Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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auch unsere Lotte infiziert zu haben«, lachte Doktor Braun. »Einem Wanderbund ist sie auch beigetreten, die Krabbe. Na, ich gönn’s ihr. Einmal ist man nur jung!« Die eigenen lustigen Studententage wurden in Doktor Braun lebendig.

      »Ich freue mich von Herzen, daß unsere Lotte so herrliche neue Eindrücke in sich aufnimmt. So sehr sie uns auch fehlt, sie speichert Freude und Frohsinn für ihr ganzes Leben auf«, meinte die Mutter innig.

      »Das ist bei unserer Lotte nicht nötig. Die wird noch als Großmutter mit weißem Haar ebenso durchtrieben sein wie jetzt. Sieh nur, was sie auf diesem Bilde anstellt.«

      »Neschthäkche auf der erschten Mensur« prangte als Überschrift. Mit Zerevis und Schärpe, das Rapier in der Hand, ging Annemarie auf einen den Hieb parierenden Jüngling los.

      »Die Krabbe wird doch nicht im Ernst Fechtstunde nehmen.« Doktor Braun betrachtete das Bild, das einen Tisch mit geleerten Bierseideln im Hintergrund zeigte, kopfschüttelnd.

      »Eine Affenschande ist’s, sich derart ‘rauszustaffieren, und mit so’n Morddings seine Mitmenschen zuleide zu jehen. Kochlöffel und Quirl sollt’ se lieber in de Hand nehmen!« machte die brave Hanne ungeniert ihrem Unmut Luft.

      Die Mutter lächelte. »Es ist sicher nur ein Scherz. Ich kenn’ doch meine Lotte; und sollte ihr Übermut sie wirklich mal zu etwas Ungewöhnlichem hinreißen, ich habe so viel Vertrauen zu unserm Kinde, daß es mit Herzenstakt stets die richtige Grenze einzuhalten wissen wird. Hier ist ja noch ein Bild, das letzte.«

      Trümmerreste einer alten Burgruine. Vom Lueg ins Land ins Tal schauend, die drei Freundinnen. »Vier alte Ruinen« war das Bild betitelt.

      Jetzt mußte auch die Mutter herzlich lachen. »Na, wenn die alten Ruinen nicht mehr als achtzehn, neunzehn Jahre zählen, sind sie wohl noch nicht allzu baufällig.«

      »Hier, unsere Hanne gäbe schon eine etwas ehrwürdigere Ruine ab, was, Sie altes, treues Haus?« Der Doktor hatte stets seinen Spaß mit der ehrlichen Haut. Hanne ließ es sich auch gern gefallen. Heute aber begehrte sie auf: »Ach was, ich rujeniere jar nich ville. Der Topp, den ich jestern zertöppert habe, hatte überhaupt scho’n Sprung. – Aber jetzt muß ich an meine Arbeit, ich hab’ keene Zeit nich mehr für Dummheiten. Und was unse Frau Doktorn is, liest ja doch woll noch bis morjen frieh den Brief.« Raus war sie.

      Verständnisvoll lächelnd sahen Doktor Brauns der treuen Alten nach. »Wenn man’s nicht wüßte, wie gut sie’s meint, – nun muß ich aber wirklich den Brief endlich lesen.« Frau Elsbeth entfaltete die eng beschriebenen Bogen.

      Der Arzt erhob sich. »Ich werde mir an unserer Hanne ein gutes Beispiel nehmen und mir die Lektüre für die Nachmittagsruhe aufsparen, denn jetzt habe ich auch ›keine Zeit nich mehr‹. Sonst versäume ich Sprechstunde und Klinik. Auf Wiedersehen, Elsbeth, ich lasse dich ja in bester Gesellschaft zurück.« Er nickte seiner Frau liebevoll zu und ging in die Praxis.

      Auch Frau Doktor Braun stand vom Frühstückstisch auf. In das nebenan gelegene, jetzt verwaiste Reich ihrer Lotte trat sie. An dem kleinen Schreibtisch, der alle Examensnot Annemaries miterlebt hatte, ließ sie sich nieder. Hier war der richtige Ort, um mit ihrem Kinde allein zu sein. Mit warmen Blicken las die Mutter:

      Dreimäderlhaus, den 25. Mai 19..

      Meine süße Muzi, geliebter Vater, teures Brüderlein, brummige Hanne, holdes Minchen und innigstgeliebter Puck!

      Der erste ausführliche Bericht soll heute steigen. Ich werde jeden Tag etwas daran schreiben. Denn überarbeiten darf ich mich nicht, das bin ich Euch und der auf mich wartenden kranken Menschheit schuldig. Also da wären wir im schönen Schwabenland. Ach Gott, man hat ja in unserm Steinkasten Berlin keine Ahnung davon, wie schön die Welt ist. Unsere neue Heimat Tübingen ist noch tausendmal schöner, als wir uns das in unseren Träumen ausgemalt haben. Die Stadt liegt am Berghang, unten fließt der Neckar, hoch oben auf dem Bergli das Schloß Hohentübingen. Von meinem Fenster sehe ich gerade auf den alten Haspelturm, wo die Gefangenen im Mittelalter geschmachtet haben. Da freue ich mich doppelt und dreifach meiner Freiheit. Ach, Muzi, Muzi, ich bin Euch ja so dankbar, daß Ihr mir das Tübinger Studienjahr geschenkt habt. Ich schreibe alles kunterbunt durcheinander, wie es mir in den Sinn kommt. Gerade so wie all die alten Giebelhäuser hier an dem Berg drüber und drunter in lustigem Durcheinander emporklettern. Ilse Hermann ist begeistert von all den Brünnle, Gäßle, Burgruinen und alten Mauern. Ich hab’ dafür weniger übrig. Land und Leute interessieren mich mehr. Und die sind hier so lieb, oder vielmehr »liab«, um im Bilde zu bleiben. Da sind zuerst unsere Wirtsleute, der Herr Nepomuk Kirchmäuser und seine Frau Veronika. Wir nennen sie natürlich Kirchenmäuse. Aber gar so ärmlich geht’s bei ihnen nicht zu. Der Mann ist an der Bahn und hat sein gutes Auskommen. Auch für uns hungrige Studentlein fällt manch Bröcklein ab. Echt schwäbische Spätzli haben wir im Verein mit Frau Veronika fabriziert und verspeist. Überhaupt die Frau Veronika ist eine tüchtige Wirtin, nächstens soll ich bei ihr Quarkknödel bereiten lernen. Sagt das bitte der Hanne zur Beruhigung. Vorläufig lassen mich die Mädels Marlene und Ilse nicht gern an die Küche heran, nachdem ich die ersten Spiegeleier so knusprig gebraten habe, daß sie mehr schwarz als weiß waren. Mir soll’s recht sein. Am liebsten würde ich mich auch von der »Woche« drücken, die jede abwechselnd übernehmen muß. Aber Marlene läßt nicht locker. Sie spielt sich hier überhaupt sehr als Gouvernante auf und hat von mir den Spitznamen »Pensionstunte« erhalten. Alle Tage revidiert sie wie ein Polizist mein Zimmer, ich werde sie nächstens wegen Hausfriedensbruch verklagen. Also, Muzi, Du kannst ganz unbesorgt sein wegen Deiner ungeratenen Tochter. Ich werde sicher als vollendetes Prachtexemplar in Eure liebenden Arme zurückkehren. Bis dahin ist’s aber noch lange Zeit – Gott sei’s getrommelt und gepfiffen! Bitte letzteres nicht etwa persönlich oder gar übel zu nehmen.

      Urfidel und gemütlich geht’s in unserm Dreimäderlhaus zu. Diesen Namen verdankt es unsern Schwaben und Wanderbrüdern, mit denen wir Freundschaft geschlossen haben. Da ist aber gar nichts dabei. Hierzulande duzen sich viele Studenten und Studentinnen, und unsre Schwaben sind so drollig und harmlos, daß man sie gar nicht ernst nehmen kann. Besonders wenn sie reden. Das ischt zum Totlache. Ich stelle sie Euch im Bilde auf dem Hohenstaufen vor. Der kleine Schmächtige, das ist der Krabbe, ein urfideles Haus, von mir »Viehmuse« genannt, weil er Tierarzt werden will. Aber er hört trotzdem beim Bergholz Kolleg, weil das besonders interessant ist. Der lange Semmelblonde – ach so, das kann man ja auf der Photographie nicht erkennen – ist mein Spezialkollege Neumann, öfters etwas elegisch angehaucht, dann wirkt er blödsinnig komisch mit seinen melancholischen Karpfenaugen, die mit seinem lustigen schwäbischen Dialekt in krassem Widerspruch stehen. Der dritte unsrer getreuen Vasallen ist Egerling, vierschrötig wie ein Bauer. Er ist auch eines Dorfschulzen Sohn aus der Umgegend und wird »geischtlich«. Aber er taugt mit seinem ausgelassenen Übermut so wenig zum Geistlichen, wie ich zur Kloschternonne. Nun stelle ich Euch noch Ziegenhals und Steinbock vor, dann habt Ihr den Schwäbischen Wanderbund, der alle Samstag das Land unsicher macht, beieinand’, wie man hier sagt. Ziegenhals, die kleine, kugelige, ist ein gutmütiger Kerl. Meistens nennen wir sie »die kürzeste Frist«, weil sie ohne Komma und ohne Punkt futtern kann. Steinböcklein ist sehr intelligent, wie schon der Kneifer beweist. Sie studiert alte Sprachen, ist aber sonst harmlos und nicht gemeingefährlich. Nun habe ich Euch mit der ganzen Gesellschaft, all meinen Tübinger Freunden bekannt gemacht. Ach nee – die Hauptsache fehlt ja noch: Vronli und Kaschperle, die kleinen Kirchenmäuse, meine allerbesten Freunde. Gleichzeitig als Weckuhr patentiert. Jeden Morgen, Punkt sieben, erklingt vor meinem Fenster ein Duett: »Tanteli, hascht auschg’schlafe? Bischt nimmer müd?« Könnt Ihr Euch denken, wie mir Faulpelz, der daheim nicht aus den Federn finden konnte, dabei zumute ist? Aber hier ist’s doch was andres. Die Vögel bringen einem schon in aller Herrgottsfrühe ihr Ständchen, die Sonne scheint hier ganz anders als in Berlin und lockt hinaus ins Gärtle, wo alle Frühlingsblumen, die es nur gibt, bunt durcheinander blühen. Am runden Tisch unter der Linde, welche mit grünen Nasenstübern besät ist, die wir uns als Kinder so gern auf die Nase klebten, wird der Kakao von der, welche »die Woche« hat, serviert. Einmal habe ich ihn erst anbrennen lassen. Dann geht’s meist im Sturmschritt ins Kolleg. Am interessantesten finde ich Professor Bergholz, der gleichzeitig der diesjährige Rektor der Universität ist. Er spricht über Anatomie,