Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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unzulänglichen, launenhaften, inkonsequenten Moralisten, dem Denker Tolstoi, der in einem pädagogischen Anfall nicht mehr wie in den sechziger Jahren bloß die Bauernjungen von Jasnaja Poljana in die Schule treiben, sondern ganz Europa das große Abc des einzig »richtigen« Lebens, »die« Wahrheit mit einem erschreckenden Maß von philosophischer Leichtfertigkeit eindrillen will. Kein Respekt beugt sich tief genug vor Tolstoi, solange er, der unbeflügelt Geborene, in seiner Sinnenwelt verharrt und mit seinen genialen Organen die Struktur des Menschlichen zerlegt; aber sobald er flughaft frei ins Metaphysische will, wo seine Sinne nicht mehr zupacken, sehen und saugen können, wo all diese sublimen Fangarme zwecklos im Leeren tasten, da erschrickt man geradezu über seine geistige Unbehilflichkeit. Nein, nicht vehement genug kann hier abgegrenzt werden: Tolstoi als theoretischer, als systematischer Philosoph war eine ebenso bedauerliche Selbsttäuschung wie Nietzsche, sein Polargenie, als Komponist. Genau wie Nietzsches Musikalität, die innerhalb der Sprachmelodik herrlich produktive, in selbständiger Tonsphäre, also kompositorisch, beinahe kläglich versagt, so stockt der eminente Verstand Tolstois sofort, wenn er über die sinnlich kritische Sphäre ins Theoretische, ins Abstrakte sich hinüberwagt. Man kann bis ins einzelne Werk hinein diese Scheide und Niete abtasten; in seinem sozialen Pamphlet »Was sollen wir tun« z. B. schildert der erste Teil augensinnlich, erfahrungsgemäß die Elendsquartiere Moskaus mit einer Meisterschaft, daß einem der Atem in den Lungen stockt. Niemals oder kaum jemals ist Sozialkritik genialer am irdischen Objekt demonstriert worden als in der Darstellung jener Elendsstuben und verlorener Menschen: aber kaum, daß im zweiten Teil der Utopist Tolstoi von der Diagnose zur Therapie übergeht und sachliche Verbesserungsvorschläge dozieren will, wird sofort jeder Begriff nebulos, die Konturen verwaschen, die Gedanken treten sich in ihrer Hast auf die Füße. Und diese Konfusion steigert sich von Problem zu Problem, je kühner Tolstoi sich vorwagt. Und weiß Gott, er wagt sich weit vor! Ohne jede philosophische Schulung, mit einer erschreckenden Ehrfurchtslosigkeit greift er in seinen Traktaten nach allen ewig unauflöslichen Fragen, die mit Sternketten im Unerreichbaren hangen, und »löst« sie wie Gelatine leichtflüssig auf. Denn genau wie der Ungeduldige während seiner Krise einen »Glauben« sich überwerfen wollte, rasch wie einen Pelzrock, Christ und Demütiger werden über Nacht, so läßt er in diesen Welterziehungsschriften »im Handumdrehen einen Wald wachsen«; und der 1878 noch selbst verzweifelt aufschrie: »Unsinn ist unser ganzes Erdenleben«, hat drei Jahre später schon seine Universaltheologie mit der Lösung aller Welträtsel für uns fertig. Selbstverständlich muß jeder Widerspruch bei solchen übereilten Konstruktionen einen Geschwinddenker stören, darum doziert Tolstoi beharrlich mit verstopften Ohren, jede Inkonsequenz überrennend und mit einer verdächtigen Hast sich selbst die restlose Lösung zubilligend. Was für ein unsicherer Glaube, der unablässig sich verpflichtet fühlt zu »beweisen«, was für ein unlogisches, unstrenges Denken, dem, sobald die Argumente fehlen, immer ein Bibelwort zur rechten Zeit sich einstellt als letzte und ausschließliche Unwiderlegbarkeit! Nein, nein, nein man kann es nicht energisch genug feststellen: die lehrhaften Traktate Tolstois gehören (trotz einiger unvermeidbar genialer Einzelheiten) – corraggio, corragio! – zu den unangenehmsten Zelotentrakten der Weltliteratur, sie sind ärgerliche Beispiele eines überhastet konfusen, hochmütig eigenwilligen und – was bei dem Wahrheitsmenschen Tolstoi geradezu erschütternd wirkt – sogar unehrlichen Denkens.

      Denn tatsächlich, der allerwahrhaftigste Künstler, der edle und vorbildliche Ethiker Tolstoi, dieser große und fast heilige Mann, spielt als theoretischer Denker schlechtes und unredliches Spiel. Um die ganze geistunendliche Welt in seinem philosophischen Sack unterzubringen, beginnt er mit einem groben Taschenspielerkunststück, und zwar: vorerst alle Probleme derart zu versimpeln, bis sie dünn und handlich wie Kartenblätter werden. Er statuiert also höchst einfach zunächst einmal »den« Menschen, daraufhin »das« Gute, »das« Böse, »die« Sünde, »die« Sinnlichkeit, »die« Brüderlichkeit, »den« Glauben. Dann mischt er die Karten munter durcheinander, zückt »die« Liebe als Trumpf, und siehe, er hat gewonnen. In einem Weltstündchen ist das ganze Weltspiel, das unendlich und unlösbare, von Millionen Menschengeschlechtern gesuchte, auf dem Schreibtisch von Jasnaja Poljana gelöst, und der alte Mann staunt auf, seine Augen sind kindlich erhellt, beglückt lächeln seine greisen Lippen, er staunt und staunt, »wie einfach doch alles ist«. Unerklärlich fürwahr, daß alle Philosophen, alle Denker, die seit tausend Jahren in tausend Särgen in tausend Ländern liegen, so kraus und quälerisch ihre Sinne abmühten, statt zu merken, daß »die« ganze Wahrheit doch längst sonnenklar im Evangelium stand, vorausgesetzt freilich, daß man es wie er, Leo Nikolajewitsch, im Jahre des Herrn 1878 »zum erstenmal seit achtzehnhundert Jahren richtig verstand« und endlich die göttliche Botschaft von der »Übertünchung« gereinigt hatte. (Wahrhaftig, wortwörtlich sagt er so frevelhafte Worte!) Aber nun ist es zu Ende mit allen den Mühen und Plagen – nun müssen doch die Menschen erkennen, wie ungeheuer einfach das Leben zu leben ist: was stört, wirft man glattweg unter den Tisch, man schafft Staat, Religion, Kunst, Kultur, das Eigentum, die Ehe einfach ab, damit ist »das« Böse und »die« Sünde für immer erledigt; und wenn nun jeder einzelne mit eigner Hand die Erde pflügt und das Brot bäckt und seine Stiefel schustert, dann gibt es keinen Staat mehr und keine Religionen, nur das reine Reich Gottes auf Erden. Dann ist »Gott die Liebe und die Liebe der Zweck des Lebens«. Also weg mit allen Büchern, nicht mehr denken, nicht mehr geistig schaffen, es genügt »die« Liebe, und schon morgen kann alles verwirklicht sein, »wenn die Menschen nur wollten«.

      Man scheint zu übertreiben, wenn man den nackten Inhalt der Tolstoischen Welttheologie wiedergibt. Aber leider ist’s er selbst, der in seinem Proselyteneifer so ärgerlich übertreibt. Wie schön, wie klar, wie unwidersprechlich ist sein Lebensgrundgedanke, das Evangelium der Gewaltlosigkeit: Tolstoi fordert von uns allen Nachgiebigkeit, eine geistige Demut. Er mahnt uns, um den unausweichlichen Konflikt zwischen der immer steigenden Ungleichheit der sozialen Schichten zu vermeiden der Revolution von unten zuvorzukommen, indem wir sie freiwillig von oben beginnen und durch rechtzeitige urchristliche Nachgiebigkeit die Gewalt ausschalten. Der Reiche soll seinen Reichtum, der Intellektuelle seinen Hochmut preisgeben, die Künstler ihren elfenbeinernen Turm verlassen und durch Verständlichkeit sich dem Volke nähern, wir sollen unsere Leidenschaften, unsere »tierische Persönlichkeit« bezähmen und statt der Gier, zu nehmen, die heiligere Fähigkeit des Gebens in uns entwickeln. Erhabene Forderungen, gewiß, uralt geheischte von allen Evangelien der Welt, ewige Forderungen, weil um des Aufstiegs der Menschheit willen ewig wieder neu zu heischende. Aber Tolstois maßlose Ungeduld begnügt sich nicht wie jene religiösen Naturen, sie als moralische Höchstleistung des einzelnen zu postulieren; er verlangt, der herrisch Ungeduldige, zornig diese Sanftmut sofort und von allen. Er fordert, daß wir auf sein religiöses Kommando hin sofort alles aufgeben, hingeben, preisgeben, womit wir gefühlsmäßig verbunden sind; er heischt (ein Sechzigjähriger) von den jungen Menschen Enthaltsamkeit (die er als Mann selbst nie geübt), von den Geistigen Gleichgültigkeit, ja Verachtung der Kunst und Intellektualität (der er selbst sein ganzes Leben gewidmet); und um uns nur ganz rasch, ganz blitzschnell zu überzeugen, an wie Nichtiges unsere Kultur sich verliert, demoliert er mit wütigen Faustschlägen unsere ganze geistige Welt. Nur um uns die vollkommene Askese verlockender zu machen, bespeit er unsere ganze gegenwärtige Kultur, unsere Künstler, unsere Dichter, unsere Technik und Wissenschaft, er greift zu knüppeligster Übertreibung, zu faustdicken Unwahrheiten, und zwar beschimpft und erniedrigt er immer zuerst sich selbst, um freien Anlauf zur Attacke gegen alle andern zu haben. So kompromittiert er die edelsten ethischen Absichten durch eine wilde Rechthaberei, der keine Übersteigerung zu maßlos, keine Täuschung zu plump ist. Oder glaubt wirklich jemand, Leo Tolstoi, den ein Leibarzt täglich behorchte und begleitete, betrachte tatsächlich die Heilkunde und die Ärzte als »unnötige Dinge«, das Lesen als eine »Sünde«, die Reinlichkeit als »überflüssigen Luxus«? Hat er, dessen Werke ein Regal füllen, wirklich als ein »unnützer Schmarotzer«, als »Blattlaus« sein Leben verbracht, wirklich in der parodistisch übertreiblichen Weise, wie er selbst es folgendermaßen schildert? »Ich esse, schwatze, höre zu, ich esse wieder, schreibe und lese, das heißt, ich rede und höre wieder zu, dann esse ich abermals, spiele, esse und rede wieder, dann esse ich nochmals und gehe ins Bett.« Ist tatsächlich solcherart »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« entstanden? Bedeutet ihm wirklich, ihm, dem die Tränen überströmen, kaum daß einer Sonaten Chopins spielt, die Musik wie bornierten Quäkern nichts als des Teufels Dudelsack?