Greis nickte ihr zu, kehrte ihr dann den Rücken, schlug ein Kreuz und hob den rechten Fuß auf den ersten Sprossen. Davon wurde sie tief und schreckhaft ergriffen, daß ihr Herz ganz laut zu schlagen begann. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu rühren, und die Erinnerung, sie stehe auf demselben Fleck, auf dem gestern ihr Mann seine Hände nach dem Schließeisen des Wachtmeisters hatte ausstrecken müssen, vermehrte ihre Furcht, daß es ihr war, sie sinke unter Summen in den Boden.
Freiwald verschwand in der Tiefe.
Regungslos starrte das arme Weib auf die Öffnung zehn Schritt vor ihr, aus der die grauen Leiterbäume heraufstarrten. Um nicht hinfallen und an ihnen in wahnsinniger Angst rütteln zu müssen, wandte sie ihre Augen auf die fallenden Flocken. Sie flohen einander und nahten sich, und jedesmal, wenn sie sich berührten, war es ihr, als explodierten sie unter Geknister und Blitzen. Alles um sie zischte und zuckte und glomm in Milliarden greller Pünktchen.
Sie heftete ihren Blick wieder auf die Leiterbäume vor ihr.
Fast unmerklich glitten sie hin und her.
Der Alte war noch unterwegs.
Jetzt standen sie ruhig.
Er war auf dem Grunde.
Plötzlich fuhren sie mit scharfem Ruck zur Seite, ein mummelnder Laut quoll aus der Tiefe.
Marie packle mit beiden Händen ihre Brust.
Nun!!! –
Immer deutlicheres Knirschen steigender Schritte. Keuchen. Die Mütze des Mannes. Endlich sein runzliges, schreckentstelltes Gesicht.
Marie reißt es die Arme in die Höhe.
Mit dem ausgeschleuderten, schrillen Schrei: »Dr Schuster!« bricht sie zusammen und liegt da wie ein Häufchen abgetragener Kleider.
19
Der alte Freiwald strich sich mit bebender Hand den kalten Schweiß von der Stirn und trat voll Grauen von dem offenen Brunnen weg. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, schützte er sich vor dem Einfluß des Toten, spuckte unter Murmeln dreimal in den Brunnen, kehrte sich dann um und warf mit Anrufung der drei göttlichen Personen drei Handvoll Schnees hinter sich. Bei dieser Tätigkeit traf ihn die herbeigeeilte Kathe, die fassungslos von dem ohnmächtigen Weibe zu dem zitternden Greise sah.
Endlich war sie imstande zu sprechen.
»Nu, aber Freiwald!«
»Da drunten.«
»Wer?«
»Der Schuster!«
»Un tot?«
»Verfault.«
Dann sanken in Schrecken ihre Blicke ineinander.
Plötzlich fuhren sie, von dem gleichen Gedanken erfaßt, zusammen und traten an Marie heran, die regungslos dalag, das bleiche Gesicht in den Schnee gedrückt.
Umsonst bemühten sie sich, durch Zurufe, Rütteln und Aufrichten das Bewußtsein in dem welken Leibe zu erregen, griffen danach an, Freiwald unter den Armen, Kathe zu Füßen, und trugen die anscheinend Leblose auf das Bett in die Schlafkammer.
Dort begannen sie, mehr aus Angst als Berechnung, den Körper des armen Weibes zu reiben, den sie von schnürenden Kleidungsstücken befreit hatten. Lange lag Marie, als sei sie wirklich von dem Tode hinübergerissen worden. Dem Mädchen fielen große Tropfen aus den Augen, und mit dem rührendsten Klang in der Stimme, wie lebendige Herzen nur nach Verblichenen rufen können, bat Kathe Marie ins Leben zurück:
»Marie! – Marie! – Mei allerliebstes Mariela, wach uf, noch a allereenziges Mal wach uf, daß ich dr's sagen kann, wie ich dr gut bin.«
Endlich wich das fahle Blau der Lippen leisem Rot, und die Schlagader des Halses rührte sich unter der weißblauen Haut wie ein aus der Erstarrung sich lösender Wurm. Auch die Brust begann auf und ab zu wanken. Sonst lag die Kranke totenstill.
»Mir wern se ruhig schlafen lassen. Das is etze 's beste«, flüsterte der Greis, und indem er das Gesicht halb nach der Tür wandte, verriet er, daß sein Sinnen von der Sorge um das Weib hinzugleiten begann zu der Tatsache des furchtbaren Fundes.
Kathes Seele stand auf derselben Scheide zwischen Sorge und Grauen und sann laut vor sich hin:
»Dorte ein Toter un da ein Leben, das de an eem Faden hängt.«
Die Kranke riß die Augen auf, öffnete auch den Mund, und bann, wie unter einem Peitschenhieb, krümmte sich der Leib zusammen, die Augäpfel drehten sich in die Höhlen zurück, den Kopf stieß es in die Kissen. Mit einem langgezogenen Schrei endete der Krampf.
»Um's Himmels willen, Freiwald, was soll'n das sein?« fragte Kathe verzweifelt.
Der Greis betrachtete die Kranke, die mit geschlossenem Munde stöhnte und die Hände ins Bett grub, und erwiderte dann:
»Mir scheint, die stößt de Mutter.«
»Nee ha, da bis och scheen gebeten und lauf bale.«
Sogleich stapfte der Alte davon.
Nach einer langen Stunde, während welcher das Leben des armen Weibes oft nur noch schwach vor den Gruben des Todes aufgeflackert war, rang sich die Frucht ihres Sehnens von ihrem Leibe los.
Es war ein Knabe. Die junge Mutter lag schweratmend im verwühlten Bett.
Als die Hebamme, ein vierschrötiges Weibsbild mit einem Mannsgesicht, das Kind gegen das Licht hielt, um es auf seine »Richtigkeit« zu prüfen, schloß sie die Augen und legte es kopfschüttelnd in die Wickel. Denn es war häßlich, gleich dem entstellten Bilde eines wüsten Traumes. Ein grimmiger Fußtritt Gottes schien es aus dem Nichts ins Leben gestoßen zu haben.
Der breitgedrückte Kopf, zwischen die Schultern gekeilt, unförmig groß, mit einem runzligen Greisengesicht, kleinen Augen unter roten Wülsten, saß fast unmittelbar auf dem kurzen Leibe, der die Proportionen eines halbwegs viereckigen Steines hatte. Arme und Beine spinnenlang, an den Gelenken knotig aufgetrieben. Die Finger fleischlose Vogelkrallen. Alles aber mit langen vereinzelten Haaren bedeckt, ähnlich denen, die verborgener Moder heraustreibt.
Von Zeit zu Zeit stieß das kleine Ungeheuer einen schnarrenden Laut aus ...
»Warum habt'r denn nich de Patzelten aus Walsdorf gehult?« fragte endlich die Hebamme das Mädchen, und ihr ohnehin verdrossenes Gesicht ward zornig.
»Warum denn?« entgegnete nichtsahnend Kathe.
»Weil's a Wechselbalg is«, sagte das Mannweib und warf einen richtenden Blick auf die Kranke, weil sie noch in dem Aberglauben befangen war, so ein Kind sei die Strafe für verborgene Sünden. Sie wußte nichts von den durchwachten Nächten, den Seelenschmerzen und den endlosen Demütigungen, mit denen Marie um ihr »einziges Glück« gedient hatte.
Kathe saß auf der Ofenbank und schluchzte fassungslos in die Schürze.
Draußen füllte sich der Hof mit Neugierigen, meistens Männer, die umherstanden, heftig gestikulierend einander in die Ohren redeten, wie zufällig an die Fenster traten, mit scheuer Neugier in die Stube zu sehen, vigilierend über das Höfchen sich zerstreuten, um dann wieder angestrengt und gründlich in den offenen Brunnen zu starren. Die Ankunft des Wachtmeisters Stief schnürte sie in eine Reihe. Er sprengte in höchster Aufregung auf den Hof, stieg rasch vom Pferde, warf einem Diensteifrigen die Zügel zu, trat an den Brunnen, sah lange und mit Kennermiene hinein und kraute sich überlegend hinter dem Ohr. Nach kurzem Anschauen riß er das Taschenbuch unter dem Rock hervor, schrieb irgend etwas hinein und erschien dann sporenklirrend in der Stube.
Die Hebamme hatte sich in die Schlafkammer geflüchtet und die Tür hinter sich verschlossen, so daß Kathe dem Eifrigen standhalten mußte.
Seine Fragen prasselten auf das furchtsame Mädchen nieder, als würfe er ihr