Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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hier zeitseelischen Ausdruck, wie bei Stendhal, Rousseau, Dostojewski, sondern die primitive, allzeitige, die keiner Verwandlung unterliegende – das irdische Pneuma, Urfühlen, Urangst, Ureinsamkeit des Menschen vor der Unendlichkeit. Und genau wie innerhalb des absoluten Raumes der Menschheit, so hebt innerhalb des relativen der Schaffensdauer seine gleichmäßige Meisterschaft die Zeit auf. Tolstoi hat seine erzählende Kunst nie erlernen müssen und nie verlernt, sein naturhaftes Genie kennt weder Fortschritt noch Rückschritt. Die Landschaftsschilderungen des Vierundzwanzigjährigen in den »Kosaken« und jener strahlend unvergeßliche Ostermorgen in der »Auferstehung«, sechzig Jahre, ein rauschendes Menschenalter später geschrieben, atmen ein und dieselbe unverwelkliche unmittelbare, mit allen Nerven fühlsame Frische der Natur, dieselbe plastische, mit den Fingern faßbare Anschaulichkeit der anorganisch-organischen Welt. In Tolstois Kunst gibt es also weder Lernen noch Verlernen, weder Abstieg noch Übergang, sondern ein Halbjahrhundert lang bewährt sie gleiche sachliche Vollendung; wie Felsen vor Gott, ernst und dauerhaft, starr und unabänderlich in jeder Linie, so stehen seine Werke innerhalb der weichen und veränderlichen Zeit.

      Aber gerade dank dieser ebenmäßigen und darum gar nicht persönlich-betonten Vollendung spürt man des Künstlers mitatmendes Dabeisein in seinem Kunstwerk kaum: nicht als der Erdichter einer Phantasiewelt erscheint Tolstoi, sondern bloß als Berichter unmittelbarer Wirklichkeit. Tatsächlich, man hat manchmal eine Art Scheu, Tolstoi Dichter zu nennen, poète, denn Dichter, dies schwingende Wort, meint unwillkürlich ein Andersgeartetsein, eine gesteigerte Form des Menschlichen, ein geheimnisvoll mit Mythus und Magie Verbundensein. Tolstoi dagegen ist keineswegs ein »höherer« Typus Mensch, sondern ein vollkommen diesseitiger, kein überirdischer, sondern Inbegriff aller Irdischkeit. Nirgends überschreitet er die enge Zone des Faßlichen, Sinnenklaren, Handgreiflichen; innerhalb dieses Maßes aber, welche Vollkommenheit! Er hat keine andern, keine musischen und magischen Eigenschaften über die gewöhnlichen hinaus, diese aber in unerhörter Verstärktheit: er funktioniert nur seelisch intensiver, er sieht, hört, riecht, empfindet deutlicher, klarer, weitreichender, wissender als der normale Mensch, er erinnert sich länger und logischer, er denkt rascher, kombinatorischer und präziser, kurz, jede menschliche Eigenschaft bildet sich in dem einzig vollkommenen Apparat seines Organismus mit verhundertfachter Intensität als in einer gewöhnlichen Natur heraus. Aber niemals überschwebt Tolstoi – (und deshalb wagen so wenige zu ihm das Wort: »Genie«, das bei Dostojewski selbstverständliche) – die Schranke der Normalität, niemals erscheint Tolstois Dichten vom Dämon, vom Unbegreiflichen beseelt. Wie vermag diese erdgebundene Phantasie jenseits »des sachlichen Gedächtnisses« etwas zu erfinden, was außerhalb des Gemeinmenschlichen nicht schon vorhanden wäre, immer wird darum seine Kunst fachlich, sachlich, deutlich; menschlich verbleiben, eine Taglichtkunst, eine potenzierte Wirklichkeit; darum meint man, wenn er erzählt, nicht einen Künstler, sondern die Dinge selbst sprechen zu hören. Menschen und Tiere treten aus seinem Werk wie aus ihrer eigenen warmen Wohnstatt; man fühlt, kein passionierter Dichter drängt hinter ihnen, der sie hetzt und hitzt, etwa wie Dostojewski seine Gestalten immer mit der Fieberpeitsche knutet, daß sie heiß und schreiend in die Arena ihrer Leidenschaften stürzen. Wenn Tolstoi erzählt, hört man seinen Atem nicht. Er erzählt, wie Bergbauern eine Höhe emporklimmen: langsam, gleichmäßig, stufenhaft, Schritt für Schritt, ohne Sprünge, ohne Ungeduld, ohne Ermüdung, ohne Schwäche; daher auch unser unerhörtes Beruhigtsein des Mit-ihm-Gehens. Man schwankt, man zweifelt, man ermüdet nicht, man steigt Schritt für Schritt an seiner ehernen Hand die großen Bergblöcke seiner Epen empor, und Stufe um Stufe wächst mit erweitertem Horizonte der Überblick. Langsam nur entrollen sich die Geschehnisse, erst allmählich erhellt sich die Fernsicht, aber all dies geschieht mit der unausbleiblichen uhrhaften Gewißheit, die bei einem morgendlichen Sonnenaufgang Zoll um Zoll aus der Tiefe eine Landschaft emporleuchten läßt. Tolstoi erzählt ganz unbetont einfach, wie jene Epiker der ersten Zeiten, die Rhapsoden und Psalmisten und Chronisten ihre Mythen erzählten, als noch die Ungeduld nicht unter den Menschen war, die Natur noch nicht getrennt von ihren Geschöpfen, keine humanistische Rangordnung Mensch und Tier, Pflanzen und Steine hochmütig unterschied und der Dichter dem Kleinsten und Gewaltigsten noch gleiche Ehrfurcht und Göttlichkeit gab. Für ihn besteht kein Unterschied zwischen dem heulenden Zucken eines verreckenden Hundes und dem Tode eines ordenbeladenen Generals oder dem Hinfall eines vom Wind zerknickten, absterbenden Baumes. Schönes und Häßliches, Tierisches und Pflanzliches, Reines und Unreines, Magisches und Menschliches, all dies sieht er mit dem gleichen malerischen und doch durchseelenden Blick – man spielte mit dem Wort, wollte man unterscheiden, ob er den Menschen vernatürlicht oder die Natur vermenschlicht. Keine Sphäre innerhalb des Irdischen bleibt ihm darum verschlossen, sein Gefühl gleitet aus dem rosigen Leib eines Säuglings in das schlotternde Fell eines abgetriebenen Stallpferdes und aus dem Kattunrock eines Dorfweibs in die Uniform des erlauchtesten Feldherrn, in jedem Leib, in jeder Seele gleich wissend und bluthaft daheim mit einer unbegreiflichen Sicherheit allergeheimster, fleischhaftester Wahrnehmung. Oft haben Frauen erschrocken gefragt, wie dieser Mann ihre verdecktesten und nicht mitzuerlebenden Körpergefühle gleichsam unter der Haut herausschildern konnte, das drückende Ziehen in der Brust von quellender Milch bei Müttern oder die wohltuend rieselnde Kälte über den zum erstenmal auf dem Ball entblößten Armen eines jungen Mädchens. Und wenn den Tieren eine Stimme gegeben wäre, ihr Staunen ins Wort zu treiben, so würden sie fragen, dank welcher unheimlichen Intuition er die quälende Lust eines Jagdhundes beim nahen Geruch der Wildschnepfe oder die nur in Bewegung gekleideten Instinktgedanken eines Vollbluthengstes am Start erraten konnte – man lese die Schilderung jener Jagd in »Anna Karenina« –, Detailwahrnehmungen von einer visionären Präzision, die alle Experimente der Zoologen und Entomologen von Buffon bis Fabre schildernd vorausnehmen. Tolstois Exaktheit in der Beobachtung ist an keine Abstufungen innerhalb des Irdischen gebunden: er hat keine Vorliebe in seiner Liebe. Napoleon ist seinem unbestechlichen Blick nicht mehr Mensch als der letzte seiner Soldaten und dieser letzte wiederum nicht wichtiger und wesenhafter als der Hund, der ihm nachläuft, und der Stein wiederum, den dieser mit den Pfoten tritt. Alles im Kreise des Irdischen, Mensch und Masse, Pflanzen und Tiere, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Feldherrn und Bauern strömen als sinnliche Schwingung mit derselben kristallenen Lichtgleichmäßigkeit in seine Organe ein, um ihnen ebenso ordnungshaft zu entströmen. Das gibt seiner Kunst etwas vom Ebenmaß der allzeit wahrhaftigen Natur und seiner Epik jenen meerhaft monotonen und doch großartigen Rhythmus, der immer wieder den Namen Homers beschwört.

      Wer so viel und so vollkommen sieht, braucht nichts zu erfinden, wer dermaßen dichterisch beobachtet, nichts zu erdichten. Absoluter Wachkünstler im Gegensatz zu Dostojewski, dem Visionär, braucht er die Schwelle des Wirklichen nirgends zu überschreiten, um an das Außerordentliche zu gelangen; er holt nicht Geschehnisse aus einem überweltlichen Phantasieraum heran, sondern gräbt nur in gemeine Erde, in den gewöhnlichen Menschen seine kühnen und verwegenen Stollen hinab. Und im Menschlichen wiederum kann Tolstoi sich’s erübrigen, abwegige und pathologische Naturen zu betrachten oder gar über sie hinaus wie Shakespeare und Dostojewski geheimnisvoll neue Zwischenstufen zwischen Gott und Tier, Ariels und Aljoschas, Kalibans und Karamasows zu erzaubern. Schon der alltäglichste, der banalste Bauernbursche wird in jener nur von ihm erreichten Tiefe Geheimnis: ihm genügt als Einstieg in die profundesten Schächte seiner Seelenreiche schon ein simpler Bauer, ein Soldat, ein Trunkenbold, ein Hund, ein Pferd, ein Irgendetwas, gewissermaßen das billigst vorkömmliche Menschenmaterial, keine kostbaren subtilen Seelen: diesen vollkommen durchschnittlichen Gestalten aber zwingt er ein seelisch Unerhörtes ab, und zwar nicht, indem er sie verschönt, sondern indem er sie vertieft. Sein Kunstwerk spricht nur diese eine Sprache der Wirklichkeit – dies seine Grenze –, sie aber vollkommener, als vor ihm ein Dichter sie gesprochen dies seine Größe. Für Tolstoi sind Schönheit und Wahrheit ein und dasselbe.

      So ist er – um es nochmals und deutlicher zu sagen – der sehendste aller Künstler, aber kein Seher, der vollendetste aller Wirklichkeitsberichter, aber kein erfinderischer Dichter. Nicht durch die Nerven wie Dostojewski, nicht durch Visionen wie Hölderlin oder Shelley holt sich Tolstoi seine raffiniertesten Wahrnehmungen heran, sondern einzig durch die koordinierte Aktion seiner radial wie das Licht ausschwingenden Sinne. Wie Bienen schwärmen sie ständig aus, ihm immer neuen farbigen Staub der Beobachtung zu bringen, der dann, in leidenschaftlicher Sachlichkeit gegoren, sich zum goldflüssigen Seim des Kunstwerks formt. Nur sie, seine wunderbar gehorsamen, hellsichtigen,