ihnen, den Unbelehrten, endlich den rechten Glauben zu lernen. Ja, sie, die Unbelehrten, die von der Schrift nicht Verwirrten, sie, die Armen und Gequälten, die ohne Klage roboten, die sich stumm wie Tiere in einen Winkel legen, wenn der Tod aus ihnen wächst, sie, die nicht zweifeln, weil sie nicht denken, sancta simplicitas, die heilige Einfalt, sie müssen doch irgendein Geheimnis haben, sonst könnten sie nicht derart ergeben und ohne Empörung den Nacken beugen. Sie müssen etwas wissen in ihrer Dumpfheit, was die Weisheit nicht weiß und der schneidende Geist, und dem zu Dank sie, die Zurückgebliebenen im Verstände, uns voraus sind mit der Seele. »Wie wir leben, ist es falsch, wie sie leben, ist es richtig« – darum tritt Gott aus ihrem geduldigen Dasein sichtbar empor, indes der Geist, der Wissensdrang mit seiner »müßigen, wollüstigen Gier«, von der wahren Lichtquelle des Herzens entfernt. Hätten sie nicht einen Trost, nicht innen ein magisches Heilkraut, sie könnten nicht so heiter eine derart erbärmliche Existenz ertragen: irgendeinen Glauben müssen sie verbergen, und eine Ungeduld überkommt den unbändigen Mann, dieses Arkanum ihnen abzulernen. Von ihnen, nur von ihnen, dem »Gottvolk«, beredet sich Tolstoi, kann man einzig das »richtige« Leben kennenlernen, das große Geduldigsein und Sichergeben in das harte Dasein und den noch härteren Tod.

      Also heran an sie, ganz dicht hinein in ihr Leben, das Gottgeheimnis ihnen abzulauschen! Herunter mit dem Adelsrock und die Muschikbluse an, weg vom Tisch mit den leckeren Speisen und überflüssigen Büchern: nur die unschuldigen Kräuter und die sanfte Milch der Tiere soll von nun an den Leib nähren, nur die Demut, die Dumpfheit den faustisch wühlenden Geist. So stellt sich Leo Nikolajewitsch Tolstoi, Herr von Jasnaja Poljana und noch mehr: Herr im Geiste über Millionen, im fünfzigsten Jahre seines Lebens selbst an den Pflug, trägt auf breitem Bärenrücken die Wassertonne vom Brunnen und mäht in der Mitte seiner Bauern mit unermüdlichem Arbeitstrotz das Getreide. Die Hand, die »Anna Karenina« und »Krieg und Frieden« geschrieben, fädelt jetzt die Pechahle in selbstgeschnittene Schuhsohlen, fegt den Schmutz aus der Stube und näht sich selber das eigene Kleid. Nur nahe heran, nur rasch, nur eng heran zu den »Brüdern« – mit einem einzigen Willensruck hofft so Leo Tolstoi, »Volk« zu werden und damit »Gottes-Christ«. Er geht hinab in das Dorf zu den halb noch Leibeigenen (bei seiner Annäherung fassen sie verlegen an die Mützen), er ruft sie ins Haus, wo sie mit ihren plumpen Schuhen ungeschickt über die spiegelnden Parkette wie über Glas gehen und aufatmen, daß der »Barin«, der gnädige Herr, nicht Böses mit ihnen vorhat, nicht, wie sie fürchteten, abermals Zins und Pacht erhöht, sondern – sonderbar: sie schütteln verlegen ihre Köpfe – gerade mit ihnen über Gott sprechen will, immer über Gott. Sie erinnern sich, die guten Bauern von Jasnaja Poljana, so hat er’s schon einmal gemacht, da hatte er’s mit der Schule, der Herr Graf, und ein Jahr lang (dann langweilte es ihn) gab er den Kindern persönlich Unterricht. Aber was will er jetzt? Mißtrauisch hören sie ihm zu, denn tatsächlich wie ein Spion drängt der verkleidete Nihilist an das »Volk« heran, die für seinen Feldzug zu Gott notwendige Strategie auszukundschaften.

      Aber nur der Kunst und dem Künstler werden diese gewaltsamen Erkundungen zum Nutzen – die schönsten seiner Legenden dankt Tolstoi ländlichen Dorferzählern, und seine Sprache versinnlicht und versaftigt sich herrlich am naiv bildnerischen Bauernwort –, doch das Geheimnis der Einfalt erlernt sich nicht. Hellseherisch hat Dostojewski noch vor der pathetischen Krise, schon beim Erscheinen der »Anna Karenina«, von Tolstois Spiegelbild Lewin gesagt: »Solche Menschen wie Lewin, mögen sie auch mit dem Volke leben, solange sie wollen, werden doch nie Volk werden: Eigendünkel und Willenskraft, mögen sie noch so launenhaft sein, genügen nicht, um den Wunsch, zum Volke herabzusteigen, zu erfassen und auszuführen.« Mit psychologischem Kernschuß trifft der geniale Visionär damit in das Zentrum der Tolstoischen Willensverwandlung, den Gewaltakt entlarvend, die nicht aus eingeborener, bluthafter Liebe, sondern aus Seelennot begonnene Brüderlichkeit Tolstois mit dem Volk. Denn, mag er noch so willenstätig dumpf und bäurisch tun, nie kann sich der Intellektualist Tolstoi eine enge Muschikseele statt seiner weiten und weltumfassenden Daseinsdeutung einpflanzen, nie ein solcher Wahrheitsgeist sich zu einer verworrenen Köhlergläubigkeit völlig hinabzwingen. Es genügt nicht, sich plötzlich hinzuwerfen in der Zelle wie Verlaine und zu beten: »Mon Dieu, donnez-moi de la simplicité«, und schon blüht das silberne Reis der Demut in der Brust. Man muß immer erst sein und werden, was man bekennt: weder die Bindung mit dem Volke durch das Mysterium des Mitleids noch die Befriedung des Gewissens durch vollgläubige Religiosität lassen sich ruckhaft aufschalten in einer Seele wie ein elektrischer Kontakt. Den Bauernrock zu nehmen, Kwaß zu trinken, Felder zu mähen, alle diese äußern Formen der Gleichsetzung mögen sich spielhaft leicht, spielhaft sogar im doppelten Sinne, erfüllen – nie aber läßt sich der Geist abdumpfen, die Wachheit eines Menschen willkürlich niederschrauben wie eine Gasflamme. Leuchtkraft und Wachsamkeit seines Geistes bleibt das eingeborene, unabänderliche Maß eines jeden Menschen; sie ist Macht über seinen Willen und darum jenseits unseres Willens, ja sie flammt nur noch ungestümer und unruhiger empor, je mehr sie sich bedroht fühlt in ihrer souveränen Pflicht wachsamer Helligkeit. Denn sowenig man durch spiritistische Spiele sich auch nur eine Stufe über sein eingeborenes Erkenntnismaß hinüberturnen kann zu höherem Wissen, sowenig vermag der Intellekt kraft eines plötzlichen Willensaktes auch nur eine einzige Stufe in die Einfalt zurückzutreten.

      Unmöglich, daß Tolstoi, dieser wissende und weitsichtige Geist, nicht bald selber erkannt hat, daß ein Abdumpfen seiner geistigen Kompliziertheit zu einer Nitschewo-Einfalt selbst einem so ungeheuerlichen Willen wie dem seinen über Nacht nicht möglich war. Kein anderer als er selbst hat (allerdings später) das wunderbare Wort gesagt: »Gegen den Geist mit Gewalt vorzugehen, ist wie das Einfangen von Sonnenstrahlen; womit man sie auch zudecken will, immer kommen sie obenauf.« Auf die Dauer konnte er sich nicht täuschen darüber, wie wenig sein schroffer, streiterischer, rechthaberischer Herrenintellekt einer ständigen dumpfen Demut fähig war: nie haben jemals auch die Bauern ihn wirklich für einen der Ihren genommen, weil er ihr Kleid anzog und ihre Gewohnheiten äußerlich teilte, nie hat die Welt diesen Akt anders als eine Verkleidung verstanden. Gerade seine Allernächsten, seine Frau, seine Kinder, die Babuschka, seine wirklichen Freunde (nicht die professionellen Tolstoianer) beobachten von Anfang an mißtrauisch und unmutig dieses krampfige, gewalttätige Hinabwollen des »großen Dichters des Russenvolkes« (so ruft Turgenjew vom Sterbebett ihn zur Rückkehr in die Kunst auf) in eine ihm naturwidrige Sphäre der Ungeistigkeit. Die eigene Gattin, das tragische Opfer seiner Seelenkämpfe, sagt damals zu ihm das allerüberzeugendste Wort: »Früher sagtest du, du seist unruhig, weil du den Glauben nicht hättest. Warum bist du jetzt nicht glücklich, da du sagst, ihn zu haben?« – ein ganz einfaches und unwiderlegliches Argument. Denn nichts deutet bei Tolstoi nach seiner Konversion zum Volksgotte an, daß er in diesem seinem Glauben Seelengelassenheit gefunden habe; im Gegenteil, immer hat man das Gefühl, er rette, sobald er von seiner Lehre spricht, eine Unsicherheit der Überzeugung in eine schreiende Gewißheit hinein. Alle Akte und Worte Tolstois gerade in jener Zeit der Bekehrung haben einen unangenehmen Schreiton, etwas Ostentatives, Gewaltsames, Zänkisches, Zelotisches. Seine Christlichkeit posaunt wie eine Fanfare, seine Demut schlägt Pfauenrad, und wer feinere Ohren hat, spürt eben in der Übertreiblichkeit seiner Selbsterniedrigung etwas vom alten Tolstoi-Hochmut, nur umgewandelt jetzt in einen Verkehrtstolz auf die neue Demut. Man lese doch nur die berühmte Stelle seiner Beichte, in der er seine Bekehrung »beweisen« will, indem er sein eigenes früheres Leben bespeit und verunglimpft: »Ich habe im Kriege Menschen getötet, ich habe Duelle ausgefochten, ich vergeudete im Kartenspiel das den Bauern abgepreßte Vermögen und züchtigte sie grausam, ich hurte mit leichtsinnigen Weibern und betrog die Männer. Lüge, Raub, Ehebruch, alle Art Trunkenheit und Brutalität, jede Schandtat beging ich, nicht ein Verbrechen gab es, das ich unterließ.« Und damit niemand diese angeblichen Verbrechen ihm als dem Künstler entschuldige, fährt er fort in seiner lärmenden Gemeindebeichte: »Während dieser Zeit begann ich zu schriftstellern aus Eitelkeit, Gewinnsucht