von dem unter den Schülern nur noch halbverlorene, geheimnisvolle Sagen gingen. Unter entsprechenden Zeremonien erfolgte meine Aufnahme. Eines Tages führte mich ein blasser Junge mit tiefliegenden, großen Augen auf wirren Steigen weit in den Wald hinein und verschwand dann plötzlich von meiner Seite mit der Warnung, mich nicht von der Stelle zu rühren, wenn mir mein Leben lieb sei. Ich kauerte mich geduldig nieder. Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein. Nichts als das Sieden der Nadeln war über mir, und dann und wann fiel ein Fladen Sonnenlicht durch die Wipfel wie ein goldenes Eichhörnchen und lief über das Moos. Auf einmal schoß fern ein hoher Singruf durch das Dämmern des Waldes, da und dort antwortete es, rundumher. Und kam immer näher. »Amozim!« rief es von allen Seiten. Es war, als schieße man mit dem Wort auf mich. Plötzlich, als blase jemand ein Licht aus, erlosch das Getöse, und ich hörte nichts als das Knacken dürrer Zweige unter eilenden Füßen. Im nächsten Augenblick stand eine Schar Knaben im Kranz um mich, und ich hörte nur ihren keuchenden Atem. Sie hatten alle ihr Gesicht mit Ruß schwarz gefärbt, wie Bergleute, die von der Schicht kommen. Ihre Augen rollten, und die roten Lippen sahen aus wie die Lefzen von Raubtieren. Jeder trug ein Stearinlicht in der Hand, stoßbereit gefaßt, als sei es ein Dolch. Ich erhob mich. Da ließen alle wieder den Ruf los, den ich eben gehört hatte: »Amozim!« Ihre Stimmen waren jetzt gewaltsam gedämpft. Denn es sollte klingen wie das Zusammenschlagen von Schilden. Dann ordneten sie sich zu Paaren. Mit einem sanften Griff dirigierte mich ein ewiger Bruder, der durch ein weißes Kreuz an der Stirn als Haupt des Bundes kenntlich gemacht war, an die Spitze des Zuges, und schweigend setzten wir uns in Bewegung. Ohne Weg, quer durch den Hochwald, über eine Schlucht ging es dem geheimnisvollen Ziele zu. Nachdem wir uns durch die peitschenden Äste einer Schonung gewunden hatten, standen wir endlich vor dem Klubgebäude. Es war eine aus Stangen, Steinen und Moos errichtete Hütte, die mit einem Ofenrohr eine dünne Peitschenschnur von Rauch in die Luft blies; drinnen war sie so niedrig, daß die Größeren fast an die Decke stießen. Ein kleines Reisigfeuer brannte auf niedrigem Steinherd. Um den gruppierten sich die Brüder, schoben mich in die Mitte und entzündeten an dem Feuer ihre Lichter. Die Tür war zugeschlossen worden, und da kein Fenster vorhanden war, standen wir bald in dicker, qualmender Nacht. Es war eine Szene aus der Unterwelt, und ich muß sagen, daß mein Herz mit furchtvollen Schlägen darüber quittierte. »Amozim!« murmelten alle wieder. Auf diesen Ruf trat das Oberhaupt an mich heran und entfaltete ein altes, schwarzes Buch. Rechts und links, wie bei einem Pontifikalamt, stellten sich Kerzenträger auf. Nun begann der Häuptling die Beschwörungsformel abzulesen: »Ich, der redende Brunnen, Herr und Meister der Brüder des ewigen Waldes, beschwöre dich, rufe und befehle dir, durch die Macht des Fleisch gewordenen Wortes, durch die Macht des ewigen Vaters, wie auch durch die Kraft dieser Worte: Messias, Satan, Emanuel, Sabaoth, Adonai, Athanatos, Tetragrammatron, Elohim, Heloi, El, Sadai, Jehovah, Jesus, Alpha und Omega, daß du mir gehorsam und beantwortest alle an dich gerichteten Fragen und Befehle.«
Dann legte er mir allerhand seltsame Fragen vor, und jedesmal mußte ich antworten: »Ich will und schwöre!« Die Befehle lauteten furchtbar, mir wurde fast übel davon. Darauf erhielt ich den Namen »der reißende Bär«. Am Ende drohte mir »der redende Brunnen« mit dem schrecklichen Bannfluch des heiligen Adalbert, wenn ich Verrat an der Brüderschaft üben sollte. Er verfluchte mein Bett, mein Weib, meine Kinder, Felder, Scheunen, Haus, Vieh und alles, was an mir lebte. Ich geriet in einen Taumel und trieb wie in einer schwatzenden Turbine rundum. Nachdem ich von »wilden« Tieren zerrissen, verbrannt, gehenkt und erwürgt worden war, gehörte ich der Brüderschaft an. Jeder berührte mit dem Zeigefinger seine Lippen und legte mir ihn auf den Mund. Danach stießen alle ihr Licht in der Herdasche aus, wobei sie abermals »Amozim« murmelten, setzten sich nieder und aßen die mitgebrachten Butterschnitten. Gespräche, als wohnten wir im Mittelpunkt der Erde, als trüge uns der Wind, als wären wir jeder ein Asmodis, würzten das Mahl. Bald redete »der Totenvogel«, bald »das Einhorn«. Aber es kam dabei doch gar nichts Reales heraus. Wir liefen eigentlich nur alle vierzehn Tage ein paar Stunden mit geschwärzten Gesichtern im Walde herum und aßen unser Butterbrot, sammelten Reisig, riefen fleißig »Amozim« und hatten eigentlich alle eine Heidenangst vor dem »grünen Teufel«, dem Förster. So ging das einige Monate hin, und es gewährte mir eine ungemeine Lust, von Zeit zu Zeit aus meinem Leben austreten zu dürfen, alles hinter mir lassend, in einer anderen Welt, als fremdes Wesen, zugleich groß und verborgen vor mir, am Anfange der Dinge zu stehen. Oft, wenn ich mit weißgewaschenem Gesicht dem Walde enteilte und wieder durch die Straßen ging, empfand ich das Leben der Leute und auch mein eigenes Dasein als eine Vermummung, einen Spuk. Das Reden und Sichgebaren der Menschen kam mir ungemein zwecklos vor. Ganz genau erinnere ich mich eines Gedankens, der mich wie eine Erleuchtung überfiel, als ich einst sah, wie ein Mann seine eingespannten Ochsen durch die Straßen führte. Ich erkannte, wie der Mensch dem Tier ebenso dient, wie dieses ihm und ebenso von ihm gefesselt und unterjocht wird, wie er es gängelt und seiner Freiheit beraubt. Nur wußte ich aus dieser Erkenntnis noch nichts zu machen, sondern empfand bloß eine große, glückvolle Unruhe bei diesem Fremd- und Neuwerden in der Welt.
Erst die Folgen des Zusammenbruchs der Brüderschaft fügten die Erlebnisse in den Fortgang meiner Entwicklung. Eines Tages gelangte die Nachricht in die Stadt, das Beinhaus neben der Kapelle auf dem Stachelberge sei von einem Frevler geschändet worden. Der Mensch hatte in der Nacht die Tür erbrochen und einen der dort aufgestapelten Totenschädel gestohlen. Der Klausner war von dem Gepolter erwacht. Als er auf den kleinen Platz vor die Wallfahrtskapelle trat, sah er aus dem Beinhaus einen Schatten huschen und mit wieselartiger Schnelle den Berg hinunterhasten. Der Gottesstreiter stürzte sich ins Kirchlein und wimmerte mit der winzigen Glocke seine Angst ins Tal. Die Stadt geriet in die größte Aufregung. Wir Schüler redeten von nichts als von dem geheimnisvollen Diebstahl auf dem Stachelberge und strömten in dicken Scharen an den Ort des Unheils, um mit angenehmem Gruseln uns alles genau anzusehen und für den Verwegenen grenzenlose Bewunderung zu fassen.
Nur einer von allen blieb still, bleich und gleichgültig. Es war Hirzel, »der redende Brunnen«, das Haupt der »ewigen Brüder«. Er hatte vor Wochen seine Mutter, die er abgöttisch liebte, durch den Tod verloren. Seitdem war der sanfte Junge mit den tiefliegenden Augen schwermütiger und einsilbiger als sonst. Für alles hatte er nur ein bitter-schmerzliches Lächeln. Dieses Hinschmelzen wich nach und nach scheuem Brüten. Es kam vor, daß er, der sich immer einsam hielt, mitten im Gange stockte, in einen Winkel oder hinter eine Tür trat und mit den Augen irgend etwas aus dem Boden bohrte. Bei der letzten Neuaufnahme in unserem Geheimbund war er geradezu furchterregend gewesen. In Inbrunst und Qual hatte er den Strom verwilderter Worte wie aus kochendem Eingeweide hervorgestoßen, daß sein Atem wie rot und knisternd zwischen den Lichtern über das alte Hexenbuch hinfuhr. Dann sank er erschöpft auf die Grasbank und hielt lange den schwarzen Band mit so verzweifeltem Griff auf den Knien fest, als sei er ein Verspielter und dies seine letzte Rettung. Das grüne Waldlicht zitterte durch die Türspalte über sein blasses Gesicht. Aber er erhob sich nicht und ließ das Buch nicht los. Ich schlich mich als letzter davon und wagte nicht, ihn aus der finsteren Verzückung zu reißen.
In der zweiten Nacht nach dem Diebstahl verschwand er. Als er am anderen Tage noch nicht wiederkam, mußte es dem Dirigenten der Anstalt gemeldet werden, der sofort eine peinliche Umfrage unter uns Schülern anstellte, aber nichts erfuhr, als daß Hirzel das letzte Mal auf dem Heimwege aus den Abendstudien gesehen worden war, die gemeinsam in den Klassen abgehalten wurden. Der Dirigent schrieb an Hirzels Vater, einen armen Weber tief im Gebirge. Ehe aber Antwort kam, drei Tage nach seinem Verschwinden, stolperte Hirzel in der tiefen Dämmerung über die Schwelle seiner Wirtsleute und brach dort zusammen. Man trug ihn aufs Bett, wo er kalkweiß ohne Lebenszeichen liegen blieb. Ein Böttcher desselben Hauses flößte ihm einige Löffel Kornbranntwein ein. Nach einigen Augenblicken hob er tastend den Arm und hauchte Worte. »Um Jesu willen, einen Bissen Brot«, flüsterte er kaum hörbar, sog eine Tasse Milch aus und verschlang die Butterschnitte. Unter Lachen und Weinen kaute er hastig und gierig wie ein halbverhungertes Tier, daß die Frauen, die ihn umstanden, sich vor Erbarmen wegwenden muhten. Dann streckte er sich im Bett, atmete einigemal vor Erschöpfung laut auf und schlief ein, indem er fortwährend lautlos die Lippen bewegte, wie es Menschen vor übergroßer Schwache tun. So schlief er Tag und Nacht und Macht und Tag. Die Mahlzeiten nahm er niedergeschlagenen Auges ein und antwortete auf keine Frage, die an ihn gerichtet wurde. Seine Kleider waren feucht, über und über mit Schmutz bedeckt und rochen dumpfsäuerlich,