Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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dächte«, sagte Marie nach einigem Sinnen, »es war' Zeit, daß ich a mal dein Bruder und de Schwester kenn'lernte.«

      »Ja...ch!« Der Klumpen riß den Kopf herum und sah sie betroffen an.

      »Sefflan und die Kathe – die beeden?... hm.«

      »Is dir das etwan nie recht?« fragte Marie, die nichts von der Feindschaft gegen die Geschwister wußte.

      »Nee, nee!« erwiderte er unter höhnischem Lachen, »nachdem ich das vo dir gehört hab', is freilich auch dazu Zeit ... setze...«

      Plötzlich begann der Lahme zu laufen, daß die Steine unter seinem Klumpfuß flogen. An einer Wegscheide wartete er auf sie.

      Sein Gesicht war gespannt und bebte von verhaltenem Zucken.

      »Na«, fragte die Herangekommene, »was hat's denn?«

      Er sah eine Weile über ihren Scheitel ins Leere. Der Ausdruck seiner Miene war schmerzvoll. »Marie«, bat er stotternd, »... siehch och ... du weeßt gar nich, was die ... wenn ich...« Dann stockten seine Worte.

      Unter leidenschaftlichen Atemzügen wartete er eine Weile und lief unvermutet wieder davon, einen tief eingefahrenen Weg zwischen hohen Mauern, dann die saure Wiese querend, und Marie folgte ihm, langsam und ruhig. An dem kleinen Hügel, der das Fuchsloch von Steindorf scheidet, an der Kreuzung der schnürschmalen Steige, hielt er wieder, und als das Mädchen vor ihm stand, sagte er nach einigen kämpfenden Atemzügen mit mühsamer Beherrschung: »Da sein mr nu! Siehch, Marie, das is der Weg eis Dorf, und da geht's nuf zu den beeden. Dorte bin ich, und dorte bin ich nich! – Jetze mach's, wie de willst.«

      Ohne zu antworten, schritt sie an ihm vorüber, dem kleinen Gehöft zu. Sprachlos vor Staunen sah ihr der Klumpen einen Augenblick nach. Dann schrie er: »Marie!« Es klang wie der Ruf des Brunsthirsches, den ein Stärkerer vom Mutterwild abgeschlagen hat.

      Das Mädchen wandte sich um und sagte mit Überwindung: »Nu ha ich das Gemäre satt. Was soll denn das sein?! Jetze komm, oder ich geh of der Stelle heem, und dann...« Ohne Zögern, wie geknebelt, folgte ihr der Ungefüge.

      Joseph und Kathe empfingen Marie mit der Gleichgültigkeit, in die Bauersleute ihre Unsicherheit zu kleiden gewohnt sind. Die einfache Freundlichkeit und natürliche Klugheit der zukünftigen Schwägerin verwandelte die abwartende Haltung der beiden guten Menschen schnell in offenes Vertrauen.

      Man ging in dem Gebäude umher, durchschritt den Hof, musterte den Viehbestand und warf einen Blick in die gefüllte Scheuer. Überall bemerkte Marie, daß rüstige Hände in frohem Fleiß, Ordnung und Sauberkeit walteten, und hielt mit verständigem Lobe nicht zurück. Zuletzt saß man um den Tisch vor dem Kaffee und plauderte, als sei Marie nie eine Fremde gewesen.

      Der Klumpen war einsilbig und verdrossen. In seinen Augen lag ein lauerndes Zwielicht, und hin und wieder entstellte ein hämischer Zug sein blasses Gesicht.

      Als die Uhr auf neun rückte, erhob sich Marie zum Heimweg. Der Lahme folgte ihr mit der Schweigsamkeit eines mißtrauischen Wächters.

      An der Hoftür fiel Kathe dem Mädchen um den Hals, küßte sie und sagte verschämt: »Marie, nimm mir's nich übel, ich bin dr manchmal gar ein böse Ding. Denk', ich dachte, du bist stolz, weil du a so schön bist. Aber nu seh ich, wie de Leute lügen. Nee, ich weeß nich, wie ich's Gott danken soll.«

      In Liebe schieden die beiden, und Marie schritt in einer wohligen Luft hin, ihre Seele lag im Licht.

      Plötzlich packte sie der Klumpen, dessen ungleiche Schritte immer hinter ihr gewesen waren, am Arm und riß sie herum. »Jetze sag's, ob de mir gut bist!« sprach er in kraftloser Wildheit und zitterte am ganzen Körper. Sein massiger Leib war ganz nahe an ihr. Das erstemal seit dem Unglück seiner Kindheit, das seinen Leib und sein Leben verstümmelt hatte, öffnete sich sein unterjochtes Herz und schrie nach Liebe, nach Zärtlichkeit und freundlicher Gemeinschaft. »Mariela, Mariela«, stammelte er, ohne zu wissen, was er sprach.

      Eine Weile stand das Mädchen wie betäubt von der Sehnsucht seiner Seele. Dann sagte sie in kalter Trauer: »Du weeßt's ja, daß mir aneinandergeschmiedet sein.«

      Damit streifte sie seine kalte Hand von ihrem Gelenk ab und ging mit kurzem Gruß von bannen.

      Der Lahme stand noch lange wie ein Stein an demselben Fleck. Als sie, auf dem Rücken des Hügels angekommen, sich umwandte, sah sie ihn dem Walde zuschreiten.

      –

      Kurz vor Beginn der Fasten gingen die beiden fernen Menschen die Ehe miteinander ein. Es war eine geräuschlose Hochzeit.

      Außer Joseph und Kathe nahmen nur einige Verwandte an dem gedruckten Fest teil. Der Schuster war ausgeblieben. Marie saß in dem schwarzen Seidenkleid hinterm Tisch, still wie immer. Der Lahme aß, als dürfe nichts übrigbleiben.

      »Ein scheenes Wetter a unserm Ehrentage«, sagte er zwischen der unermüdlichen Kauarbeit zu ihr, »gell och, Marie! De Sonne finkelt, dr Weg eben, keen Schnee, de Luft ruh'g, ha?«

      Da mußte sie alle Gewalt zusammennehmen, nicht in lautes Weinen auszubrechen.

      Zweiter Teil

       Inhaltsverzeichnis

      9

       Inhaltsverzeichnis

      Aus dem Himmel ergoß sich der Sturm; jauchzend stürzte er nieder und schüttelte den Märzschnee von den Tannen. Die Bäume taumelten wie freudetrunken, schlugen mit ihren Ästen wie mit grünen Schwingen und sangen mit den Nadeln ein brausendes Lied.

      Marie stand in der Wohnstube ihrer neuen Heimat und horchte in die frohe Unbändigkeit des Vorfrühlings hinaus. Der nahe Wald donnerte, über den weißen Sand des Fußbodens liefen Schatten und Licht. Sie sah dem stummen Spiel zu ihren Füßen eine Weile zu; dann lächelte sie, ging zum Fenster und schaute zum Himmel hinauf.

      »Ach ja, jetze macht's Ernst«, sann sie, »ich dacht mr's wohl schon, 's brummte und beging's schon vorgestern im weiten Busch draußen. – Nach, 's is auch Zeit; ich hab' orndtlich Hummeln naus.«

      Und doch konnte sie sich gemütlich fühlen in ihren vier Pfählen. Der große braune Kachelofen mummelte behagliche Wärme ins Zimmer. Die neue Uhr mit den roten Rosen des Zifferblattes tickte hell von der weißen Wand. Die Perlen unwiederbringlicher Augenblicke sielen klingend durch die traumhafte Stille.

      Rund um den niedrigen, viereckigen Raum lief eine Wandbank aus weichem Holz, dessen Jahre man durch den gelben Anstrich sehen konnte. Ebensolche Schemel, deren steife Beine schief in das dicke Sitzbrett eingekeilt waren, standen um den großen Eßtisch, dessen weiß gescheuerte Platte eine ganze Ecke einnahm. Durch vier Fenster, je zwei in einer Wand, guckte der Tag neugierig herein, als gebe es in dem Raum etwas Besonderes zu sehen. Zwischen den beiden Fenstern der der Tür gegenüberliegenden Wand waren drei hölzerne, grobgeschnitzte Rehköpfchen angebracht. Von den Öhren und ihrem zackigen Gehörn hingen auf Zwirnfaden gereihte gelbe Zwergkürbisse. Rundumher steckte Tannenreisig. Bunte Pappbilder des Kaiserpaares und des Papstes vollendeten den Schmuck. Über dem Tische fehlte das Eckbrettchen nicht.

      Eine blau und rot bemalte Muttergottes hielt ihr rotes Herz vor ihrer Brust und sah stier immer auf den Ofen. Zwei Engel knieten an ihrer Seite und erhoben in demütigem Gebet die roten Hände zu der Gebenedeiten, hinter deren Rücken aus gelbem Papier ein Heiligenschein gefaltet war. Eine winzige Ampel aus rotem Glas mit einem Schwimmlichtchen hing an einer Spakatschnur von dem Brettchen nieder. Die Balkendecke war schwarzbraun angestrichen. Düster, dräuend, wie ein Sarg, hing sie über diesem Räume, den emsige Frauenhand zur Wiege für ein frommes, still gewordenes Leben bereitet hatte. Der Stieglitz in der Mitte des Zimmers brachte es nur zu abgebrochenen, sehnsüchtigen Rufen und flatterte gegen die Drahtwände des Käfigs, dem Lichte zu, das draußen, immer verdunkelt, immer