Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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      Kirschblüte in Werder! Fett gedruckt stand es in allen Zeitungen, an jeder Litfaßsäule. Doktors Nesthäkchen träumte Tag und Nacht davon.

      Aber die Eltern waren durchaus nicht für solch ein zweifelhaftes Vergnügen zu haben.

      »Fällt mir gar nicht ein, Lotte, mich in den überfüllten Zügen zu Apfelmus zerquetschen zu lassen,« lachte der Vater sie aus. »Ich laufe in der Woche genug herum. Wenn ich mich mit meiner Zigarre ruhig auf den Balkon setze, ist das mein schönstes Sonntagsvergnügen.«

      »Aber meins nicht – – –«

      »Will ich gern glauben. Also sagen wir statt mit der Zigarre mit einem Stück Schokolade.«

      Nicht mal die zog.

      »Sechzehn Jahre bin ich nun alt und habe noch nie die Baumblüte zu sehen bekommen – es ist eine Schande,« beschwerte sich Nesthäkchen.

      »Du brauchst doch bloß in den Hof hinunterzusehen,« zog sie Klaus auf. Dort lugte über die grauschwarze Mauer ein winziger zartrosa Apfelblütenzweig vom Nachbargärtchen fürwitzig herüber.

      »Ja, du hast gut reden, du bist schon mit deinen Jungs in Werder gewesen.«

      »Lotte, du stellst dir das wirklich schöner vor, als es ist,« versuchte nun auch die Mutter den Unmut des Töchterchens zu zerstreuen. »Da gibt es überfüllte Züge, lärmende, johlende Menschenmengen, die dem gefährlichen Obstwein mehr zusprechen, als ihnen gut ist. Und kommt man hin, dann ist oft die Obstblüte bereits vorüber und alles braun und häßlich anstatt des schneeigen Weiß der Kirschblüte. Ich habe es selbst erlebt.«

      »Siehst du, du hast es erlebt – du bist dort gewesen. Und ich soll nicht hin. Bitte, bitte, Muttchen, ich möchte doch so schrecklich gern auch mal die Baumblüte sehen.«

      »Na, dann werde ich dich Sonntag mitnehmen – meinetwegen.« Klaus fühlte sein Herz von den Bitten der Schwester erweicht. »Ich gehe mit Fritz Richter in aller Herrgottsfrühe auf Hamsterfahrt. Zwar nicht nach Werder, aber ganz in die Nähe, nach Caputh. Da ist die Baumblüte genau ebenso schön, und es ist dort lange nicht so voll. Aber wenn du nicht aus den Federn kannst, dann bleibe lieber gleich zurück. Gewartet wird nicht.«

      »Nein – nein – ich stehe schon um drei auf, wenn’s sein muß, Mäuschen. Und mein Dirndlkleid ziehe ich an, dann geben mir die Bauern eher was. Und Butter und Eier bringe ich euch mit und Schinken und Speck – Hurra!« Annemarie drehte sich vor Freude wie ein Kreisel.

      »Aber Lotte, haben wir es denn überhaupt schon erlaubt, daß du mitfährst?« wandte die Mutter ein.

      »Ach Muttchen, liebstes, bestes Muttchen! Und ein Landbrot bringe ich euch auch mit.« Annemarie wußte gar nicht, was sie alles versprechen sollte.

      »Lieber Kartoffeln! Die tun uns am nötigsten. Daß man se nich mittags in’n Topp zählen muß, als wär’s Jott weiß was für ’ne Kostbarkeit,« warf die gerade durch das Zimmer gehende Hanne ein.

      »Ja, natürlich, Kartoffeln! Wir nehmen jeder einen Sack auf den Buckel. Dann können wir abends Kartoffeln und Hering essen, Vater, und nicht bloß immer die ollen Graupen,« rief Annemarie eifrig.

      »Wenn du mir mein Leibgericht, Kartoffeln und Hering, in Aussicht stellst, Lotte, müssen wir unbedingt einwilligen,« schmunzelte der Vater.

      »Hurra – ich gehe auf Hamsterfahrt!« Da flog Nesthäkchen, trotz der sechzehn Jahre, dem Vater auf das Knie und streichelte ihn dankbar.

      »Meinen Wünschen entspricht es eigentlich nicht, Lotte,« dämpfte die Mutter die lebhafte Freude. »Du ganz allein mit den beiden tollkühnen Jungen – – –«

      »Ich kann mir ja Vera mitnehmen, oder auch Margot, die ist dir doch sicher zahm genug, Muttchen.« Annemarie war zu allen Zugeständnissen bereit.

      »Warum nicht lieber das ganze Kränzchen? Ich kann ja gleich die ganze Gänseherde auf die Weide treiben.« Zu jeder anderen Zeit hätte Klaus’ Unhöflichkeit sicher Anlaß zu einem Streit gegeben. Heute nahm Annemarie selbst die Gänseherde in den Kauf.

      »Ach, Kläuschen, sei doch nicht so eklig. Denke mal, wie lustig das wäre, wenn die Mädel alle mit auf Hamsterfahrt gingen. Gottvoll wäre es einfach!«

      »Na ja – hm!« brummte Klaus. Die Sache schien ihm einzuleuchten. Solch ein Ausflug mit den netten Mädeln war wirklich ganz verlockend. »Aber wenn Richter nicht mit ’nem ganzen Töchterpensionat losziehen will, wird nichts draus.« Man durfte sich nicht so viel vergeben und gleich einwilligen.

      »Ach was, Richter! Der ist ja viel netter als du. Der freut sich diebisch, wenn wir mitkommen.«

      Doktors Nesthäkchen setzte wie meistens mal wieder ihr hübsches Köpfchen durch. Richter willigte freudig ein, die Kränzchenschwestern noch viel freudiger, und den verschiedenen Eltern wurde die Erlaubnis mit der Begründung abgebettelt, daß die andern doch auch dürften.

      Am Abend vor dem sehnlichst erwarteten Sonntag betete Annemarie aus tiefstem Herzen: »Lieber Gott, laß es morgen nur nicht regnen und laß mich bloß nicht verschlafen.«

      Vor dem Bett lagen alle für die Hamsterfahrt notwendigen Ausrüstungssachen bereit, nur zum Greifen. Vor allem der große Sack für die Kartoffeln. Denn ohne einen Zentner Kartoffeln durfte sie nicht heimkommen, hatte Hanne gesagt. Daneben der Rucksack für all die anderen guten Sachen, die in Aussicht standen. Vorläufig hatte ihn Muttchen mit guten Sachen als Wegzehrung für den morgigen Tag gefüllt. Denn Frau Doktor Braun schien es weniger gewiß, als der hoffnungsfreudigen Jugend, daß die Ernte so einträglich werden würde. Da lag das buntgeblümte Bauernkleid, die grüne Schürze und die Zupfgeige, Annemaries neueste Errungenschaft. In der Mitte aber thronte als Wichtigstes die Weckuhr.

      »Gute Nacht, Hamster, nun verschlafe nur nicht«, so hatte Doktor Braun sein Nesthäkchen entlassen. Bloß nicht verschlafen – zu viertel fünf hatte Hanne ihr die Weckuhr stellen müssen. Gleich nach fünf ging der Zug. Wenn die Weckuhr nun nicht funktionierte, oder wenn sie dieselbe am Ende überhörte, sie schlief so fest.

      »Fräulein Annemarie, Sie müssen dreimal an ihrem linken großen Zeh ziehen und dabei sprechen: ›Großer Zeh – großer Zeh – weck’ mich um viertel fünf, nicht eh’!‹ Das nützt, das ist besser als alle Weckuhren«, hatte ihr das Hausmädchen geraten.

      Annemarie vertraute dann aber doch noch eher der Uhr als ihrem großen Zeh. Na, man konnte ja, um ganz sicher zu gehen, beides machen.

      Ohrenbetäubendes Geklingel weckte Annemarie aus ziemlich unruhigem Schlummer.

      »Das Telephon – das Telephon –« Annemarie sprang aus dem Bett und an den Apparat. »Hier Doktor Braun« – –

      Dröhnendes Lachen kam aus der Tür, hinter der Klaus schlief.

      »Du Affenschwanz – das war doch die Weckuhr, es ist Zeit zum Aufstehen.«

      »Ach so.« Annemarie rieb sich die verschlafenen Augen. Ein recht zweifelhaftes Vergnügen, solche Frühpartie. Was ging sie eigentlich die Obstblüte an! Aber nachdem sie das Gesicht in kaltem Wasser gebadet, war alle Müdigkeit verflogen und die große Vorfreude wieder da.

      Mit dem Glockenschlag fünf trat ein bildhübscher junger Bursch mit blitzenden braunen Augen in Kniehose und Sporthemd, den Rucksack auf dem Rücken, und ein allerliebstes blondhaariges Dirndl aus dem schlafenden Hause, vor dem die Mandelbäumchen schon in ihrem rosa Sonntagskleide standen. Gleich darauf hörte man wieder ein Poltern auf der Treppe – trap – trap – kam es die stille Straße hinter den beiden her.

      »Wartet doch auf mich, Kinder – nehmt mich doch mit.« Das war Margot Thielen.

      »Guten Morgen – ist das ein herrlicher Sonntag – – –«

      »Man sollte Bäckerjunge werden oder Milchmädel.« Nesthäkchen, sonst eine kleine Langschläferin, war plötzlich Feuer und Flamme fürs Frühaufstehen.

      »Ob die andern Mädel auch alle pünktlich da sein werden?«