Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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wollte den Professoren die Wahrheit geigen.

      Puck gab ihr das Geleit bis auf die Treppe hinaus. Als ob das kluge Tier es merkte, daß seine junge Freundin einen Leidensweg ging.

      »Na – denn rin ins Verjnüjen!« Doktors Nesthäkchen schob sich die Treppe hinab.

      Unten vor der Haustür standen Vera und Margot, die beiden Getreuen. »Heute wirr wollen lassen gehen dirr nicht allein zu Schule« – »wir wollen dir das Geleit geben.«

      »Ihr meint wohl die letzte Ehre.« Annemarie drückte den Freundinnen dankbar die Hand. »Kinder, was habt ihr’s gut, daß ihr jetzt nicht aufs Schafott müßt.«

      Helle Frühlingssonne lachte vom Himmel. Graues Regenwetter hätte Annemaries Seelenzustand mehr entsprochen. Die Freundinnen sprachen von beiden Seiten lebhaft auf sie ein, um sie von den bevorstehenden Schrecknissen abzulenken. Annemarie hörte sie kaum. Sie ging wie in einem Traumzustand dahin. Aber es war ein böser Traum, der Alb, der ihr aus der Brust hockte und ihr die Kehle zusammenpreßte.

      »Annemie – Vorsicht!« Margot packte sie am Arm.

      »Bei einem Haar wärst du unter das Auto gekommen!«

      »Dann wäre mir wohler als augenblicklich.« Denn da tauchte gerade der rote Backsteinbau, das Schubertsche Lyzeum, vor ihnen auf.

      »Behüte dirr Gott, Annemie. In die Pause um zwölf ich kommen hörren, wie es gehen dich.« Vera küßte sie zärtlich.

      »Viel Glück, Annemie!«

      »Du darfst mir kein Glück wünschen, Margot, sonst geht’s bestimmt schief. Ach du gerechter Strohsack – wär’ ich doch erst wieder draußen!«

      Eine atembeklemmende Stille herrschte in den Gängen, denn die Schule hatte dem Examen zu Ehren frei. Hier war man nun den größten Teil seines Lebens, die ganze Schulzeit über, ein-und ausgegangen. Mal mit etwas gepreßtem Herzen, aber meistens quietschfidel und sorglos. Wanderte Doktors Nesthäkchen heute zum letztenmal den gewohnten Weg? Oder würde es weiter noch Schulmädchen bleiben müssen?

      Die Abiturientinnen waren bereits in der Oberprima versammelt. Alle mit farblosen Gesichtern und verängstigten Augen. Zehn an der Zahl. »Wie eine Schafherde beim Gewitter,« dachte Annemarie, und wunderte sich selbst, daß sie in diesen bangen Minuten so etwas denken konnte.

      Die untere Abteilung der Oberprima packte rote Studentenmützen aus, zehn an der Zahl. Würde jede ihre Besitzerin finden? Das Rot brannte in den Augen. Marlene empfand geradezu einen körperlichen Schmerz, wenn sie auf die Mützen blickte. Eine eiskalte Hand reichte sie Annemarie.

      »In Mathematik falle ich glatt durch.«

      »Ich in Latein, Marlene. Rege dich nicht so schrecklich auf. Hans sagt, je ruhiger man ist, um so besser stehen die Chancen.« Doktors Nesthäkchen redete der Freundin gut zu und flog dabei selbst an allen Gliedern.

      Ilse Hermann, deren lange Blondzöpfe nicht mehr den Rücken entlang hingen, sondern zum Nest am Hinterkopf aufgesteckt waren, brabbelte in einem fort Zahlen und Namen vor sich hin. Marianne waffnete sich gegen die zu bestehenden Gefahren mittels eines Käsebrotes. Dabei behauptete sie, vor Aufregung gänzlich appetitlos zu sein.

      Der Ordinarius der Oberprima, Professor Möbus, betrat die Klasse.

      »Na, meine Damen, Sie haben doch nicht etwa Angst? Lauter Bleichgesichter? Tun Sie doch nicht so, als ob Sie ins Land der Menschenfresser müßten. Wir skalpieren keinen, der was kann.«

      »Ja, wenn man was kann!« Jede – und hatte sie ihrem Kopf noch soviel Gelehrsamkeit eingetrichtert – war in diesem Augenblick von ihrer gänzlichen Unwissenheit überzeugt.

      »Allerdings kann ich Ihnen nicht verhehlen,« fuhr der Ordinarius fort, »daß drei von Ihnen das Examen nicht machen werden.«

      Zehn Herzen setzten in jähem Schreck aus. Keins von den verängstigten Küchlein sah, wie lustig Doktor Möbus über seine Brille hinwegblinzelte. »Fräulein Ulrich, lernen Sie nichts mehr, es nützt Ihnen doch nichts.«

      Ach, Marlene hatte es ja gewußt, daß sie die Mathematikarbeit total verhauen hatte. Am Ende ließ man sie daraufhin gar nicht zum Examen zu. Wer waren bloß die Ärmsten, die drei, von denen der Ordinarius schon im voraus wußte, daß sie das Examen nicht bestehen würden? Jede einzelne glaubte in ihrer Erregtheit, der Lehrer habe sie dabei besonders angesehen.

      » Time and hour runs through the roughest day.« – Gelernt hatten sie alle das Wort Shakespeares. Aber durchlebt, selbst empfunden hatte es bisher noch keines der sorglosen, jungen Dinger. Heute empfanden sie es: Auch die bangesten Minuten vergingen schließlich.

      »Meine Damen, Sie können sich in die Aula begeben!« Da war es, das Schreckenswort.

      Mit schlotternden Knien kamen sie der Aufforderung nach.

      Marlene und Ilse Hand in Hand. Annemarie Braun als Vorreiter. Jetzt, wo es soweit war, wollte sie es nicht merken lassen, wie gottserbärmlich ihr zumute war. Besonders Fräulein Neuberts Eulenaugen sollten sich nicht an ihrer Schwäche weiden.

      Da saßen sie am langen Tisch nebeneinander aufgebaut, alle, die sie durch die langen Schuljahre hindurch geleitet. In der Mitte thronte der Schulrat. Sah eigentlich ganz menschlich aus, der alte Herr. Jetzt lachte er sogar im Verein mit dem Direks. Wie konnte der Mann nur lachen, während zehn junge Seelen sich in Marterqualen wanden. Na, wenigstens war er guter Laune.

      Der Ordinarius verlas die Namen der Abiturienten.

      Gepreßtes »Hier« antwortete.

      Dann faltete der Direktor feierlich einen weißen Bogen auseinander. »Das schriftliche Abiturientenexamen haben bestanden« – – – Es erfolgte wieder die Verlesung der zehn Namen.

      Gott sei’s getrommelt und gepfiffen – im Schriftlichen war keine gerasselt.

      »Zum mündlichen Examen werden zugelassen –« sieben Namen – Annemaries und Marlenes war nicht darunter.

      Marlene schoß es bereits heiß in die Augen. Annemarie krampfte die Finger ineinander. Den Eulenaugen wollte sie kein Schauspiel geben.

      »Vom mündlichen Examen werden auf Grund eines mit Eins bestandenen schriftlichen Examens dispensiert: Fräulein Annemarie Braun« – »Hurra!« Wie der Jubellaut einer Lerche stieg es durch die nüchterne Aula. Was fragte die impulsive Annemarie nach dem Schulrat, nach den Eulenaugen. Sie war vom Mündlichen befreit – hurra! »Fräulein Elli Jordan und Fräulein Marlene Ulrich,« vervollständigte der Direktor lächelnd seine unterbrochene Rede.

      »Marlenchen – – –«, ungeniert, in seligem Glückstaumel schlang Annemarie den Arm um die Freundin. Das war auch gut, denn Marlene schwankte. Die jähe Freude nach den ausgestandenen Ängsten übermannte das zarte Nervensystem des jungen Mädchens. Hilfreiche Hände reichten ihr ein Glas Wasser.

      »Meine Damen, Sie können die Aula verlassen – ich spreche Ihnen im Namen des Lehrerkollegiums die besten Glückwünsche aus,« wandte sich der Direktor noch einmal an die drei Glücklichen.

      Verbeugungen – Fräulein Hering drückte der vorübergehenden Annemarie glückwünschend die Hand – die Eulenaugen Fräulein Neuberts schauten merkwürdig freundlich drein – noch einen Jammerblick von Marianne Davis fing Annemarie auf. Dann schlug die Tür der gefürchteten Aula hinter ihnen ins Schloß. Der Höllenrachen hatte sie unversehrt wieder ausgespien.

      Draußen erklang es zum zweitenmal »Hurra!« vielstimmig aus den Kehlen der unteren Abteilung der Oberprima. Rote Mützen wurden in wilder Freude geschwenkt. So – da trug Doktors Nesthäkchen das Abzeichen ihrer neuen Abiturientenwürde auf dem krausen Blondhaar.

      »Kinder – ich bin selig!« Die rotbemützte Annemarie wirbelte in ungestümer Ausgelassenheit Elli Jordan, ein stilles, fleißiges Mädchen, im Kreise herum. »Marlenchen, also Mathematik hast du total verhauen? Du redest ja keinen Ton. Hat dich die Freude der Sprache beraubt?«

      Marlenes bleiches Gesicht bekam allmählich wieder Farbe.