Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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seines Schicksals – darum Fanatiker seines Kontrastes. Die Heißglut seines künstlerischen Temperaments entsteht einzig aus der fortwährenden Reibung dieser Gegensätze, und statt sie zu vereinen, reißt der Maßlose in ihm den eingeborenen Zwiespalt immer weiter auseinander zu Himmel und Hölle. Dostojewski, der Künstler, ist das vollkommenste Gegensatzprodukt, der größte Dualist der Kunst und vielleicht der Menschheit. Symbolisch bringt eins seiner Laster diesen Urwillen seiner Existenz in sichtbare Form: seine krankhafte Liebe zum Glücksspiel. Der Knabe schon ist leidenschaftlicher Kartenspieler, aber erst in Europa lernt er den Teufelsspiegel seiner Nerven kennen: das Rouge et Noir, das Roulett, dieses in seinem primitiven Dualismus so grausam gefährliche Spiel. Der grüne Tisch in Baden-Baden, die Spielbank in Monte Carlo sind seine stärksten Ekstasen in Europa: mehr als die Sixtinische Madonna, die Plastiken Michelangelos, die Landschaften des Südens, Kunst und Kultur aller Welt hypnotisieren sie seinen Nerv. Denn hier ist Spannung, Entscheidung – Schwarz oder Rot, Gerad oder Ungerad, Glück oder Vernichtung, Gewinn oder Verlust – in eine einzige Sekunde des rollenden Rades gepreßt, Spannung, konzentriert zu jener schmerzhaft-lustvollen Blitzform des springenden Gegensatzes, die einzig seinem Charakter entspricht. Die sanften Übergänge, die Ausgleiche, die matten Steigerungen sind seiner fiebrischen Ungeduld unerträglich, er mag nicht Geld verdienen auf deutsche, auf »Wurstmacherart«, durch Umsicht, Sparsamkeit und Berechnung, ihn reizt der Zufall, die Hingabe an das Ganze. Wie das Schicksal mit ihm spielte, so spielt er nun mit dem Schicksal: er reizt den Zufall zu künstlichen Spannungen, und gerade wenn er gesichert ist, wirft er immer mit zitternder Hand seine ganze Existenz auf den grünen Tisch. Dostojewski ist nicht Spieler aus Geldhunger, sondern aus unerhörtem »unanständigem«, aus Karamasowschem Lebensdurst, der alles in den stärksten Essenzen will, aus krankhafter Sehnsucht nach Schwindligkeit, aus jenem »Turmgefühl«, der Lust, sich über den Abgrund zu beugen. Dostojewski provoziert im Glücksspiel das Schicksal: was er einsetzt, ist nicht Geld und immer sein letztes Geld, sondern damit seine ganze Existenz; was er ihm abgewinnt, ist äußerster Nervenrausch, tödliche Schauer, Urangst, das dämonische Weltgefühl. Selbst im goldenen Gift hat Dostojewski nur neuen Durst nach dem Göttlichen getrunken.

      Selbstverständlich, daß er diese Leidenschaft wie jede andere über alles Maß hinaus bis zum Äußersten, bis hinein in das Laster trieb. Haltzumachen, Vorsicht, Bedenklichkeit waren diesem Titanentemperament fremd: »Überall und in allem, mein ganzes Leben lang habe ich die Grenze überschritten.« Und dies, Grenzen zu überschreiten, ist künstlerisch seine Größe wie menschlich seine Gefahr: er macht nicht halt vor den Zäunen der bürgerlichen Moral, und niemand weiß genau zu sagen, wie weit sein Leben die juridische Grenze überschritten hat, wieviel von den verbrecherischen Instinkten seiner Helden in ihm selbst Tat geworden ist. Einzelnes ist bezeugt, doch wohl das Geringere nur. Als Kind hat er betrogen im Kartenspiel, und wie sein tragischer Narr Marmeladow in »Schuld und Sühne« aus Gier nach Branntwein die Strümpfe seiner Frau, so stiehlt auch Dostojewski der seinen Geld und ein Kleid aus dem Schrank, um es im Roulett zu verspielen. Wie weit seine sinnlichen Ausschweifungen aus den »Kellerjahren« ins Perverse hinüberzittern, wieviel von den »Spinnen der Wollust« Swidrigailow, Stawrogin und Fedor Karamasow sich auch bei ihm in sexuellen Verstörungen auslebte, wagen die Biographen nicht zu erörtern. Seine Neigungen und Perversitäten, auch sie wurzeln jedenfalls in der geheimnisvollen Kontrastgier von Verderbtheit und Unschuld, aber es ist nicht wesenhaft, diese Legenden und Konjekturen (so deutsam sie sind) zu erörtern. Wichtig ist nur, nicht zu verkennen, daß dem Heiland, dem Heiligen, dem Aljoscha in Dostojewski-Karamasow der Gegenspieler des Wollüstlings, des überreizten Sexualmenschen, der schmutzige Fedor im Blute verschwistert war.

      Nur dies ist gewiß: Dostojewski war auch in seiner Sinnlichkeit Überschreiter des bürgerlichen Maßes und dies nicht im linden Sinn Goethes, der einst in dem berühmten Worte sagte, daß er die Anlagen zu allen Schändlichkeiten und Verbrechen lebendig in sich empfände. Denn Goethes ganze gewaltige Entwicklung bedeutet nichts als eine einzige, ungeheure Anstrengung, diese gefährlich wuchernden Keime in sich auszuroden. Der Olympier will zur Harmonie, seine höchste Sehnsucht ist Zerstörung alles Gegensatzes, Erkältung des Blutes, die ruhevolle Schwebe der Kräfte. Er verschneidet die Sinnlichkeit in sich, er rottet unter stärksten Blutverlusten für seine Kunst alle gefährlichen Keime allmählich um der Sittlichkeit willen aus, allerdings mit dem Gemeinen auch viel von seiner Kraft vernichtend. Dostojewski aber, leidenschaftlich in seinem Dualismus wie in allem, was ihm vom Leben zugefallen, will nicht empor zur Harmonie, die für ihn Starre ist, er bindet nicht seine Gegensätze ins Göttlich-Harmonische, sondern spannt sie auseinander zu Gott und Teufel und hat dazwischen die Welt. Er will unendliches Leben. Und Leben ist ihm einzig elektrische Entladung zwischen den Polen des Kontrastes. Was Keim in ihm war, das Gute und das Schlechte, das Gefährliche und das Fördernde, muß empor, alles wird an seiner tropischen Leidenschaft Blüte und Frucht. Seine Moral geht nicht auf Klassizität, auf eine Norm, sondern einzig auf Intensität. Richtig leben heißt für ihn: stark leben und alles leben, beides zugleich, das Gute und das Schlechte, und beides in seinen stärksten, berauschendsten Formen. Deshalb hat Dostojewski nie eine Norm gesucht, sondern immer nur die Fülle. Neben ihm steht Tolstoi inmitten seines Werkes beunruhigt auf, hält inne, läßt die Kunst und quält sich ein Leben lang, was gut sei, was böse, ob er richtig lebe oder falsch. Tolstois Leben ist darum didaktisch, ein Lehrbuch, ein Pamphlet, das Dostojewskis ein Kunstwerk, eine Tragödie, ein Schicksal. Er handelt nicht zweckmäßig, nicht bewußt, er prüft sich nicht, er verstärkt sich nur. Tolstoi klagt sich aller Todsünden an, laut und vor allem Volke. Dostojewski schweigt, aber sein Schweigen sagt mehr von Sodom, als alle Anklagen Tolstois. Dostojewski will sich nicht beurteilen, nicht verändern, nicht verbessern, nur immer eines: sich verstärken. Gegen das Böse, gegen das Gefährliche seiner Natur leistet er keinen Widerstand, im Gegenteil, er liebt seine Gefahr als Antrieb, er vergöttert seine Schuld um der Reue willen, seinen Stolz für die Demut. Kindlich wäre es darum, ihn moralisch zu »entschuldigen« und für die kleine Harmonie des bürgerlichen Maßes zu retten, was die elementare Schönheit des Maßlosen hat.

      Wer den Karamasow schuf, die Gestalt des Studenten aus der »Jugend«, den Stawrogin der »Dämonen«, den Swidrigailow des »Raskolnikow«, diese Fanatiker des Fleisches, diese großen Besessenen der Wollust, diese wissenden Meister der Unzucht, dem waren im Leben auch die niedrigsten Formen der Sinnlichkeit persönlich bewußt, denn eine geistige Liebe zur Ausschweifung ist vonnöten, um diesen Gestalten ihre grausame Realität zu geben. Seine unvergleichliche Reizbarkeit kannte die Erotik in ihrem doppelten Sinn, kannte die der fleischlichen Trunkenheit, wo sie in den Schlamm taumelt und Unzucht wird, bis zu ihren feinsten geistigen Abstiegen, wo sie zur Bosheit, zum Verbrechen erstarrt, er kannte sie unter allen ihren Masken, und mit wissendstem Blick lächelt er in ihre Raserei. Und er kennt sie in ihren edelsten Formen, wo die Liebe fleischlos wird, Mitleid, seliges Erbarmen, Weltbruderschaft und stürzende Träne. All diese geheimnisvollen Essenzen waren in ihm und nicht nur in flüchtigen chemischen Spuren, wie bei jedem wahrhaften Dichter, sondern in den reinsten, kräftigsten Extrakten. Mit sexueller Erregung und einer fühlbaren Vibration der Sinne ist jede Ausschweifung bei ihm geschildert und vieles wohl mit Lust erlebt. Damit meine ich aber nicht (Blutfremde mögen es so verstehen), daß Dostojewski ein Wüstling war, einer, der sich freute am Fleischlichen, ein Lebemann. Er war nur lustsüchtig, wie er qualsüchtig war, ein Leibeigener des Triebes, Sklave einer herrischen geistigen und körperlichen Neugier, die ihn mit Ruten ins Gefährliche hineinpeitschte, ins Dornendickicht der abseitigen Wege. Seine Lust, auch sie ist nicht banales Genießen, sondern Spiel und Einsatz der ganzen sinnlichen Lebenskraft, das Immer-wieder-und-wieder-empfinden-Wollen der geheimnisvollen gewitterigen Schwüle der Epilepsie, Konzentration des Gefühles in ein paar gespannte Sekunden gefährlicher Vorlust und dann der dumpfe Niedersturz in die Reue. Er liebt in der Lust nur das Flimmern von Gefahr, das Spiel der Nerven, dies Naturhafte innerhalb des eigenen Körpers, er sucht in einer seltsamen Mischung von Bewußtheit und dumpfer Scham in jeder Lust das Gegenspiel, den Bodensatz der Reue, in der Schändung die Unschuld, im Verbrechen die Gefahr. Dostojewskis Sinnlichkeit ist ein Labyrinth, in dem sich alle Wege verschlingen, Gott und das Tier sind nachbarlich in einem Fleische, und man verstehe in diesem Sinn das Symbol der Karamasow, daß Aljoscha, der Engel, der Heilige, gerade der Sohn Fedors, der grausamen »Spinne der Wollust«, ist. Wollust zeugt die Reinheit, das Verbrechen die Größe, Lust das Leiden und das Leiden wieder Lust. Ewig berühren sich die Gegensätze: zwischen Himmel