der Abenteuerlust in den Ferien fast verdeckt worden war, das trübe Schicksal, das sich immer fester in den Wänden unseres Hauses einnistete, stand Plötzlich scharf und drohend vor mir: Mein Vater litt zwar nicht mehr unter den Anfeindungen und Verunglimpfungen seiner Mitbürger, aber alles mied ihn wie einen Verfemten und sein Geschäft wie eine Spelunke. Das Hufeisen auf der Ladentürschwelle rostete, weil die Füße der Kunden seine beuligen Nägel nicht mehr blank kratzten. Die Werktafeln donnerten nicht mehr unter Hammerschlägen. Vor Wochen war der letzte Gesell davongegangen, denn er hatte es nicht ausgehalten, den ganzen Tag auf dem Rössel zu sitzen und die Daumen umeinanderzudrehen. Die Freude an meinen Fortschritten hielt meinen Vater allein noch aufrecht und brachte von Zeit zu Zeit den alten Mut in seine Augen.
Die Hoffnung, die er auf das Gelingen meines Lebens setzte, hatten ihn auch das Geschick leichter überwinden lassen, das über den Dorn-Schuster hereingebrochen war. »Schon lange«, so etwa schrieb meine Mutter, »lag ein schwerer Kummer wie ein grauer Schimmel über sein Gesicht. Er saß öfter als sonst an unserm Tisch; aber kaum, daß er sich niedergelassen hatte, regierte eine Unruhe in ihm, die ihn die Füße aneinanderstoßen, die Hände durchwinden ließ, in der Stube umhertrieb und unversehens zur Tür hinausjagte. Vor drei Wochen nun, in den Abendstunden, schlüpfte er ängstlich in unser Zimmer und schloß schon die Tür hinter sich, bevor er kaum die Füße umgestellt hatte, ganz wie einer, dem die Häscher auf den Fersen sind. Dann saß er eine Weile stumm auf der Fensterbank und starrte mit verzweifelter Aufmerksamkeit auf seine Hände. Ein Geräusch im Flur trieb ihn in die Höhe. Er steckte dem Vater schnell einen Beutel voll harten Geldes zu und zwängte sich dann in den engen Spalt zwischen Glasschrank und Wand. Anfangs verhielt er sich ruhig in seinem Versteck. Bald aber redete er wirr und halblaut von allem, was ihn getroffen hatte. Sein Sohn, der Robert, hatte seine Stelle in Wien verlassen und sich der Vagabondage ergeben. Vom Diebstahl war er zum Raub übergegangen und sah nun in einem Tiroler Kerker seiner Bestrafung entgegen. Dorns Frau hatte der Gram auf den Dachboden gelockt und sie dort mit der Wäscheleine erwürgt. Er müsse, so stotterte Dorn fortwährend in großer Angst, jetzt auf der Hut sein, daß man ihn nicht auch einsperre, weil er der Vater eines Räubers sei und seine Frau getötet habe. Leider erwiesen sich die Worte des Irren als Wahrheit. Der Vater beruhigte den Armen durch gütigen Zuspruch, zog ihn hinter dem Schrank hervor, führte ihn durch die Stadt, und als sie vor dem Krankenhause standen, redete er ihm vor, sie seien jetzt auf dem Bahnhof und wollten nach Berlin fahren. Nach einer Viertelstunde tobte der Beklagenswerte schon in der Zwangsjacke. Allein innerhalb vierzehn Tagen verließen ihn die Angstvorstellungen. Mit ihnen schwand jede Erinnerung an sein bisheriges Leben, und seine Seele blühte in wirrer, kindhafter Heiterkeit wieder auf.« Das schrieb meine Mutter, kürzer und treffender, wie ich es sagen kann, in jener kargen Art, zu der Menschen durch ein hartes Leben gelangen. Am Schlusse stellte sie es mir anheim, zu handeln, wie ich müsse. Natürlich konnte da von so oder anders wollen nicht mehr die Rede sein. Jetzt von der Anstalt abzugehen hieß, meinem Vater, der schon gebeugt dastand, von hinten unversehens einen Stoß versetzen, daß er auf das Gesicht hinschlug. Noch erblickte ich die ganze Welt durch meine Tränen hindurch als eine graue, formlose Masse, aber ich sprang auf und lief den Pfad hinunter der Chaussee zu, die sich im Tale hindehnte wie eine gelbe, endlose Pfütze. Mein Leiden, der Aufruhr des Zweifels, alles, was mich in den Tagen gleich einem hitzigen Fieber auf- und abgeworfen hatte, sank in mich hinein und lebte dort weiter als eine lauernde Unruhe, ein scheeles, verstohlenes Aufhorchen. Ja, es schwand zeitweise ganz aus meinem Bewußtsein, da mich die Arbeiten zur Aspirantenprüfung ganz in Anspruch nahmen. Eine fast krankhafte Sucht und Empfänglichkeit kam über mein ohnehin leicht- und treufassendes Gedächtnis. Aber wenn ich so aus dem Katechismus oder der Bibel memorierte, sagte es in mir: Es ist ja alles nicht wahr! Dann lächelte ich triumphierend, als habe ich etwas Wichtiges gefunden, und gieriger verschlang ich allen religiösen Lernstoff, nur um mir immer von neuem die Beteuerung geben zu können, daß man das alles den Menschen nur vormache.
Den Beweis für diese rein mechanische Leugnung lieferte mir vorderhand allein meine schlimme Erfahrung. Immer deutlicher klangen auch die Worte des Tischlers aus grauer Erinnerung herüber, die so kraß an dem Bilde Gottes herumgedeutet hatten, an jenem Abende, als ihn mein Vater über unsere Schwelle getrieben. Sie nagten und minierten in meiner Seele, ohne daß ich die Kraft fand, ihnen Einhalt zu tun. Was sage ich? Mir war es im Gegenteil recht, so einsam zu sitzen oder zu liegen und den geheimen Schauer dieser verborgenen, fortschreitenden Vernichtung über mich ergehen zu lassen. Aber erhob ich mich dann, so fühlte ich mich betäubt, erschlafft, gallig, leer, wie einer, der großen Hunger hat und nichts besitzt, um ihn zu stillen.
Vielleicht bin ich damals zerbrochen und habe seitdem das Leben anderer geführt.
Vielleicht auch habe ich mich doch noch gerettet, und war es nur in jenem verwehten Lichte, das am Horizonte der damaligen inneren Öde stand, immer machtlos tröstete und doch nicht ganz erlosch. –
Vielleicht auch täusche ich mich mit einer Täuschung. Denn es ist wohl ebenso unmöglich, sich restlos zu erkennen, als man mit seinem Blick sich auf den Grund seines Auges sehen kann.
... Kastner! Schläfst du? Ich kann nicht mehr. Komm, gib mir die Hand und geh'! – Wenn ich soweit bin, will ich dir schreiben.«
Ende der zweiten Nacht.
Die dritte Nacht
Acht Tage später, solange hatte Faber gebraucht, aus tiefer Aufregung zu innerer Entschiedenheit zu kommen, saß ich meinem Freunde in seinem Stübchen wieder gegenüber. Der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Die Dämmerung stand noch, wie ein hellgrauer, leidenschaftlicher Hitzedunst, draußen. Das Weiß der getünchten Hauswände und das Grün der Birken am fernen Grenzhügel glasteten aus diesem Verkochen des Tages mit krankhaft übertriebener Schärfe. Der Amselruf aus dem Walde der Feistelberge schnitt dann und wann als schrilles, hysterisches Gellen durch die Dämmerung und hinterließ eine beklemmte Stille, ein peinliches Aufhorchen. Durch die Kronen der Obstbäume ging der Wind ganz leise und geruhig und führte solch schwaches Rauschen vorüber, daß es nur in den stockenden Augenblicken zu vernehmen war, doch so verhaucht, daß man im Zweifel sein konnte, woher es rühre. Es schien auch durch das Haus zu wehen, über die Stiegen hinauf und hinab, an der Tür vorbei. Faber hob den Kopf und lauschte hinaus auf den Gang. »Hörst du?« fragte er dann gedämpft, »es schleichen draußen Kleider über die Stufen, stehen gebauscht vor unserer Tür und streifen über den Boden.«
»Ich würde das für die Laute des leisen Windes halten«, sagte ich.
Er lächelte und zuckte mit den Achseln.
»Nun, wir können uns ja überzeugen«, sprach ich und erhob mich, um zu gehen und durch die Tür zu blicken.
Aber er streckte abwehrend den Arm aus. »Ach nein, laß nur«, sagte er gütig. »Mag das Mädchen immer horchen. Wir wollen sie nicht beschämen.«
Dann senkte er den Kopf, und indem er die Diele entlang sah, sprach er versonnen mehr zu sich als zu mir: »Übrigens ist es seltsam, daß wir oft zu hören meinen, was wir denken. –
Verwandelt die Natur uns, oder verwandeln wir das Gesicht und den Laut der Dinge?« Er hob das Gesicht wieder, das er über seine gelassen gefalteten Hände geneigt hatte. »Wenn man darin klar entscheiden könnte, wäre dem Menschen der größte Teil schwerster Verantwortlichkeit genommen. So oder so. Denn nur die Sicherheit, alles oder nichts zu vermögen, wäre die wahre Lebensfreiheit. So kommen wir in der Empfindung, als Geschobene oder Abgleitende wirken zu müssen, nie zu einem klaren Bilde von uns und bei Welt. Und wenn nicht dieser unbeirrbar leise Ruf stillster Stunden in mir lebte, dieses tiefste, geheimnisvolle Lied wäre, vor dem es kein draußen und drinnen, kein oben und unten gibt, ich weiß nicht, wohin mich die Verfinsterungen dieser letzten Tage geführt hätten. Ein Hoffen, das so unzerstörbar ist, weil es gar so unbegreiflich erscheint, lockt uns aus Dunkel durch Nächte und steht doch so ferne wie die Morgenhelle des Frühlings um drei Uhr nach Mitternacht. Aber doch liegt in ihm jene grandiose Macht unserer Seele, die imstande ist, das Stückwerk dieses Lebens zu einer notwendigen, heiligen Angelegenheit des Weltalls umzuschaffen.