Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Existenz hinausreichen in den wirklichen Sprachbegriff des Volkes, Pickwick und Sam Weller, Pecksniff und Betsey Trotwood, sie alle, deren Namen in uns lächelnde Erinnerung zauberisch entfachen. Wie reich sind diese Romane! Die Episoden des David Copperfield genügten für sich allein, das dichterische Lebenswerk eines anderen mit Tatsächlichkeiten zu versorgen; Dickens’ Bücher sind eben wirkliche Romane im Sinn der Fülle und unablässigen Bewegtheit, nicht wie unsere deutschen fast alle nur ins Breite gezerrte psychologische Novellen. Es gibt wenig tote Punkte in ihnen, wenig leere sandige Strecken, sie haben Ebbe und Flut von Geschehnissen, und wirklich, wie ein Meer sind sie unergründlich und unübersehbar. Kaum kann man das heitere und wilde Durcheinander der wimmelnden Menschen überschauen; sie drängen herauf an die Bühne des Herzens, stoßen einer wieder den andern hinab, wirbeln vorbei. Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch vorbeizustreifen scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern, befeinden einander, häufen Licht oder Schatten. Krause, heitere, ernste Verwicklungen treiben in katzenhaftem Spiel den Knäuel der Handlung hin und her, alle Möglichkeiten des Gefühls klingen in rascher Skala auf und nieder, alles ist gemengt: Jubel, Schauer und Übermut; bald funkelt die Träne der Rührung, bald die der losen Heiterkeit. Gewölk zieht auf, zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am Schlusse strahlt die vom Gewitter reine Luft in wundervoller Sonne. Manche dieser Romane sind eine Ilias von tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer entgötterten irdischen Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle; aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die wildesten und melancholischsten, in den Felsen der tragischen Landschaft kleine Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so rein sind sie, so göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer könnte allein seine Menschen aufzählen, alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen und immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.

      Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares, unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. Es ist ein englisches Auge: kalt, grau, scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war es auch wie ein Tresor, in dem alles unverbrennbar, unverlierbar, gewissermaßen luftdicht abgeschlossen ruhte, was ihm irgendeinmal, gestern oder vor vielen Jahren von der Außenwelt eingezahlt worden war: das Erhabenste wie das Gleichgültigste, irgendein farbiges Schild über einem Kramladen in London, das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit gesehen, oder ein Baum mit seinen aufspringenden Blüten gerade drüben vor dem Fenster. Nichts ging diesem Auge verloren, es war stärker als die Zeit; sparsam reihte es Eindruck an Eindruck im Speicher des Gedächtnisses, bis der Dichter ihn zurückforderte. Nichts rann in Vergessenheit, wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete, blieb voll Duft und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte. Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges. Mit seiner stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der Kindheit; in »David Copperfield«, dieser verkappten Autobiographie, sind Erinnerungen des zweijährigen Kindes an die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe wie Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten. Es gibt keine vagen Konturen bei Dickens; er gibt nicht vieldeutige Möglichkeiten der Vision, sondern zwingt zur Deutlichkeit. Seine darstellende Kraft läßt der Phantasie des Lesers keinen freien Willen, er vergewaltigt sie (weshalb er auch der ideale Dichter einer phantasielosen Nation wurde). Stellt zwanzig Zeichner vor seine Bücher und verlangt die Bilder Copperfields und Pickwicks: die Blätter werden sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher Ähnlichkeit den feisten Herrn mit der weißen Weste und den freundlichen Augen hinter den Brillengläsern oder den hübschen blonden, ängstlichen Knaben auf der Postkutsche nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so scharf, so minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen muß; er hatte nicht den magischen Blick Balzacs, der die Menschen der feurigen Wolke ihrer Leidenschaften sich erst chaotisch formend entringen läßt, sondern einen ganz irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten, sagte er einmal, sind es, die den Sinn des Lebens ausmachen. Sein Blick hascht nach kleinen Merkzeichen, er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen hilflosen Gesten der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die unter einer dunkeln Perücke hervorlugt, wenn ihr Eigner in Zorn gerät. Er spürt die Nuancen, tastet die Bewegung jedes einzelnen Fingers bei einem Händedruck ab, die Abschattung in einem Lächeln. Er war Jahre vor seiner literarischen Zeit Stenograph im Parlament gewesen und hatte sich dort geübt, das Ausführliche ins Summarische zu drängen, mit einem Strich ein Wort, mit kurzem Schnörkel einen Satz darzustellen. Und so hat er später dichterisch eine Art Kurzschrift des Wirklichen geübt, das kleine Zeichen hingestellt statt der Beschreibung, eine Essenz der Beobachtung aus den bunten Tatsächlichkeiten destilliert. Für diese kleinen Äußerlichkeiten hatte er eine unheimliche Scharfsichtigkeit, sein Blick übersah nichts, faßte wie ein guter Verschluß am photographischen Apparat das Hundertstel einer Sekunde in einer Bewegung, einer Geste. Nichts entging ihm. Und diese Scharfsichtigkeit wurde noch gesteigert durch eine ganz merkwürdige Brechung des Blicks, die den Gegenstand nicht wie ein Spiegel in seiner natürlichen Proportion wiedergab, sondern wie ein Hohlspiegel ins Charakteristische übertrieb. Dickens unterstreicht immer die Merkzeichen seiner Menschen, er dreht sie aus dem Objektiven hinüber ins Gesteigerte, ins Karikaturistische. Er macht sie intensiver, erhebt sie zum Symbol. Der wohlbeleibte Pickwick wird auch seelisch zur Rundlichkeit, der dünne Jingle zur Dürre, der Böse zum Satanas, der Gute die leibhaftige Vollendung. Dickens übertreibt wie jeder große Künstler, aber nicht ins Grandiose, sondern ins Humoristische. Die ganze, so unsäglich ergötzliche Wirkung seiner Darstellung entwuchs nicht so sehr seiner Laune, nicht seinem Übermut, sondern sie saß schon in dieser merkwürdigen Winkelstellung des Auges, das mit seiner Überschärfe alle Erscheinungen irgendwie ins Wunderliche und Karikaturistische übertrieben auf das Leben zurückspiegelte.

      Tatsächlich: in dieser eigenartigen Optik – und nicht in seiner ein wenig zu bürgerlichen Seele – steckt Dickens’ Genie. Dickens war eigentlich nie Psychologe, einer, der magisch die Seele des Menschen erfaßt, aus ihrem hellen oder dunklen Samen in geheimnisvollem Wachstum sich die Dinge in ihren Farben und Formen entfalten ließ. Seine Psychologie beginnt beim Sichtbaren, er charakterisiert durch Äußerlichkeiten, allerdings durch jene letzten und feinsten, die eben nur einem dichterisch scharfen Auge sichtbar sind. Wie die englischen Philosophen, beginnt er nicht mit Voraussetzungen, sondern mit Merkmalen. Die unscheinbarsten, ganz materiellen Äußerungen des Seelischen fängt er ein und macht an ihnen durch seine merkwürdig karikaturistische Optik den ganzen Charakter augenfällig. Aus Merkmalen läßt er die Spezies erkennen. Dem Schullehrer Creakle gibt er eine leise Stimme, die mühsam das Wort gewinnt. Und schon ahnt man das Grauen der Kinder vor diesem Menschen, dem die Anstrengung des Sprechens die Zornader über die Stirne schwellen läßt. Sein Uriah Heep hat immer kalte, feuchte Hände: schon atmet die Gestalt Mißbehagen, schlangenhafte Widrigkeiten. Kleinigkeiten sind das, Äußerlichkeiten, aber immer solche, die auf das Seelische wirken. Manchmal ist es eigentlich nur eine lebendige Schrulle, die er darstellt; eine Schrulle, die mit einem Menschen umwickelt ist und ihn wie eine Puppe mechanisch bewegt. Manchmal wieder charakterisiert er den Menschen durch seinen Begleiter – was wäre Pickwick ohne Sam Weller, Dora ohne Jip, Barnaby ohne den Raben, Kit ohne das Pony! – und zeichnet die Eigentümlichkeit der Figur gar nicht an dem Modell selbst, sondern am