Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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der Hahn die Augen wieder zu, denn er konnte sein Lied schon auswendig.

      »So, den Langschläfer hätten wir geweckt«, dachte der Morgenwind und klirrte gegen die Fensterscheibe des Fremdenzimmers, das nach dem Hofe zu lag.

      Da drinnen bewegte es sich. Ein Kinderbeinchen streckte sich zum Himmel empor und verschwand dann wieder unter der Decke.

      Der Morgenwind machte ein erstauntes Gesicht. Nanu, wer lag denn heute da drin im Kinderbettchen?

      Ein fremdes, kleines Mädchen und eine fremde Puppe, die er noch niemals hier auf dem Gute gesehen hatte. Das Gesicht hatte die Kleine noch tief in den Kissen vergraben.

      Aber das Wecken verstand der Morgenwind, das war ja sein Amt hier aus dem Gut. Er nahm eine Weidenranke, die da gerade an der Mauer hing und schlug damit lustig gegen die Fensterscheibe.

      Das fremde, kleine Mädchen steckte das zweite Beinchen heraus und die Ärmchen dazu, aber es schlief weiter.

      Da gab der Morgenwind seinem Freund, dem Hahn, ein Zeichen, und der ließ sich nicht lange bitten. Aufs neue erklang es »Kikeriki – kikeriki.«

      Das kleine Mädchen droben im Fremdenzimmer aber träumte, der Hahn aus seiner Spielzeugschachtel sei lebendig geworden und habe laut gekräht.

      Doch als der Hahn auf dem Misthaufen zum drittenmal »Kikeriki – kikeriki« sang, da setzte sich die Kleine plötzlich im Bette hoch.

      Ei – das war ja ein süßes, kleines Ding, wie erstaunt sie sich in der neuen Umgebung umguckte! Die gefiel dem Morgenwind ganz ausnehmend gut.

      Jetzt endlich wußte Klein-Annemarie, denn sie und kein anderer war das fremde, kleine Mädchen, wo sie war. Richtig – in Arnsdorf. Aber wie sie hierher ins Bett gekommen, darauf konnte sie sich gar nicht mehr besinnen. Auch Tante Kätchen, Kusine Elli und die Vettern hatte sie gestern abend in ihrer Müdigkeit kaum noch begrüßen können.

      »Kikeriki«, rief der Hahn unten wieder, und »Kikeriki – kikeriki« – erschallte es auch oben aus dem Kinderbett in hellen Tönen, daß Puppe Gerda und Fräulein entsetzt hoch fuhren.

      »Aber Annemie, Kind, was fällt dir denn ein, gleich legst du dich hin und schläfst weiter«, rief Fräulein.

      »Kikeriki – der Hahn ist schon wach, dann müssen wir auch aufstehen, auf einem Gut schläft man überhaupt nicht so lange, sagt Frida.« Annemie, die gestern besonders früh ins Bett gekommen, war bereits ganz ausgeschlafen.

      Leider – denn Fräulein war noch sehr müde.

      »Sei ruhig, Herzchen, und störe mich nicht«, bat sie.

      Das versprach Annemie, denn sie hatte doch ihr Fräulein sehr lieb.

      Sie begann eine halblaute Unterhaltung mit Gerda

      »Gefällt es dir hier, Gerdachen?«

      Die Puppe zuckte die Schultern, sie konnte in der kurzen Zeit noch nicht recht urteilen.

      Inzwischen hatte der Morgenwind die Täubchen im Taubenhaus geweckt.

      »Rrruck – ruck – ruck – ruck – girrr« – machten die und hoben die Köpfchen.

      Und »rrruck – ruck – ruck – ruck, die Täubchen sind auch schon auf!« girrte es ebenfalls aus dem Kinderbettchen.

      »Aber Annemie, du hast mir doch versprochen, still zu sein«, stöhnte Fräulein.

      Ja richtig – das hatte sie wirklich bloß vergessen.

      »Hast du Angst vor den Muhkühen, Gerda, die beißen nicht!« setzte Annemie inzwischen im Flüsterton ihre Unterhaltung mit der Puppe fort.

      Gerda schüttelte den Lockenkopf. Aber als es jetzt aus dem Stall dumpf »Muh – mu – uh –« brüllte, denn der Morgenwind hatte gerade die Kühe geweckt, da verkroch sich die Puppe furchtsam unter den Kissen.

      Ihre kleine Mama aber lachte und machte noch viel schöner »muh – mu – uh«, nicht gerade zur Freude ihres müden Fräuleins.

      Eine Weile blieb es jetzt ruhig. Fräulein glaubte, der kleine Störenfried sei endlich wieder eingeschlafen und legte sich ebenfalls auf die andere Seite.

      »Mäh – mäh – mäh« – klang es da zum Fremdenzimmer hinauf. Diesmal dachte Annemie daran, daß sie Fräulein nicht wieder wecken durfte. So gern sie auch mitgeblökt hätte, sie machte fest ihren kleinen Mund zu. Aber als das »Mäh« da unten gar kein Ende nehmen wollte, hielt es Annemie nicht länger im Bett aus.

      Eins – zwei – drei – war sie mit ihrer Gerda am Fenster.

      »Ach – sind das aber viele Schäfe!«

      Und wie lustig sie durcheinandersprangen – hops – hops – denn sie wurden gerade auf die Weide betrieben. Auch die Knechte waren schon auf, sie spannten bereits die Leiterwagen ein, um aufs Feld zu fahren. Mitten auf dem Hof aber stand Onkel Heinrich und sah nach dem Rechten.

      Was – alle waren sie schon auf, der Hahn, die Tauben, die Muhkühe, die Schäfchen, die Knechte und sogar Onkel Heinrich – nein, da blieb Annemie auch nicht länger oben.

      Ein schneller Blick zu Fräuleins Bett – keine Sorge, Fräulein schlief fest. Wie der Wind war die Kleine aus der Tür, ihr Puppenkind im Arm, sprang sie seelensvergnügt die Treppe hinab.

      »Guten Morgen, Onkel Heinrich, bitte, schenke mir doch eins von den süßen, kleinen Schafen, du hast ja so viele«, erklang es plötzlich hinter dem Gutsherrn.

      Der wandte sich erstaunt um.

      Da standen zwei allerliebste kleine Hemdenmätze vor ihm, denn auch Gerda hatte noch keine Toilette gemacht.

      »Krabbe, bist du etwa Fräulein ausgekniffen, du wirst dich erkälten.« Onkel zog seine Lodenjoppe aus und wickelte Klein-Annemie und Gerda hinein. Dann nahm er sie beide auf den Arm.

      Die Knechte ringsum lachten, und auch das »Mäh« der immer noch vorübergehenden Schafe hörte sich an, als ob sie die beiden Hemdenmätzchen auslachten.

      Onkel trug die zwei ins Haus zurück.

      »Nicht wieder in die Fremdenstube,« bettelte Annemie, »bitte, bitte, lieber Onkel! Fräulein ist noch so schrecklich müde, und ich störe sie bloß«, setzte der kleine Schlaukopf hinzu.

      »Ja, wo laß ich dich denn da bloß, Krabbe? Ich muß jetzt aufs Feld reiten.«

      »Da kannst du mich ganz ruhig mitnehmen, Onkel Heinrich, auf dem großen Schaukelpferd von Klaus bin ich schon oft geritten und auf Vaters Schultern auch, du sollst mal sehen, ich falle nicht runter.«

      Aber der Onkel schien doch mit dem Vorschlag nicht so recht einverstanden zu sein.

      »Wollen mal sehen, ob Tante Kätchen schon so weit ist.«

      Ja, Tante Kätchen war schon fertig, sie lachte über das ganze Gesicht, als der Onkel ihr das lebendige Paket in den Arm legte.

      »Na, ausgeschlafen, Herzchen?«

      Aber Annemie gab keine Antwort, die mußte erst Tante Kätchens Gesicht studieren.

      »Ach, so siehste aus, Tante Kätchen? Genau wie Mutti, bloß schimpfen mußt du noch, daß ich Fräulein fortgelaufen bin.«

      Das tat aber Tante Kätchen nicht, sondern sie lachte noch viel mehr.

      »Was ziehe ich dir denn nun an, Herzchen, so kannst du doch nicht herumlaufen, und Fräulein wollen wir nicht stören – halt, ich hab’s. Da ist noch ein ausgewachsener Waschanzug vom Peter, der wird dir gerade passen.«

      »Au ja – fein!« Jauchzend ließ sich Annemie in Tante Kätchens Schlafzimmer tragen und ganz artig waschen und kämmen. Sie wollte doch so schnell wie möglich in Vetter Peters Höschen schlüpfen.

      Als Fräulein mit ängstlichem Gesicht unten erschien, denn sie hatte ihren Pflegling oben überall vergeblich gesucht, stand ein niedlicher, kleiner Junge mit zwei blonden Rattenschwänzchen