Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Versunkenheit, das Irdische seiner Züge, seine Tiefe durch Glauben erleuchtet, so durchstrahlt auch im Werke das geistige Licht die dumpfe Materie. Aus Leiden scheint Dostojewskis Welt einzig gestaltet. Und doch ist nur scheinbar die Summe alles Leidens in seinen Menschen größer als in jedem anderen Werke. Denn in ihnen wirkt etwas, das der Wollust, der Lust am Glück, tiefsinnig die Wehlust, die Lust an der Qual, gegenüberstellt: ihr Leiden ist zugleich ihr Glücklichsein, sie halten es fest mit den Zähnen, wärmen es an ihrer Brust, sie schmeicheln es mit den Händen, sie lieben es mit ihrer ganzen Seele. Und sie wären nur dann die Unglücklichsten, liebten sie es nicht. Dieser Tausch, der rasende frenetische Tausch des Gefühls im Innern, diese ewige Umwertung des Dostojewskischen Menschen kann vielleicht nur ein Beispiel ganz klarmachen, und ich wähle eines, das in tausend Formen wiederkehrt: das Leid, das einem Menschen infolge einer Erniedrigung, einer tatsächlichen oder eingebildeten, widerfährt. Irgendeiner, ein schlichtes sensitives Geschöpf, gleichgültig ob ein kleiner Beamter oder eine Generalstochter, wird beleidigt. In seinem Stolz gekränkt durch ein Wort, eine Nichtigkeit vielleicht. Diese erste Kränkung ist der Primäreffekt, der den ganzen Organismus in Aufruhr bringt. Der Mensch leidet. Er ist gekränkt, liegt auf der Lauer, spannt sich an und wartet – auf eine neue Kränkung. Und die zweite Kränkung kommt: also eigentlich Häufung des Leidens. Aber seltsam, sie tut nicht mehr weh. Zwar der Gekränkte klagt, er schreit, aber seine Klage ist schon nicht mehr wahr: denn er liebt diese Kränkung. In diesem »Fortwährend-sich-seiner-Schmach-bewußt-Sein ist ein unnatürlicher heimlicher Genuß«. Für den beleidigten Stolz hat er einen neuen: den des Märtyrers. Und jetzt entsteht in ihm der Durst nach neuer Kränkung, nach mehr und mehr. Er beginnt zu provozieren, er übertreibt, er fordert heraus: das Leiden ist jetzt seine Sehnsucht, seine Gier, seine Lust: man hat ihn erniedrigt, so will er (der Mensch ohne Maß) ganz niedrig sein. Und er gibt es nicht her mehr, sein Leiden, mit verbissenen Zähnen hält er es fest: jetzt wird der Hilfreiche sein Feind, der Liebende. So schlägt die kleine Nelly dem Arzt dreimal das Pulver ins Gesicht, so stößt Raskolnikow Sonja zurück, so beißt Iljutschka den frommen Aljoscha in die Finger – aus Liebe, aus fanatischer Liebe zu ihrem Leiden. Und alle, alle lieben sie das Leiden, weil sie darin das Leben, das geliebte, so stark spüren, weil sie wissen, »man kann auf dieser Erde nur durch Leiden wahrhaft lieben«, und das wollen sie, das vor allem! Es ist ihr stärkster Existenzbeweis: statt des cogito, ergo sum, »ich denke, also bin ich«, setzen sie das: »ich leide, also bin ich«. Und dieses »Ich bin« ist bei Dostojewski und allen seinen Menschen der höchste Triumph des Lebens. Der Superlativ des Weltgefühls. Im Kerker jauchzt Dimitry die große Hymne an dieses »Ich bin«, an die Wollust des Seins, und eben um dieser Liebe zum Leben willen ist ihnen allen das Leiden notwendig. Nur scheinbar, sagte ich, ist darum die Summe des Leidens größer bei Dostojewski als bei allen anderen Dichtern. Denn wenn es eine Welt gibt, wo nichts unerbittlich ist, aus jedem Abgrund noch ein Weg führt, aus jedem Unglück noch Ekstase, aus jeder Verzweiflung noch Hoffnung, so ist es die seine. Was ist dies Werk anderes als eine Reihe von modernen Apostelgeschichten, Legenden der Erlösung vom Leiden durch den Geist? Der Bekehrungen zum Lebensglauben, der Kalvariengänge zur Erkenntnis? Der Wege nach Damaskus mitten durch unsere Welt?

      In Dostojewskis Werk ringt der Mensch um seine letzte Wahrheit, um sein allmenschliches Ich. Ob ein Mord geschieht oder eine Frau in Liebe brennt, alles das ist Nebensache, Außensache, Kulisse. Sein Roman spielt im innersten Menschen, im Seelenraum, in der geistigen Welt: die Zufälle, die Ereignisse, die Schickungen des äußeren Lebens sind nur Stichworte, Maschinerie, der szenische Rahmen. Die Tragödie ist immer innen. Und sie heißt immer: die Überwindung der Hemmungen, der Kampf um die Wahrheit. Jeder seiner Helden fragt sich, wie Rußland selbst: Wer bin ich? Was bin ich wert? Er sucht sich oder vielmehr den Superlativ seines Wesens im Haltlosen, im Raumlosen, im Zeitlosen. Er will sich erkennen als der Mensch, der er vor Gott ist, und er will sich bekennen. Denn jedem Dostojewski-Menschen ist die Wahrheit mehr als Bedürfnis, sie ist ihm ein Exzeß, eine Wollust und das Geständnis seine heiligste Lust, sein Spasma. Im Geständnis bricht bei Dostojewski der innere Mensch, der Allmensch, der Gottesmensch durch den irdischen, die Wahrheit – und dies ist Gott – durch seine fleischliche Existenz. O die Wollust, mit der sie darum mit dem Geständnis spielen, wie sie es verbergen und – Raskolnikow vor Porphyri Petrowitsch – immer heimlich zeigen und wieder verstecken, und dann wieder, wie sie sich überschreien, mehr Wahrheit bekennen als wahr ist, wie sie in rasendem Exhibitionismus ihre Blößen aufdecken, wie sie Laster und Tugend vermengen – hier, nur hier, im Ringen um das wahre Ich sind die eigentlichen Spannungen Dostojewskis. Hier, ganz innen ist der große Kampf seiner Menschen, die mächtigen Epopöen des Herzens: hier, wo das Russische, das Fremdartige in ihnen sich aufzehrt, hier wird auch ihre Tragödie erst ganz zur unseren, zur allmenschlichen, und restlos erleben wir im Mysterium der Selbstgeburt den Mythos Dostojewskis vom neuen Menschen, vom Allmenschen in jedem Irdischen.

      Das Mysterium der Selbstgeburt: so nenne ich in der Kosmogonie, in der Weltschöpfung Dostojewskis die Erschaffung des neuen Menschen. Und ich möchte versuchen, die Geschichte aller Naturen Dostojewskis in einer zu erzählen, als seinen Mythos: denn alle diese verschiedenartigen, hundertfach variierten Menschen haben im letzten nur ein einheitliches Schicksal. Alle leben sie Varianten eines einzigen Erlebnisses: der Menschwerdung. Gleich ist all seiner Helden Anbeginn. Als echte Russen beunruhigt sie ihre eigene Lebenskraft. In den Jahren der Pubertät, des sinnlichen und geistigen Erwachens, verdüstert sich ihnen der heitere und freie Sinn. Dumpf fühlen sie in sich eine Kraft gären, ein geheimnisvolles Drängen; irgend etwas Eingesperrtes, Wachsendes und Quellendes will aus ihrem noch unmündigen Kleid. Eine geheimnisvolle Schwangerschaft (es ist der neue Mensch, der in ihnen keimt, aber sie wissen es nicht) macht sie träumerisch. Sie sitzen »einsam bis zur Verwilderung« in dumpfen Stuben, in einsamen Winkeln und denken, denken Tag und Nacht über sich nach. Jahrelang brüten sie oft dahin in dieser seltsamen Ataraxie, sie verharren in einem fast buddhistischen Zustand der Seelenstarre, sie beugen sich tief über den eigenen Leib, um wie die Frauen in den frühen Monaten das Klopfen dieses zweiten Herzens in sich zu erlauschen. Alle geheimnisvollen Zustände der Befruchteten überkommen sie: die hysterische Angst vor dem Tode, das Grauen vor dem Leben, krankhafte, grausame Begierden, sinnliche perverse Gelüste.

      Endlich wissen sie, daß sie befruchtet sind von irgendeiner neuen Idee: und nun suchen sie das Geheimnis zu entdecken. Sie schärfen ihre Gedanken, bis sie spitz und schneidend werden wie chirurgische Instrumente, sie sezieren ihren Zustand, sie zerreden ihre Bedrückung in fanatischen Gesprächen, sie zerdenken ihr Gehirn, bis es sich in Wahnsinn zu entflammen droht, sie schmieden alle ihre Gedanken in eine einzige fixe Idee, die sie bis ans letzte Ende denken, in eine gefährliche Spitze, die sich in ihrer Hand gegen sie selbst wendet. Kirillow, Schatow, Raskolnikow, Iwan Karamasow, alle diese Einsamen haben »ihre« Idee, die des Nihilismus, die des Altruismus, die des napoleonischen Weltwahns, und alle haben sie ausgebrütet in dieser krankhaften Einsamkeit. Sie wollen eine Waffe gegen den neuen Menschen, der aus ihnen werden soll, denn ihr Stolz will sich gegen ihn wehren, ihn unterdrücken. Andere wieder suchen dieses geheimnisvolle Keimen, diesen drängenden, gärenden Lebensschmerz, mit aufgepeitschten Sinnen zu überrasen. Um im Bilde zu bleiben: sie suchen die Frucht abzutreiben, wie Frauen von Treppen springen oder durch Tanz und Gifte sich vom Unerwünschten zu befreien trachten. Sie toben, um dies leise Quellen in sich zu übertönen, sie zerstören manchmal sich selbst, nur um diesen Keim zu zerstören. Sie verlieren sich mit Absicht in diesen Jahren. Sie trinken, sie spielen, sie werden ausschweifend und all dies (sie wären sonst nicht Menschen Dostojewskis) fanatisch bis zur letzten Raserei. Schmerz treibt sie in ihre Laster, nicht eine lässige Begierde. Es ist nicht ein Trinken um Zufriedenheit und Schlaf, nicht das deutsche Trinken um die Bettschwere, sondern um den Rausch, um das Vergessen ihres Wahnes, ein Spielen nicht um Geld, sondern um die Zeit zu ermorden, ein Ausschweifen nicht um der Lust willen, sondern um in der Übertreibung ihr wahres Maß zu verlieren. Sie wollen wissen, wer sie sind; darum suchen sie die Grenze. Den äußersten Rand ihres Ich wollen sie in Überhitzung und Abkaltung kennen und vor allem die eigene Tiefe. Sie glühen in diesen Lüsten bis zum Gott empor, sie sinken bis zum Tier hinab, aber immer, um den Menschen in sich zu fixieren. Oder sie versuchen, da sie sich nicht kennen, sich wenigstens zu beweisen. Kolja wirft sich unter einen Eisenbahnzug, um sich zu »beweisen«, daß er mutig ist, Raskolnikow ermordet die alte Frau, um seine Napoleonstheorie zu beweisen, sie tun alle mehr, als sie eigentlich wollen, nur um an die äußerste Grenze des Gefühls zu