zerwühltem Lager gekauert habe, herunterzutragen. Das geheimnisvolle Etwas, das mich aus der Kammer gelockt, sei also niemand als sie selbst gewesen. Alles übrige müsse ich als Ausgeburt des Fiebers betrachten und über niemand davon reden, sonst könne es soweit kommen, daß mich die Leute für einen Nachtwandler hielten und überall verspotteten.
Mit hilfesuchenden Augen sah ich meine Mutter an, die all das mit der Überzeugungskraft geredet hatte, die großer Liebe eigen ist; aber trotz unbedingter Hingabe an sie, gelang es mir nicht vollkommen, das als Spuk anzusehen, was mich mit geheimem Glück erfüllte, ungeachtet ich vor der Tatsächlichkeit der schrecklichen Folgen für Rinke zugleich wünschte, es möge alles nur eine Heimsuchung des Fiebers gewesen sein. Mein Vater hatte während des Zuspruchs meiner Mutter am Fenster gestanden und uns den Rücken zugewandt. Jetzt, da ich bestürzt schwieg, kehrte er zurück, blickte mich lange überlegend an, schloß dann die Augen und nickte sich versonnen zu. »Hm, hm,« sagte er darauf mit etwas spöttischem Lächeln, »du willst also mit einem Streichholz dem Manne ins Gesicht geleuchtet haben?« Ich brachte ein furchtsames »Ja« heraus. »Und glaubst fest, daß es der Tischler Rinke gewesen sei?« fragte er weiter. Ein Zug im Gesicht meines Vaters, ein Schwingen seiner Stimme gab mir den sicheren Glauben an das Erlebnis der Nacht plötzlich wieder, und ich antwortete unerschrocken: »Ja, es war ganz gewiß Rinke. Er lag da, und aus seiner Wunden Stirne floß Blut.«
Nach einer langen Pause, die er wieder geschlossenen Auges zubrachte, sagte mein Vater mit einem schwach sieghaften Blick auf meine ängstlich gewordene Mutter zu mir: »Nun, Franz, beruhige dich. Wenn es Rinke gewesen wäre, so hätten wir ihn oder seine Leiter heut morgen finden müssen, nicht wahr?«
»Aber hast du nicht den zerbrochenen Farbentopf und die Schablone gefunden?« fragte ich, obwohl das Lächeln meines Vaters längst zur bitteren Grimasse geworden war und sein Auge in zehrender Glut brannte.
Statt mir zu antworten, wandte er sich an meine Mutter. »Ich glaube,« sagte er, »die Ladentürklingel ging.« Am liebsten wäre ich auch aufgesprungen und ihr nachgelaufen, die ohne ein Wort sich erhob und eilig auf den Flur verschwand, denn alle Gesten meines Vaters waren eisig gemessen und umständlich, als bereite sich in ihm ein verheerendes Gewitter. Beklommen streckte ich mich ins Bett zurück. Da stand er auch schon hart neben mir, beugte sich über mich und sprach mit unnatürlich leiser Stimme: »Es kann natürlich nicht anders sein, als wie deine Mutter gesagt hat; denn warum hättest du das alles auch wagen sollen?« Ich mußte meine Augen schließen vor seiner furchtbaren Nähe. »Franz, du?« fragte er noch einmal und legte seine Hand auf meine Achsel. Mir schlug das Herz, und ich glaubte, es sei nun alles vorbei, darum wagte ich zu bekennen, was ich in all den Jahren ersehnt hatte. »Weil ich dir so gut bin. Vater!« hauchte ich und lag regungslos und ergeben. Aber statt schneidendes Gelächter zu hören, fühlte ich einen langen Kuß auf meiner Stirn, und seine tiefergriffene Stimme sagte: »Mein lieber Sohn.«
Es war mir unmöglich, die Augen zu öffnen; ich ward wie von Wellen geschaukelt, und doch lag ich in einem Schein strahlenden Lichtes. Er hat mich geküßt, mein Vater hat mich geküßt, sang es in mir, und mein Herz schlug gleich einem unbändigen Vogel. Als ich endlich die Augen erhob, war ich allein. Der Sonnenschein glühte zitternd über dem Dach der gegenüberliegenden Mühle; das Pfeifen der Stare im Spitalgarten war zum Schmettern geworden; das Blau des Himmels flatterte wie eine Fahne aus dem weißen Gewölk. Mein ganzes Leben war eine Süßigkeit von Anbeginn. Durch die Wand, an der ich lag, hörte ich meiner Mutter bedachtsames Wirtschaften; von der Werkstatt her sprang vielfältiges Gehämmer durch die Diele. Es war, als klänge um mich die Emsigkeit guter Geister, die nichts anderes trieb, als mein Bestes zu wirken.
In dieser Gehobenheit und tiefinnerlichen Sicherheit brachte ich den ganzen Tag zu. Und obwohl am andern Morgen der Glaube an die Wirklichkeit meines Kampfes mit dem Tischler noch ganz sicher bestand, war das Ereignis selbst mir nicht mehr so bedeutsam, daß ich hätte dadurch versucht werden können, meiner Eltern Wunsch zu brechen. Wir war es genug zu wissen, es solle verborgen bleiben, und daß meine Seele, die nicht begriff, wozu die Schweigsamkeit gut sei, so tat, als wäre ihr alles klar und nötig, das verlieh mir vor mir eine über die Jahre hinausgehende Würde. Im stillen stellte ich mir schon vor, wie ich mit meinem Vater rede, neben ihm sitze oder hergehe, und wie er sich hin und wieder zu mir neige, wie zu einem Freunde. Wenn ich in Gedanken bis zu diesem Ereignis gekommen war, so wußte ich immer nicht, was mein Vater zu mir sagen würde. Ich sah nur im Geiste seine schwarzen Augen unverwandt auf mich gerichtet, die mehr glühten als sonst, weil sein Gesicht so sehr blaß war, und sein Schnurrbart zitterte wie in leisem Winde. Aber was ich ihm sagen lassen sollte, konnte ich nicht herauskriegen. Den ganzen Nachmittagunterricht, während des Schreibens und Lesens, hatte ich mich mit meinem Vater umhergetrieben und war immer herzlicher geworden. Allein, wenn die Hauptsache kommen sollte, wenn er sich zu mir neigte, wurde sein Gesicht weiß, sein Auge bohrte, sein Schnurrbart zitterte, aber er sagte kein Wort mehr. Als ich nun aus der Schule heraustrat auf den Platz, fuhr ein Tischlerjunge auf einem Zweiräder zwei lange, neue Bretter vorüber und hielt mit seinem Gefährt an der Kirche, vor dem engen Pförtchen, das von außen auf das Chor der Jungfrauen führte. Ich bemerkte, daß es einer von den Lehrlingen des Tischlers Rinke sei, ging in der Reihe mit meinen Mitschülern bis um die nächste Straßenecke und lief dann auf den Platz zurück, trotzdem der Aufpasser einen unangenehmen Lärm machte. Der Junge saß auf den Brettern und kraute sich den Kopf. Mit Steinen, die ich vor mir herrollte, spielte ich mich an ihn heran. Als ich hart neben ihm war, richtete ich mich auf und sah ihn an.
»Na, habe ich das Maul nich die Quere?« fragte er mich höhnisch.
Darauf hatte ich gewartet und erwiderte schlagfertig: »Freilich, und de Ohre an den Stiefelschäften.«
»Gell, du bist der Faber-Junge?« fragte er.
»Och, wer wär' ich och da! Mei Vater putzt Hufeisen, und meine Mutter spinnt Spucke«, entgegnete ich im Jargon meiner tollen Monate weiter.
»Und ich mach' rote Suppe aus Rotznasen«, sprach der Tischler und erhob sich. Deswegen trat ich ein wenig zurück.
»Und dein Meester macht Darmsaiten aus Eselsohren«, gab ich zurück.
»Meenst du etwa mich?« fragte er und rückte näher.
»Nee, den Esel,« erwiderte ich, »und läßt du mich nich zufrieden, so sag' ich's deinem Meester.«
In diesem Augenblicke fuhr er auf mich los. traf mich aber nicht und lief mir nach, der leichtfüßig, neckend vor ihm hersprang. Bald aber wurde aus der Verfolgung ein lustiges Jägerspiel, und dann saßen wir als gute Freunde auf den Brettern. Es war ein dicker, ziemlich törichter Junge und nicht lange, so hatte ich ihm alle Würmer aus der Nase gezogen. Sein Meister sei am Morgen in der Stube gefallen und habe sich einen solchen Schaden getan, daß er sofort nach Breslau gefahren sei und vielleicht vierzehn Tage unten bleiben müsse. Was für ein Schaden es sei, am Schädel oder am Buckel, wisse keines von den Leuten, denn früh um sechs sei der Meister, der Bucklinski, schon zum Tempel hinausgewesen. Nun machte er seinem Zorn Luft, nannte ihn einen höhnischen Hund, wünschte, er möchte sein Maul gebrochen haben und sagte, es sei nicht zum Aushalten bei ihm. »Warum lachst du denn?« fragte der Junge zuletzt. Ja, wahrhaftig, ich konnte mir nicht helfen, und jetzt, da der Erfolg meines nächtlichen Abenteuers so unzweifelhaft vor mir lag, sprang ich, ohne zu antworten, auf und lief über den Platz, durch die Straßen, sang wie besessen und schwang die Schultasche immer um meinen Kopf. Die ganze Stadt regte ich mit meinem Siegeslied auf. An der Postecke, beim Anblick des gähnenden Torbogens, erlosch plötzlich der Jubel in mir. Sehr langsam und zögernd vor Erwartung betrat ich die Stube. Statt des Schimmers lag sie voll von Lasten und verheimlichtem Kummer. Mein Vater saß gebückt vor seinem Vesperkaffee. Er streifte mich beim Eintritt mit einem gleichgültig vorübergehenden Blick, um seine Augen dann in zweckloser Beharrlichkeit wieder auf das schmale Stück Diele zwischen den auseinandergestellten Beinen zu heften. Die Mutter wagte aus Scheu oder Schonung die Geschirre der beendeten Mahlzeit nicht vom Tisch zu räumen, sondern ging in unruhiger Geschäftigkeit vor dem Ofen auf und nieder, trug Töpfe hinaus und brachte sie leer herein, wand den Hader aus, obwohl er ganz trocken war und beobachtete indessen voll barmherzigen Kummers den Gebeugten. Ein Paarmal war ich im Begriff, auf ihn zuzugehen und ihm von Rinkes Reise nach Breslau zu erzählen. Aber schon nach dem