Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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darum wirken sie meistens immer nur äußerlich, sinnfällig, sie erzeugen eine intensive Erinnerung des Auges, eine nur vage des Gefühls. Rufen wir in uns eine Figur Balzacs oder Dostojewskis beim Namen auf, den Père Goriot oder Raskolnikow, so antwortet ein Gefühl, die Erinnerung an eine Hingebung, eine Verzweiflung, ein Chaos der Leidenschaft. Sagen wir uns Pickwick, so taucht ein Bild auf, ein jovialer Herr mit reichlichem Embonpoint und goldenen Knöpfen auf der Weste. Hier spüren wir es: an die Figuren Dickens’ denkt man wie an gemalte Bilder, an die Dostojewskis und Balzacs wie an Musik. Denn diese schaffen intuitiv, Dickens nur reproduktiv, jene mit dem geistigen, Dickens mit dem körperlichen Auge. Er faßt die Seele nicht dort, wo sie geisterhaft, nur von dem siebenfach glühenden Licht der visionären Beschwörung bezwungen, aus der Nacht des Unbewußten steigt, er lauert dem unkörperlichen Fluidum auf, dort, wo es einen Niederschlag im Wirklichen hat, er hascht die tausend Wirkungen des Seelischen auf das Körperliche, aber dort übersieht er keine. Seine Phantasie ist eigentlich bloß Blick und reicht darum nur aus für jene Gefühle und Gestalten der mittleren Sphäre, die im Irdischen wohnen; seine Menschen sind nur plastisch in den gemäßigten Temperaturen der normalen Gefühle. In den Hitzegraden der Leidenschaft zerschmelzen sie wie Wachsbilder in Sentimentalität, oder sie erstarren im Haß und werden brüchig. Dickens gelingen nur geradlinige Naturen, nicht jene ungleich interessanteren, in denen die hundertfachen Übergänge vom Guten zum Bösen, vom Gott zum Tier fließend sind. Seine Menschen sind immer eindeutig, entweder vortrefflich als Helden oder niederträchtig als Schurken, sie sind prädestinierte Naturen mit einem Heiligenschein über der Stirne oder dem Brandmal. Zwischen good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen und Gefühllosen pendelt seine Welt. Darüber hinaus, in die Welt der geheimnisvollen Zusammenhänge, der mystischen Verkettungen, weiß seine Methode keinen Pfad. Das Grandiose läßt sich nicht greifen, das Heroische nicht erlernen. Es ist der Ruhm und die Tragik Dickens’, immer in einer Mitte geblieben zu sein zwischen Genie und Tradition, dem Unerhörten und dem Banalen: in den geregelten Bahnen der irdischen Welt, im Lieblichen und im Ergreifenden, im Behaglichen und Bürgerlichen.

      Aber dieser Ruhm genügte ihm nicht: der Idylliker sehnte sich nach Tragik. Immer wieder hat er zur Tragödie emporgestrebt, und immer kam er nur zum Melodram. Hier war seine Grenze. Diese Versuche sind unerfreulich: mögen in England die »Geschichte der beiden Städte«, »Bleak House« für hohe Schöpfungen gelten, für unser Gefühl sind sie verloren, weil ihre große Geste eine erzwungene ist. Die Anstrengung zum Tragischen ist in ihnen wirklich bewundernswert: in diesen Romanen türmt Dickens Konspirationen, wölbt große Katastrophen wie Felsblöcke über den Häuptern seiner Helden, er beschwört den Schauer der Regennächte, den Volksaufstand und die Revolutionen, entfesselt den ganzen Apparat des Grauens und Entsetzens. Aber doch, jener erhabene Schauer stellt sich nie ein, er wird nur ein Gruseln, der rein körperliche Reflex des Entsetzens, und nicht der Schauer der Seele. Jene tiefen Erschütterungen, jene gewitterhaften Wirkungen, die vor Angst das Herz sehnsüchtig stöhnen lassen nach der Entladung im Blitz, brechen nie mehr aus seinen Büchern. Dickens türmt Gefahr über Gefahren, aber man fürchtet sie nicht. Bei Dostojewski starren manchmal plötzlich Abgründe, man jappt nach Luft, wenn man dieses Dunkel, diesen namenlosen Abgrund in der eigenen Brust aufgerissen fühlt; man fühlt den Boden unter den Füßen schwinden, spürt einen jähen Schwindel, einen feurigen, aber süßen Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen, und schauert doch zugleich vor diesem Gefühl, wo Lust und Schmerz zu so ungeheuren Hitzegraden weißgeglüht sind, daß man sie voneinander nicht scheiden kann. Auch bei Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf, füllt sie mit Schwärze, zeigt ihre ganze Gefahr; aber doch, man schauert nicht, man hat nicht jenen süßen Schwindel des geistigen Niederstürzens, der vielleicht der höchste Reiz künstlerischen Genießens ist. Man fühlt sich bei ihm immer irgendwie sicher, als hielte man ein Geländer, denn man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen; man weiß, der Held wird nicht untergehen; die beiden Engel, die mit weißen Flügeln durch die Welt dieses englischen Dichters schweben, Mitleid oder Gerechtigkeit, werden ihn schon unbeschädigt über alle Schründe und Abgründe tragen. Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik. Er ist nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille zum Trotz, Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne. Zu der tränenlosen, wortlosen, letzten Gewalt des verzweifelten Schmerzes ist Dickens nie gelangt: sanfte Rührung – etwa der Tod Doras im »Copperfield« – ist das äußerste ernste Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag. Holt er zum wirklich wuchtigen Schwung aus, so fällt ihm immer das Mitleid in den Arm. Immer glättet das (oft ranzige) Öl des Mitleids den heraufbeschworenen Sturm der Elemente; die sentimentale Tradition des englischen Romans überwindet den Willen zum Gewaltigen. Das Finale muß eine Apokalypse sein, ein Weltgericht, die Guten steigen nach oben, die Bösen werden bestraft. Dickens hat leider diese Gerechtigkeit in die meisten Romane übernommen, seine Schurken ertrinken, ermorden sich gegenseitig, die Hochmütigen und Reichen machen Bankrott, und die Helden sitzen warm in der Wolle. Diese echt englische Hypertrophie des moralischen Sinnes hat Dickens’ grandioseste Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert. Denn die Weltanschauung dieser Werke, der eingebaute Kreisel, der ihre Stabilität aufrechterhält, ist nicht die Gerechtigkeit des freien Künstlers mehr, sondern die eines anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle, statt sie frei wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac ihr elementares Überschäumen, sondern lenkt sie durch Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie die Mühlen der bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend, der common-sense-Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen sie unsichtbar mit ihm in der Werkstatt des Künstlers und mengen sich ein: sie verleiten ihn, den ernsten Roman statt ein demütiges Nachbild der freien Wirklichkeiten lieber ein Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein zu lassen. Freilich, belohnt ward die gute Gesinnung: als Dickens starb, wußte der Bischof von Winchester an seinem Werk zu rühmen, man könne es beruhigt jedem Kinde in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das Leben nicht in seinen Wirklichkeiten zeigt, sondern so, wie man es Kindern darstellen will, schmälert seine überzeugende Kraft. Für uns Nichtengländer strotzt und protzt es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held bei Dickens zu werden, muß man ein Tugendausbund sein, ein puritanisches Ideal. Bei Fielding und Smollet, die ja doch auch Engländer waren, allerdings Kinder eines sinnefreudigeren Jahrhunderts, schadet es dem Helden absolut nicht, wenn er einmal bei einem Raufhandel seinem Gegenüber die Nase eintreibt oder wenn er trotz aller hitzigen Liebe zu seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette schläft. Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich harmlos, ihre Vergnügungen noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller, der Libertin. Wo steckt denn eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er trinkt vier Glas Ale statt zwei, zahlt seine Rechnungen höchst unregelmäßig, bummelt ein wenig, das ist alles. Und zum Schluß macht er im rechten Augenblick eine Erbschaft – eine bescheidene natürlich – und heiratet höchst anständig das Mädchen, das ihm auf die Bahn der Tugend half. Wahrhaft unmoralisch sind bei Dickens nicht einmal die Schurken, selbst sie haben trotz allen bösen Instinkten blasses Blut. Diese englische Lüge der Unsinnlichkeit sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige Hypokrisie, die übersieht, was sie nicht sehen will, wendet Dickens den spürenden Blick von den Wirklichkeiten. Das England der Königin Viktoria hat Dickens verhindert, den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine innerste Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen in seine eigene satte Mediokrität, hätte ihn ganz mit den klemmenden Armen der Beliebtheit zum Anwalt seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem Künstler nicht eine Welt frei gewesen, in die seine schöpferische Sehnsucht hätte flüchten können, hätte er nicht jene silberne Schwinge besessen, die ihn stolz über die dumpfen Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten hob: seinen seligen und fast unirdischen Humor.

      Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der Nebel Englands nicht niederhängt, ist das Land der Kindheit. Die englische Lüge verschneidet die Sinnlichkeit in den Menschen und zwingt den Erwachsenen in ihre Gewalt; die Kinder aber leben noch paradiesisch unbekümmert ihr Fühlen aus, sie sind noch nicht Engländer, sondern nur kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte Welt schattet noch nicht der englische Nebelrauch der Hypokrisie. Und hier, wo Dickens frei, unbehindert von seinem englischen Bourgeoisgewissen schalten durfte, hat er Unsterbliches geleistet. Die Jahre der Kindheit in seinen Romanen sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der Weltliteratur diese Gestalten vergehen, diese heiteren und ernsten