Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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aber – so fragt ungeduldig das Mißtrauen aller seiner Anhänger und höhnisch der Spott seiner Gegner –, warum zerreißt Leo Tolstoi nicht mit entschlossenem Willen diesen peinlichen Widerspruch? Warum fegt er nicht das Haus rein von Reportern und Photographen, warum duldet er den Verkauf seiner Werke durch die Familie, warum gibt er statt dem eigenen immer wieder dem Willen seiner Umgebung nach, die in vollkommener Mißachtung seiner Forderungen unentwegt Reichtum, Behagen als höchste Güter der Erde anspricht? Warum handelt er nicht endlich eindeutig und klar nach dem Gebot seines Gewissens? Tolstoi hat selbst den Menschen auf diese furchtbare Frage nie geantwortet und niemals sich entschuldigt, im Gegenteil, keiner der müßigen Schwätzer, die mit schmutzigen Fingern auf den taghellen Widerspruch zwischen Wille und Wirksamkeit hindeuteten, verurteilte die Halbheit seines Handelns oder vielmehr seines Nichthandelns härter als er selbst. 1908 schreibt er in sein Tagebuch: »Wenn ich von mir als von einem Fremden reden hörte: ein Mensch, der in Luxus lebt, alles, was er kann, den Bauern nimmt, sie verhaften läßt und dabei das Christentum bekennt und predigt, Fünfkopekenstücke als Almosen austeilt und sich bei all seinen gemeinen Handlungen hinter seine liebe Frau verkriecht – ich würde mich nicht bedenken, einen solchen Menschen als Schuft zu bezeichnen! Und eben das müßte auch mir gesagt werden, damit ich mich von den Eitelkeiten der Welt lossage und nur der Seele lebe.« Nein, einen Leo Tolstoi brauchte niemand über seine moralischen Zweideutigkeiten aufzuklären, er zerriß sich selbst täglich die Seele an ihnen. Wenn er sich, im Tagebuch, die Frage ins Gewissen stößt, rotglühenden Brandstahl: »Sag, Leo Tolstoi, lebst du nach den Grundsätzen deiner Lehre?«, so antwortet die ingrimmige Verzweiflung: »Nein, ich sterbe vor Scham, ich bin schuldig und verdiene Verachtung«. Er war sich vollkommen darüber klar, daß nach seinem Glaubensbekenntnis zur Entbehrung logisch und ethisch nur eine einzige Lebensform für ihn möglich war: sein Haus zu verlassen, seinen Adelstitel, seine Kunst aufzugeben und als Pilger über die russischen Straßen zu ziehen. Zu diesem letzten notwendigsten und einzig überzeugenden Entschluß hat sich der Bekenner jedoch niemals aufraffen können. Aber gerade dies Geheimnis seiner letzten Schwäche, diese Unfähigkeit zum prinzipiellen Radikalismus, will mir Tolstois letzte Schönheit bedeuten. Denn Vollkommenheit ist immer nur jenseits des Menschlichen möglich; jeder Heilige, selbst der Apostel der Sanftmut, muß hart sein können, er muß die fast übermenschliche, die inhumane Forderung an die Jünger stellen, daß sie Vater und Mutter, Weib und Kind gleichgültig hinter sich lassen um der Heiligkeit willen. Ein konsequentes, ein vollkommenes Leben läßt sich immer nur im luftleeren Raum eines abgelösten Individuums verwirklichen, nie in Bindung und Verbindung: darum führt zu allen Zeiten der Weg des Heiligen in die Wüste als die ihm einzig gemäße Hausung und Heimstatt. So müßte auch Tolstoi, sofern er die äußersten Konsequenzen seiner Lehre tätig verwirklichen will, wie von Kirche und Staat sich auch aus dem engeren, wärmeren und haftenderen Kreise der Familie loslösen: zu diesem brutalen, rücksichtslosen Gewaltakt aber fehlt dem allzu menschlichen Heiligen dreißig Jahre lang die Kraft. Zweimal war er geflohen, zweimal zurückgekehrt, denn der Gedanke, seine verstörte Frau könnte Selbstmord begehen, lähmt ihm in letzter Stunde den Willen, er kann sich nicht entschließen – dies seine geistige Schuld und seine menschliche Schönheit! –, einen einzigen Menschen aufzuopfern für seine abstrakte Idee. Lieber als sich mit den Kindern zu entzweien und die Gattin in den Selbstmord zu treiben, duldet er stöhnend das drückende Dach einer nur körperlichen Gemeinsamkeit; verzweifelt gibt er in entscheidenden Fragen, wie jener des Testaments und des Bücherverkaufes, seiner Familie nach und nimmt es eher auf sich, selbst zu leiden, als anderen Leiden zu verursachen. Er bescheidet sich schmerzlich, lieber ein brüchiger Mensch statt ein felsenharter Heiliger zu sein.

      Denn auf sich und sich allein häuft er derart vor der Öffentlichkeit allen Anschein der Lauheit und Halbschlächtigkeit. Er weiß, jeder Bube darf nun seiner spotten, jeder Aufrichtige ihn bezweifeln, jeder seiner Anhänger ihn richten, aber dies und gerade dies wird nun Tolstois großartige Dulderart in all diesen dunklen Jahren, daß er mit hartverschlossenen Lippen die Beschuldigung der Zweideutigkeit hinnimmt, ohne sich jemals zu entschuldigen. »Möge meine Lage vor den Menschen falsch sein, vielleicht ist gerade das nötig«, schreibt er 1898 erschüttert in sein Tagebuch, und langsam beginnt er den besonderen Sinn seiner Prüfung zu erkennen, nämlich, daß dieses sein Märtyrertum ohne Triumph, dieses Unrechtleiden ohne Gegenwehr und Entschuldigung für ihn längst ein grimmigeres und gewichtigeres geworden ist, als ein Märtyrertum am Markte, jenes andere theatralische, gewesen wäre, das er vom Schicksal jahrelang ersehnt. »Ich wünschte oft, zu leiden und Verfolgung zu erdulden, aber das bedeutet, daß ich faul war und andere für mich arbeiten lassen wollte, dadurch daß sie mich quälen, während ich bloß zu leiden hätte.« Der ungeduldigste aller Menschen, der gern mit einem Ruck in die Qual hineingesprungen wäre und in überschwenglicher Büßerlust sich hätte verbrennen lassen am Opferpfahl seiner Überzeugung, erkennt, daß ihm als viel härtere Prüfung das Brennen am langsam schwelenden Feuer auferlegt ist: die Mißachtung der Uneingeweihten und die ewige Unruhe des eigenen wissenden Gewissens. Denn welch unaufhörliche Gewissensfolter für einen so wachen und unbelügbaren Selbstbeobachter, sich täglich neu eingestehen zu müssen, daß er, der irdische Mensch Leo Tolstoi, in seinem eigenen Haus und Leben nicht imstande ist, die ethischen Forderungen zu erfüllen, die der Apostel Leo Tolstoi an eine Millionenmenschheit stellt, und daß er trotzdem, seines eigenen Versagens bewußt, nicht innehält, weiter und weiter diese Lehre zu predigen! Daß er, der längst sich selbst nicht mehr glaubt, von den andern immer noch Gläubigkeit und Zustimmung fordert! Hier schwärt die Wunde, die eitrige Stelle in Tolstois Gewissen. Er weiß, daß die Mission, die er auf sich genommen, längst eine Rolle geworden ist, ein Schauspielstück der Demut, unablässig der Welt neu vorgespielt; sich selbst hat Tolstoi nie belogen, und eben daß er um seine Halbschlächtigkeiten und Posen genauer wußte als selbst seine erbittertsten Feinde, gerade das hat sein Leben zu einer intimen Tragödie gemacht. Wer wissen oder nur ahnen will, bis zu welchem Maße des Selbstekels und der Selbstzerschmetterung diese gequälte, und wahrheitswütige Seele sich gepeinigt hat, der lese jene Novelle, die man erst im Nachlaß gefunden hat, den »Vater Sergius«. Genau wie die heilige Therese, von ihren Visionen erschreckt, ihren Beichtvater ängstlich fragt, ob diese Verkündigungen wirklich von Gott und nicht vielleicht von seinem Widerpart, dem Teufel, ihr zugesandt seien, um ihren Hochmut herauszufordern, so fragt sich Tolstoi in jener Novelle, ob sein Lehren und Tun vor den Menschen wirklich göttlichen, also ethischen und hilfreichen Ursprungs sei oder nicht vom Teufel der Eitelkeit stamme, von Ruhmsucht und Freude am Weihrauch. In sehr durchsichtiger Verhüllung schildert er in jenem Heiligen seine eigne Situation in Jasnaja Poljana: wie zu ihm selbst die Gläubigen, die Neugierigen, die Pilger der Bewunderung, wandern zu jenem wundertätigen Mönch Hunderte Büßer und Verehrer. Aber gleich Tolstoi selbst fragt sich inmitten des Tumults seiner Anhänger, dieser Doppelgänger seines Gewissens, ob er, den alle als Heiligen verehren, tatsächlich heiligen Herzens lebe; er fragt sich: »In welchem Maße geschieht, was ich tue, Gott zuliebe und inwieweit nur um der Menschen willen?« Und zerschmetternd antwortet Tolstoi sich selbst durch Vater Sergius:

      »Er fühlte in der Tiefe seiner Seele, daß der Teufel sein Wirken um Gottes willen durch ein anderes, nur auf den Ruhm bei den Menschen abgesehenes, vertauscht hatte. Er fühlte das; denn wie es ihm früher wohlgetan hatte, wenn man ihn nicht aus seiner Einsamkeit aufstörte, so war ihm jetzt diese Einsamkeit eine Qual. Er fühlte sich durch die Besucher belästigt, sie machten ihn müde, doch in seinem innersten Herzen freute er sich über sie, freute sich über die Lobpreisungen, mit denen sie ihn überhäuften. Es blieb ihm immer weniger Zeit zu seelischer Stärkung und Gebet, mitunter dachte er, er sei einem Platze ähnlich, an dem eine Quelle gesprudelt hatte, eine schwache Quelle lebendigen Wassers, die aus ihm und durch ihn strömte; jetzt aber kann sich das Wasser nicht mehr ansammeln, wenn die Dürstenden herandrängen und einander stoßen, und sie haben alles zerstampft, es ist nur Schmutz übriggeblieben… Es war jetzt keine Liebe mehr in ihm, keine Demut und auch keine Reinheit.«

      Kann man furchtbarere Verurteilung sich erdenken als diese schneidende Selbstzurückweisung, die jede mögliche Vergötterung für immer erledigen soll? Mit diesem Bekenntnis zertrümmert Tolstoi für immer das für Lesebücher schon gestanzte Klischee des heiligen Mannes von Jasnaja Poljana; wie erschüttert zeigt sich das zerfleischte Gewissen eines brüchigen, unsicheren Menschen, der unter der Last seiner selbst aufgeladenen Verantwortung zusammenbricht, statt