Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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      Die Köpfe der Gesellschaft fahren in die Höhe, erstaunt über den plötzlichen Abbruch der Feindseligkeiten. Als sie das Mädchen erblicken, zischelt es durcheinander: »Die schlesche Marie!«

      Die Burschen an den Tischen werden vergnügt, und Marie steht noch nahe am Ausgang allein, weil der Förster hinweggeeilt ist, seine Sachen unterzubringen, und weiß nicht, wo sie sich hinsetzen solle, oder ob sie nicht lieber wieder hinausgehe. Sie bereut es, dem Förster nachgegeben zu haben; aber sie fühlt sich von den Blicken, die auf sie gerichtet sind, zurückgehalten.

      Eben hat sie die Macht dieser neugierigen Augen über sich gebrochen und wendet sich unmerklich, um unbeachtet wieder hinauszuschlüpfen, da zählt der graubärtige Obermelitt schnarrend: »Eins, zwei, drei!« und die Musik setzt ein, die Töne eines veralteten Marsches fahren belebend unter die Gäste, Marie fühlt sich von hinten umfaßt und gewahrt, erschreckt herumfahrend, den alten Förster, der in feierlicher Umständlichkeit etwas durch die Nase redet und dabei ihren Körper ohne weiteres in seinen Armen zum Tanz zurechtrückt und sie dann durch den Saal zu drehen beginnt. Wie auf Verabredung beteiligt sich anfangs niemand am Tanze. Die Burschen sehen gespannt dem Paare von ihren Plätzen aus zu.

      Der Alte denkt, man achte sein wichtiges Staatsamt, und bemüht sich, eine möglichst imposante Figur zu machen, indem er in streng soldatischer Haltung durch den Saal trabt, hin und wieder zierlich mit den Beinen nach hinten ausschlagend. Der Graue verschlingt Marie mit den Augen. Die Musik schweigt, nur eine Klarinette gibt einen scharfen Seufzer zu. Die Burschen klatschen und schreien: »Bravo!«

      Der Grünrock, mitten im Saale neben Marie stehend, verneigt sich dankend und führt dann das Mädchen nach kurzem Überlegen an den kleinen Tisch des Grauen, mit einem herrischen »Gestatten« herantretend. Der Fremde fährt salutierend in die Höhe und stammelt mit verbindlichem Lächeln: »Ah, ja, ja!« verbeugt sich und rückt an die Kurzseite des Tisches. Dann schaut er schnurrbartstreichend im Saale umher, ob auch alle sein schneidiges Auftreten bemerkt haben.

      Aber nun wogt der entfesselte Tanz. Einige hüpfen wie Irrlichter durch die wirbelnden Wogen, tauchen kreisend auf und verschwinden wieder. Dieser schiebt sich langsam, steif wie ein wandernder Stamm hin; jener galoppiert im Laufschritt vor und zurück und reibt dabei seine Stirn an der der Tänzerin. Dieser setzt alles daran, ein Fragezeichen zu imitieren; jener hängt alle Augenblicke zappelnd zwischen Himmel und Erde. Der Baß knurrt, das Horn hustet heiser und unregelmäßig, die Klarinette gellt schrill wie jemand, dem ein Gewächs aus dem Leibe geschnitten wird, und wetteifert mit der Violine, die ein schmerzvolles Wimmern von sich gibt. Dazu wirbelt die Trommel, als schütte jemand zur Feier des Tages Lesesteine in ein Holzschaff. Die Melitten betreiben mit äußerster Anstrengung ihre Kunst. Der Wirt blickt bewundernd zu ihnen hin.

      Die Augen der Weiber bemühen sich, jedem Paare nachzueilen. Die Familienväter schlagen mit der Faust und dem Absatz den Takt, und die Halbschädel avancieren vor Staunen in den Saal. Die Stimmung ist im Fluß; jeder tut das seinige mit ganzer Seele. Als die Burschen nach einem Tanz auf ihre Plätze zurückkehren, staunen sie nicht wenig, auf der Bank den Klumpen und neben ihm Schuster-Guste, hinter dem Tisch sitzend, zu treffen. Sie haben jeder ein Glas Lagerbier vor sich stehen, und der Lahme hört dem Schuster zu, der heftig gestikulierend auf ihn einspricht.

      »Nu da schlägt's voll'ds fufzehn«, schreit der Witzbold unter ihnen, der rote Klenner, ein vierschrötiger Holzknecht mit kleinen, blinzelnden Augen unter wulstigen Brauen, »heute is alles meglich! Paßt uf, entweder kriegen Freirichters Pferde über Nacht Hörner, oder der Schenke tritt sich of a Bauch; irnd was passiert heute. Da is ja gar Karle da! Nu, gutn Abend, alle zwee!«

      Alles lachte aus vollem Halse, setzte sich zu den beiden an den Tisch, und nach einer Weile begann man, ohne Namen zu nennen, allerhand Scherzreden, die sich offenbar auf den Klumpen bezogen. Der zog sein mürrischstes Gesicht, und als das nichts half, ergriff er das Glas, trank einen langen Schluck und hieb es dann auf den Tisch, daß das Bier umherspritzte. Das machte die Übermütigen stutzig. Unter leichtem Wortgeplänkel zogen sie sich von dem Lahmen zurück und widmeten dem Bier, dem Tanz und den Mädchen wieder ihr ausschließliches Interesse. Der Klumpen atmete erleichtert auf und befühlte seinen Hals.

      »Verdammtes Zeug, so ein Kragen!« knurrte er mißvergnügt. »Is'n der Schlips noch drane?« »Freilich«, antwortete der Schuster, »wie's sein muß. Wenn se dich sieht, du siehst just aus.«

      »Du sollst mr davo nich reden!« »Nu, deswegen sein mr doch hergekommen.«

      »'s Maul sollste dadriber halten, wenn's jemand hört.«

      Dann starrte er trübe vor sich hin. Er fühlte sich unbehaglich unter den vielen kinderfrohen Menschen und fragte sich, wozu das eigentlich alles sei.

      »Du mußt a wing uftaun«, begann der Schuster wieder an ihm zu schulmeistern, »lustig sein, trinken, da und dort hin reden, dich umtun. Sonst ...«, er machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann setzte er sich näher zu seinem mürrischen Ohr. »Ich weeß Bescheid. Wie ein Jude muß eener reden. Aso hans die Mädel gerne.«

      Der Lahme erlag dem qualvollen Gefühl, von allen ausgeschlossen zu sein, und erhob nach einer Weile sein Gesicht, um irgendeine hämische Bemerkung zu machen, ließ aber kalt den Kopf sinken.

      Der Schuster hatte ihn zum Besuch des Cäciliaballes beredet, weil er sich erst den nötigen gesellschaftlichen Schliff holen müsse, ehe er daran denken könne, mit Marie anzufangen. In Wahrheit aber lag dem armen Schuster das meiste daran, auf des Lahmen Kosten mal ordentlich zu tanzen, zu trinken und zu rauchen. So stieß er wieder mit ihm an.

      Der Klumpen schluckte Verwünschungen über den »Saufsack« in sich und verfiel, ohne das Glas zu berühren, noch tiefer in seinen Kummer.

      Der Schuster winkte einem Markeur, und als dieser nicht hörte, erhob er sich mit dem leeren Trinkgefäß und wanderte, bald an diesem, bald an jenem Tisch seine Späße anbringend, zum Schenkhaus, ließ sich das Seidel füllen, leerte es hastig, begehrte noch ein zweites und begab sich dann trällernd wieder an seinen Platz.

      »Nach«, stieß er plötzlich den Klumpen an die Seite, »da sieh, wie der, der mit dem grauen Anzüge, mit der Marie redt, und wie se lacht! Sieh drsch an, a so wird's gemacht.«

      Der Lahme schielte unter seinen gesenkten Brauen nach dem kleinen Tische hin und musterte den Fremden lange und scharf.

      »Ein Zappelmann is das«, erwiderte er dann in grimmiger Verachtung, »was der kann, kann ich schon lange. Mit eener Hand hau' ich dr den zusammen wie een jungen Hund. Dadruf kannst du dich verlassen.« Er trank und stieß einen rauhen Laut des Hohnes aus, den Schuster von der Seite ansehend. Dieser saß schweigend da, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und blies lange Rauchwolken von sich. Er war plötzlich wie verwandelt und starrte verloren auf Marie. Sein Gesicht trug dabei einen tiefen Zug des Leidens.

      »Schuster«, raunte der Lahme, weil er eine unbestimmte Empfindung hatte, dieses auffällige Betragen könne ihn bloßstellen; aber der Schuster rührte sich nicht. »Schuster«, wiederholte er und trieb, da sein Freund noch nicht hörte, die Faust in seinen Oberschenkel. »Du sollst nich in eem Biegen of se sehn!«

      Schuster-Guste fuhr herum und lächelte glücklich wie abwesend. Plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht:

      »Laß mr de Vögel fliegen, ma kriegt se doch nie«, sagte er und schüttelte die schwere Stimmung von sich ab. »Trink, trink, Karle, trink, sag ich dr! Nee, nee, da hab' och gar keene Bange, ich bin ein armes, unglickliches Luder.« Der Klumpen glaubte, der Schuster sei betrunken, weil er so wirr redete, und fuhr grob auf: »Guste, ich seh's, wo's hinwill, 's Beste is, ich geh heem!«

      In demselben Augenblick trat der Kellner an den Tisch und sah den Klumpen groß an.

      »Na, was willst du?« purrte er dem jungen Menschen ins Gesicht. Der Kellner lächelte. »Putt, putt sollste machen«, erwiderte er und bewegte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf dem Tisch, als zähle er Geld. In demselben Augenblicke wurde er von hinten gestoßen, daß er halb über den Tisch flog. Die Burschen kehrten vom Tanz zurück und suchten erregt ihre Plätze. Die meisten hatten zornige Gesichter.

      »Die