Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Oder Puschkins Werke nur »dafür gut, um als Zigarettenpapier für das Volk zu dienen«? Ist ihm die Kunst, der er herrlicher als irgendeiner gedient, tatsächlich nur ein »Luxus müßiger Menschen« und der Schneider Grischa und der Schuhmacher Pjotr ihm in Wahrheit höhere ästhetische Instanz als ein Urteil Turgenjews oder Dostojewskis? Glaubt er ernstlich, er, der selbst »ein unermüdlicher Hurer in seiner Jugend war« und dann im Ehebett noch dreizehn Kinder zeugte, nun würde auf einmal, von seinen Appellen gerührt, jeder Jüngling ein Skopze werden und sich das Geschlecht verschneiden? Man sieht: er, Tolstoi, übertreibt wie ein Tollwütiger und übertreibt aus schlechtem Gewissen, damit man nicht merke, daß er sich’s mit seinen »Beweisen« doch zu billig gemacht hat. Manchmal allerdings scheint eine Ahnung, daß dieser lärmende Nonsens sich gerade durch sein Unmaß erledige, ihm selbst im kritischen Untergrund seines Bewußtseins gedämmert zu haben, »ich hege wenig Hoffnung, daß man meine Beweise akzeptiert oder auch nur ernst diskutiert«, schreibt er einmal und hat in fürchterlicher Weise recht, denn sowenig man zu Lebzeiten mit diesem angeblich Nachgiebigen diskutieren konnte – »Man kann Leo Tolstoi nicht überzeugen«, seufzt seine Frau, und »seine Eigenliebe erlaubt ihm niemals, einen Fehler einzugestehen«, berichtet seine beste Freundin –, so unsinnig täte man, Beethoven, Shakespeare gegen Tolstoi ernstlich zu verteidigen: wer Tolstoi liebt, wendet sich am besten dort ab, wo der alte Mann zu offenkundig seine logische Blöße enthüllt. Nicht eine Sekunde hat irgendein ernst zu nehmender Mensch daran gedacht, auf diese theologischen Ausbrüche Tolstois hin tatsächlich zweitausend Jahre Kampfes um Durchgeistigung des Lebens plötzlich abzudrehen wie einen Gashahn und unsere heiligsten Werte auf den Müllhaufen zu werfen. Denn unser Europa, dem eben erst ein Nietzsche als Denker zugeboren war, dem einzig die Geistfreude unsere schwere Erde wahrhaft wohnlich macht, dieses Europa hatte, weiß Gott, nicht Lust, sich plötzlich auf ein moralisches Kommando hin prompt verbauern, versimpeln und mongolisieren zu lassen, gehorsam in die Kibitka zu kriechen und eine herrliche Geistvergangenheit als »sündigen« Irrtum abzuschwören. Es war und wird immer respektvoll genug sein, den vorbildlichen Ethiker Tolstoi, den heroischen Anwalt des Gewissens, nicht zu verwechseln mit seinen verzweifelten Versuchen, eine Nervenkrise in Weltanschauung, eine Klimakteriumsangst in Nationalökonomie umzusetzen, immer werden wir unterscheiden zwischen den großartigen moralischen Impulsen, die dem heldischen Leben dieses Künstlers entwuchsen, und dem bauernzornigen Kulturexorzismus des in Theorie geflüchteten Greises. Tolstois Ernst und Sachlichkeit hat in unvergleichlicher Weise das Gewissen unserer Generation vertieft, seine depressiven Theorien aber stellen ein einziges Attentat auf die Freudigkeit des Daseins dar, ein mönchisch asketisches Rückstoßenwollen unserer Kultur in ein nicht mehr rekonstruierbares Urchristentum, ersonnen von einem Nichtmehr-Christen und darum überchristlichen Menschen. Nein, wir glauben nicht, daß »die Enthaltsamkeit das ganze Leben bestimmt«, daß wir unserer durchaus diesseitigen Weltleidenschaft das Blut aus den Adern zapfen sollen und uns einzig mit Pflichten und Bibelsprüchen bebürden: wir mißtrauen einem Deuter, der nichts weiß von der zeugenden kraftbelebenden Macht der Freude, als einem bewußten Verarmer und Verdunkler unserer freien Sinnenspiele und des sublimsten und seligsten: der Kunst. Wir wollen nichts von den Errungenschaften des Geistes und der Technik, nichts von unserem abendländischen Erbe wieder hergeben, nichts: nicht unsere Bücher, unsere Bilder, unsere Städte, unsere Wissenschaft, keinen Zoll und kein Gran unserer sinnlichen, sichtbaren Wirklichkeit für irgendein Philosophem, und am wenigsten für ein rückschrittliches, depressives, das uns in die Steppe und geistige Dumpfheit zurückdrängte. Für keine himmlische Seligkeit tauschen wir die verwirrende Fülle unseres Daseins von heute gegen irgendeine enge Einfachheit: wir wollen frech lieber »sündig« sein als primitiv, lieber leidenschaftlich als dumm und bibelbrav. Darum hat Europa das ganze Bündel der soziologischen Tolstoi-Theorien einfach in den literarischen Aktenschrank gelegt, respektvoll vor seinem vorbildlichen ethischen Willen, aber doch weggelegt für heute und immer. Denn selbst in seiner höchsten religiösen Form, selbst getragen von einem so herrlichen Geiste, kann Rückläufiges und Reaktionäres nie schöpferisch werden, und was aus persönlicher Verwirrung der Seele stammt, niemals die Weltseele entwirren. Nochmals und endgültig darum: der stärkste kritische Umpflüger unserer Zeit, ist Tolstoi nicht mit einem Korn Sämann unserer europäischen Zukunft geworden und hierin ganz Russe, ganz Genius seiner Rasse und seines Geschlechts.

      Denn gewiß ist dies Sinn und Sendung des letzten russischen Jahrhunderts gewesen, mit einer heiligen Unruhe und rücksichtslosem Leidensdrang alle moralischen Tiefen aufzuwühlen, alle sozialen Probleme anzugraben und zu entblößen bis an ihre Wurzeln, und unendlich beugt sich unsere Ehrfurcht vor der kollektiven Geistesleistung seiner genialen Künstler. Wenn wir manches tiefer durchfühlen, wenn wir vieles entschlossener erkennen, wenn die Probleme der Zeit und die ewigen des Menschen uns ansehen mit strengerem, tragischerem und unbarmherzigerem Blick als vordem, so danken wir dies Rußland und der russischen Literatur, ihr auch alle die schöpferische Unruhe zum Neuwahren über die alte Wahrheit hinaus. Alles russische Denken ist Gärung des Geistes, dehnende, aufsprengende Macht, aber nicht Klärung des Geistes wie jenes Spinozas, Montaignes und einiger Deutscher; es hilft herrlich mit an der seelischen Ausweitung der Welt, und kein Künstler der Neuzeit hat uns derart die Seele umgepflügt und aufgewühlt wie Tolstoi und Dostojewski. Aber eine Ordnung, eine neue, haben sie beide uns nicht schaffen helfen, und wo sie ihr eigenes Chaos, das seelisch abgründige, als Weltsinn abzureagieren suchen, da lösen wir uns von ihrer Lösung. Denn beide, Tolstoi und Dostojewski, retten sich aus dem eigenen Schrecken über den auf getanen, unüberbrückbaren Nihilismus, aus einer Urangst in eine religiöse Reaktion hinein, beide klammern sich, um nicht in ihren inneren Abgrund zu stürzen, sklavisch an das christliche Kreuz und verwölken in einer Stunde die russische Welt, da Nietzsches reinigender Blitz alle alten ängstlichen Himmel zerschlägt und dem europäischen Menschen den Glauben an seine Macht und Freiheit wie einen heiligen Hammer in die Hände legt.

      Phantastisches Schauspiel: Tolstoi und Dostojewski, diese beiden mächtigsten Menschen ihres Vaterlandes, beide schrecken sie plötzlich auf, von apokalyptischen Schauern gepackt, aus ihrem Werke, und erheben beide dasselbe russische Kreuz, beide Christus anrufend und jeder einen andern, als Retter und Erlöser einer sinkenden Welt. Wie zwei rasende mittelalterliche Mönche stehen sie jeder auf seiner Kanzel, feindlich widereinander im Geist wie im Leben – Dostojewski, Erzreaktionär und Verteidiger der Autokratie, Krieg predigend und Terror, rasend im Machtrausch der übersteigerten Kraft, Knecht des Zaren, der ihn in den Kerker geworfen. Anbeter eines imperialistischen, welterobernden Heilands. Und ihm gegenüber Tolstoi, gleich fanatisch verhöhnend, was jener preist, ebenso mystisch anarchisch wie jener mystisch servil, den Zaren als Mörder, die Kirche, den Staat als Diebe anprangernd, den Krieg verfluchend, aber gleichfalls Christus auf der Lippe und das Evangelium in Händen – beide aber rückschrittlerisch die Welt in Demut und Dumpfheit zurücktreibend aus einem geheimnisvollen Terror der erschütterten Seele. Irgendein prophetisches Ahnen muß in den beiden gewesen sein, daß sie ihre apokalyptische Angst so schreiend über ihr Volk hinschütten, ein Ahnen von Weltuntergang und Jüngstem Gericht, ein seherisches Wissen, daß die russische Erde unter ihren Füßen trächtig war der ungeheuersten Erschütterung – denn was, wenn nicht dies, schafft Armut und Sendung des Dichters, daß er prophetisch das Feurige in der Zeit und den Donner im Gewölke vorausfühle, daß er gespannt und zerquält sei vom Kreißen der Umgeburt? Bußrufer alle beide, zornige und liebeswütige Propheten, stehen sie tragisch umleuchtet am Tor eines Weltuntergangs, noch einmal versuchend, das Ungeheure abzuwehren, das schon in den Lüften schwingt, alttestamentarisch gigantische Gestalten, wie sie unser Jahrhundert nicht mehr gesehen.

      Aber nur zu ahnen vermögen sie das Werdende, nicht den Weltlauf zu wenden. Dostojewski verhöhnt die Revolution, und knapp hinter seinem Leichenzuge springt die Bombe auf, die den Zaren zerreißt. Tolstoi geißelt den Krieg und fordert die irdische Liebe: noch grünt nicht viermal die Erde über seinem Sarg, und der fürchterlichste Brudermord schändet die Welt. Seine Gestalten, die selbstgeschmähten seiner Kunst, überdauern die Zeit, aber seine Lehre zerbläst, der erste Anhauch und Wind. Den Zusammenbruch seines Gottesreiches, er hat ihn nicht mehr erlebt, aber wohl noch geahnt, denn im letzten Jahr seines Lebens, er sitzt ruhig im Kreise der Freunde, bringt ihm der Diener einen Brief, er öffnet ihn und liest:

      »Nein, Leo Nikolajewitsch, ich kann nicht mit Ihnen darin übereinstimmen, daß die menschlichen Beziehungen allein durch die Liebe verbessert werden können.