Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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Jahrzehnten erweist es sich, daß nur zwei der Capitanias, die von São Vincente und Pernambuco – Nova Lusitânia genannt – dank der rationellen Zuckeranpflanzung prosperieren. Die anderen geraten durch Gleichgültigkeit ihrer Besitzer, durch Mangel an Kolonisten, durch die Feindseligkeit der Eingeborenen und verschiedene Katastrophen zu Wasser und zu Land bald in einen anarchischen Zustand. Die ganze Küste droht in Stücke zu zerfallen; abgesondert voneinander, ohne Übereinkommen, ohne gemeinschaftliches Gesetz, ohne Kriegsmacht, ohne Befestigungen und Soldaten liegen die Capitanias jeder feindlichen Macht, ja sogar jedem einzelnen verwegenen Korsaren täglich zur Beute bereit. Und verzweifelt schreibt am 12. Mai 1548 Luís de Góis an den König: »Wenn Eure Majestät nicht in kürzester Zeit den Capitanias an der Küste zur Hilfe kommen, werden nicht nur wir unser Leben und unsere Besitzungen verlieren, sondern auch Eure Majestät das ganze Land.« Wenn Portugal nicht Brasilien einheitlich organisiert, ist Brasilien verloren. Nur ein entschlossener Vertreter des Königs, ein governador geral, der auch militärische Macht mit sich bringt, kann Ordnung schaffen und rechtzeitig die abbröckelnden Stücke in eine Einheit zusammenschweißen.

      Es bedeutet eine große Entscheidung in der Geschichte Brasiliens, daß der König João III. den Hilferuf rechtzeitig erhört und als Gouverneur Tomé de Sousa, einen schon in Afrika und Indien bewährten Mann, am 1. Februar 1549 mit dem Auftrag entsendet, an irgendeiner Stelle, am besten in Bahia, eine Hauptstadt zu begründen, von der aus das ganze Land endlich einheitlich verwaltet werden soll.

      Tomé de Sousa bringt außer der erforderlichen Beamtenschaft sechshundert Soldaten und vierhundert Degredados mit, die alle späterhin in der Stadt oder auf dem Lande sich ansiedeln werden. Auch das Nötigste an Material für den Aufbau der Stadt wird ausgeschifft, und sofort macht sich alles gemeinsam ans Werk; in vier Monaten wird eine Festungsmauer errichtet, um den Platz zu verteidigen, Häuser und Kirchen werden errichtet, wo vordem nur klägliche Lehmhütten gestanden. Eine koloniale und eine städtische Verwaltung wird in dem vorläufig noch höchst provisorischen Palêcio do Governo eingerichtet und als sichtbarstes Zeichen einer endlich eingeführten und schon höchst notwendigen Justiz ein cêrcere erbaut, erster mahnender Hinweis auf den Willen zu strenger künftiger Ordnung. Alle sollen fühlen, daß sie nicht mehr Ausgesetzte, Vergessene, Exilierte und Heimatlose sind jenseits von Recht und Pflicht, sondern angeschlossen an das heimische Gesetz. Mit der Gründung einer Hauptstadt und der Einsetzung eines Gouverneurs hat der bisher bloß amorphe Organismus Brasilien ein Herz und ein Hirn gewonnen.

      Sechshundert Soldaten oder Matrosen und vierhundert Degredados nimmt Tomé de Sousa mit sich, tausend Männer im Harnisch oder rauhen Arbeitshemd; aber wichtiger als diese tausend Männer des Arms und der Kraft werden für das Schicksal Brasiliens die sechs Männer in schlichten dunklen Kutten sein, die der König zu geistiger Führung und geistlicher Beratung Tomé de Sousa mitgegeben. Denn diese sechs Männer bringen das Kostbarste, was ein Volk und ein Land zu seiner Existenz benötigt: eine Idee und zwar die eigentlich schöpferische Idee Brasiliens. Diese sechs Jesuiten haben eine neue und noch ganz unverbrauchte Energie, denn ihr Orden ist jung und voll heiligen Eifers, seinen besonderen Sinn zu bewähren. Noch lebt der Führer Ignacio de Loyola, der ihn begründet, noch gibt sein asketischer Wille, seine eherne Denkkraft, sein zielklarer Fanatismus ihnen sinnliches, sichtliches Beispiel der Selbstdisziplin; wie bei allen religiösen Bewegungen ist bei den Jesuiten die seelische Intensität, die sittliche Reinheit in den Jahren des Anfangs und vor dem eigentlichen Erfolg auf der höchsten Stufe. 1550 sind die Jesuiten noch keine geistliche, weltliche, politische, ökonomische Macht wie in den späteren Jahrhunderten – denn jede Form von Macht vermindert die moralische Reinheit eines Menschen wie einer Partei. Besitzlos in jedem Sinne der einzelne wie der Orden, verkörpern sie nur einen bestimmten Willen, also ein durchaus noch geistiges, noch nicht ins Irdische ganz eingemengtes Element. Und sie kommen zur besten Stunde, denn für ihre großartige Konzeption, durch geistige Kriegerschaft die religiöse Einheit der Welt wiederherzustellen, bedeutet die Entdeckung der neuen Erdteile einen unerhörten Gewinn. Seit 1519 der wilde Deutsche auf dem Reichstag von Worms den religiösen Weltkrieg entfachte, ist Europa schon zu einem Drittel und beinahe zur Hälfte von der Kirche abgefallen und der Katholizismus, einstmals die ecclesia universalis, eher in die Verteidigungsstellung gedrängt. Welcher Vorteil darum, wenn man die neuen Welten, die sich plötzlich aufgetan haben, rechtzeitig für den alten, den wahren Glauben erobern und damit gleichsam eine zweite und breitere Front hinter der ersten schaffen könnte! Da die Jesuiten nichts fordern, keine Besoldung, keine Bevorzugung, billigt der König João ihre Absicht, dies neue Land für den Glauben zu gewinnen und gestattet sechs dieser »Soldaten Christi«, die Expedition zu begleiten. Aber in Wirklichkeit werden diese Sechs nicht die Begleiter, sondern die Führer sein.

      Mit diesen sechs Männern beginnt etwas Neues für Brasilien. Alle vor ihnen waren entweder auf Befehl oder aus Zwang oder auf der Flucht gekommen; wen bislang ein Schiff absetzte an diesem Strand, der wollte etwas aus diesem Lande herausholen, Holz oder Früchte oder Vögel oder Erze oder Menschen; keiner hatte daran gedacht, dem Lande etwas als Gegengabe zu bringen. Die Jesuiten, das sind die ersten, die nichts für sich und alles für das Land wollen. Sie führen Pflanzen und Tiere mit sich, um die Erde zu befruchten, sie bringen Medizinen, um die Menschen zu heilen, Bücher und Instrumente, um die Ungebildeten zu belehren, sie bringen ihren Glauben und die von ihrem Lehrer disziplinierte sittliche Zucht, sie bringen vor allem eine neue Idee, die größte kolonisatorische Idee der Geschichte. Vor ihnen bei den barbarischen Völkern und neben ihnen unter dem spanischen Regime bedeutet Kolonisieren entweder die Eingeborenen ausrotten oder zu Tieren machen; Entdeckung ist sonst für die Konquistadorenmoral des sechzehnten Jahrhunderts identisch mit Eroberung, Unterordnung, Unterjochung, Entrechtung, Versklavung. Sie dagegen als os únicos homens disciplinados do seu tempo, wie sie Euclides da Cunha nannte, denken über diesen Raubbauprozeß hinaus an den Aufbauprozeß, an die nächsten Generationen und antizipieren vom ersten Augenblick im neuen Lande die moralische Gleichsetzung aller mit allen. Gerade weil die Urbevölkerung im Tiefstand lebt, soll sie nicht noch tiefer zu Tierheit und Sklaverei herabgedrückt werden, sondern zum Menschen erhoben und auf dem Wege über das Christentum zur abendländischen Zivilisation geführt werden: eine neue Nation soll hier durch Mischung und Erziehung entwickelt werden. Dieser schöpferischen Idee dankt es im letzten Brasilien, daß es aus einem Konglomerat verschiedenster Elemente ein Organismus und aus den offenbarsten Gegensätzen eine Einheit geworden ist.

      Selbstverständlich wissen die Jesuiten, daß eine Aufgabe solcher Tragweite nicht sofort zu lösen ist. Die Jesuiten sind keine vagen und verworrenen Träumer und ihr Lehrer Ignacio de Loyola kein Franz von Assisi, der an eine milde Brüderlichkeit der Menschen glaubt. Sie sind Realisten und durch ihre Exerzitien geschult, Tag für Tag neu die Energie zu stählen, um den unermeßlichen Widerstand der menschlichen Schwächen in der Welt zu überwinden. Sie wissen um die Gefährlichkeit und Langwierigkeit ihrer Aufgabe. Aber gerade daß ihr Ziel von Anfang an vollkommen ins Weite, ins Jahrhundertweite, ja ins Ewige gerichtet ist, hebt sie so großartig ab von der Beamtenschaft und Kriegerschaft, die raschen und sichtbaren Gewinn für sich und das Heimatland wollen. Die Jesuiten wissen genau, daß Generationen und Generationen nötig sein werden, um diesen Prozeß des abrasileiramento zu vollenden, und daß jeder von ihnen, der sein Leben, seine Gesundheit, seine Kraft an diesen Anfang wagt, auch nicht die flüchtigsten Resultate seiner Bemühungen jemals selbst erschauen wird. Es ist mühsame Saatarbeit, die sie beginnen, mühsame und scheinbar aussichtslose Investition, aber gerade daß sie in völlig ungepflügtem Land einsetzt und in einem Land ohne Grenzen, steigert ihre Anspannung, statt sie zu vermindern; wie das rechtzeitige Kommen der Jesuiten ein Glücksfall für Brasilien, so ist Brasilien ein Glücksfall für sie, weil die ideale Werkstatt für ihre Idee. Nur dadurch, daß niemand vor ihnen hier wirkte und niemand neben ihnen wirkt, können sie ein welthistorisches Experiment hier im vollen Umfang verwirklichen, Materie und Geist, Stoff und Form, ein leeres, völlig unorganisiertes Land und eine noch unerprobte Methode der Organisation begegnen sich, um etwas Neues und Lebendiges zu schaffen.

      Ein besonderes Glück in dieser glücklichen Begegnung einer gewaltigen Aufgabe und einer noch gewaltigeren Energie, die sich anschickt, sie zu bewältigen, ist die Gegenwart eines wirklichen Führers. Manuel da Nóbrega, dem der Auftrag seines Provinzials, nach Brasilien zu reisen, derart rasch zufällt, daß er nicht einmal Zeit mehr hat, von dem Meister des Ordens,