Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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In Tübingen

       4. Kapitel Das erste Kolleg

       5. Kapitel ‘s gibt kein schöner Leben, als Studentenleben

       6. Kapitel Ein Brief aus der Ferne

       7. Kapitel Rosenfest im Neckartal

       8. Kapitel Im Dreimäderlhaus

       9. Kapitel Lustige Schwabenstreiche

       10. Kapitel In der Nebelhöhle

       11. Kapitel Auf dem Ulmer Münster

       12. Kapitel Im wunderschönen Monat Mai

       13. Kapitel Nesthäkchen ist Braut

      1. Kapitel

       Lieb Vaterhaus – ade!

       Inhaltsverzeichnis

      »Doktors Nesthäkchen geht fort von Haus – sie wird eine Studierte!« Die stille Straße in Charlottenburg hallte wider von dieser Neuigkeit.

      Beim Milchholen hatte Hanne, Doktor Brauns langjährige Köchin, es erzählt. »Denken Se bloß – so ‘ne Varricktheit! Jeben Eltern, was ihre einzije Tochter is, fort in de Fremde – an eine Universität. Als ob wa in Berlin keene nich haben tun. Und denn so’n Unsinn! Was unser Nesthäkchen is, vor die wär’s tausendmal gescheiter, wenn se bei mir in de Lehre jehen täte und ‘n anständigen Braten tät’ machen lernen. Was hat det Wurm nich allens schon zum Abitientenexamen, oder wie das olle Ding nu heißt, in seinen Kopp reintrichtern müssen. Mehr als zuville! Und weiß vor lauter Jelehrsamkeit nich, wenn’s Wasser kocht. Nee, bei mich sollt’ se lieber studieren und sich belernen!« So machte Hanne ingrimmig ihrem Herzen Luft.

      Die Milchfrau verschenkte die Neuigkeit mit ihrem halben Liter Milch zugleich den einholenden Dienstmädchen. Die trugen die Nachricht mit ihrem Henkelkorb geschäftig weiter. Bald wußte man’s im Grünkramkeller, beim Schlächter, im Bäckerladen und beim Kohlenmann: »Doktor Brauns Nesthäkchen geht fort von Haus – sie wird eine Studierte!«

      In die Portierlogen und in die Herrschaftswohnungen drang die Neuigkeit, denn die stille Straße war wie eine kleine Stadt für sich: Einer kannte den andern.

      Und nun gar Doktors Nesthäkchen! War doch ihr Vater, der beliebte Arzt, fast in jedem Hause ein Helfer in Krankheitsfällen. Und sein lustiges Nesthäkchen, das kannte man von klein auf. Als es noch blondlockig den Puppenwagen mit der zahlreichen Puppenfamilie durch die Straße schob. Dann etwas später mit den beiden kurzen Rattenschwänzchen, die Schulmappe auf dem Rücken. Mit keckem Backfischzopf im Flügelkleide, untergeärmelt mit einem halben Schock Freundinnen. Und schließlich zur kleinen Schönheit erblüht, als junge Dame.

      Diejenige, um die sich der ganze Aufruhr in der Straße drehte, ahnte nichts davon. Annemarie Braun stand in ihrem netten Mädchenstübchen und schaute mit strahlenden Blauaugen in den Spiegel. Das war sonst nicht Nesthäkchens Art. Ein Spiegelaffe war die Annemarie nicht, trotzdem sie hübsch genug dazu war. Wer heute mußte sie doch sehen, wie man ausschaute, wenn man neunzehn Jahre alt war.

      Der 8. April – ihr Geburtstag! Von jeher hatte er eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt. Heute aber war er von ganz besonderer Bedeutung. Hatte er ihr doch die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches gebracht. Nichts weiter hatte sie sich zu ihrem heutigen Geburtstage gewünscht, als ein gemeinsames Studienjahr mit den Freundinnen in Tübingen.

      Es war nicht so einfach gewesen, diesen Wunsch bei den Eltern durchzusetzen. Weder Vater noch Mutter wollten etwas davon wissen, ihr Nesthäkchen in die Fremde zu lassen. Denn trotz ihrer neunzehn Jahre war Annemarie noch immer das Nesthäkchen der Familie, ihre »Lotte«, wie die Eltern sie noch heute zärtlich nannten. Von ihrem Sonnenschein sollten sie sich trennen, der das ganze Haus hell und strahlend machte? Undenkbar!

      Doktor Braun war durchaus Hannes Ansicht, daß Annemarie genau so gut die Universität in Berlin besuchen konnte. Denn von klein auf war es schon ihr Wunsch gewesen, Assistentin in Vaters Klinik zu werden und ihm einmal in seiner anstrengenden Praxis zu helfen. Na ja, Vater hatte durchaus nichts dagegen, daß sein Nesthäkchen ihm in seinen ernsten Beruf etwas Sonne hineintrug. Er freute sich schon auf die Zeit, wo sie gemeinsam mit ihm arbeiten würde. Aber wozu in die Ferne schweifen, wo das Gute so nahe lag? Konnte sie bessere Anleitung zu ihren medizinischen Studien haben als durch den Vater?

      Auch die Mutter stand insofern auf Hannes Seite, als sie die Notwendigkeit einsah, daß Annemarie sich nun endlich auch mal in der Wirtschaft betätigen müsse. Solange das Mädel in der Schule und auf dem Gymnasium gewesen, hatte es dazu keine Zeit gehabt. Wollte es wirklich mal am Wäschetag helfen, dann hatte die gute Hanne sicherlich schon alles im voraus getan; »ihr Kind« sollte doch keine Last haben. Dadurch war Nesthäkchen aber wirtschaftlich so unerfahren wie ein neugeborenes Kind. Wenigstens behauptete die Mutter das unter lebhaftem Protest des Fräulein Tochter. Ja, Mutter war dafür, daß Annemarie sich das Sommerhalbjahr über tüchtig im Haushalt tummeln und erst zum Winter mit dem Studium beginnen sollte. Die körperliche Arbeit war ihr nach der geistigen Anstrengung des Abituriums durchaus dienlich. Und vor allem einen Blaustrumpf wollte Frau Doktor Braun nicht zur Tochter.

      Aber was sind alle reiflichen Überlegungen, alle Vorstellungen der Eltern den Bitten, dem inständigen Flehen, den Liebkosungen und bettelnden Küssen des Töchterchens gegenüber?

      Nesthäkchen hatte es mal wieder durchgesetzt, wie schon öfters. Marlene Ulrich und Ilse Hermann, ihre beiden Freundinnen, mit denen sie zusammen das Abiturium gemacht, durften doch auch. Warum sollte sie dann nicht nach Tübingen? Und Hans, der älteste der Braunschen Sprößlinge, der bereits Referendar war, hatte doch auch in Freiburg studiert. Na ja, Klaus, der zweite, der hatte ja in Berlin die landwirtschaftliche Hochschule besucht. Aber jetzt wollte er doch auch ein Jahr praktisch auf einer Domäne in Pommern arbeiten. War sie schlechter als die Jungen? Was – Vater meinte, es kostete zuviel, solch ein Studienjahr außerhalb? I wo, schrecklich billig war’s! Annemarie hatte bereits mit Marlene und Ilse genau überlegt, wie man am besten sparen und sich alles am preiswertesten einrichten könnte. Und war’s trotzdem noch zu teuer, na, das konnte Vater ihr ja später von ihrem Gehalt abziehen, wenn sie erst seine Assistentin war.

      Allen Einwendungen wußte die neunzehnjährige Logik unwiderlegbar zu begegnen. Bis heute morgen auf dem Geburtstagstisch wirklich ein großes, von Klaus in grellen Farben gemaltes Plakat geprangt hatte: Ein Studienjahr in Tübingen.

      »Hurra!« – – – Durch das ganze Haus hatte Nesthäkchen ihr Glück verkündet. Puck, das weiße Zwerghündchen, beteiligte sich lebhaft an diesem Jubelausbruch. Es war ein Radau, daß Hanne mit dem Eierschläger und Minna, das Hausmädchen, mit dem Besen bewaffnet, ebenfalls auf der Bildfläche erschienen, um zu sehen, was es denn gäbe. Gewiß freute sich ihr junges Fräulein so über das neue Sommerkleid oder den entzückenden Hut, den Minna am liebsten selbst mal vor dem Spiegel aufprobiert hätte; denn dem »ollen Fetzen Papier«, den der Herr Klaus bemalt hatte, konnte doch unmöglich diese Freude gelten. Hanne und Minna, die hatten beide Ströme von Tränen vergossen, als sie von Haus »fortmachen« mußten.

      Inzwischen erdrückte Annemarie die Eltern beinahe mit ihren Dankesbezeigungen. Denn sie war heute noch genau so ungestüm und impulsiv wie früher als kleines Nesthäkchen.

      »So