Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


Скачать книгу

ich habe auch zu Hause sechs Kinder,« erzählte die Kleine eifrig, »aber Gerda ist mein liebstes, mein Nesthäkchen. Die ist so groß –« Annemie stellte sich auf die Zehen, reckte ihre Ärmchen und zeigte ungefähr die Größe von Tante Martha.

      »Na, bring’ uns doch deine Gerda morgen mit, daß wir sie auch kennen lernen«, sagte Tante Martha lächelnd.

      »Was – Gerda darf mit in den Kindergarten kommen?« Helle Glückseligkeit leuchtete aus Klein-Annemies Blauaugen.

      »Freilich,« nickte Tante Martha, »siehst du, hier die kleine Erna hat auch ihren Bubi mitgebracht und Milly ihre Toni mit den schwarzen Zöpfen. Heute kannst du ihr Kinderfräulein sein, und morgen bist du dann auch eine Mutti und stellst uns dein Kind vor.«

      Das wurde ein lustiges Spiel. Nesthäkchen, das zu Hause gar nicht mehr mit den Puppen hatte spielen mögen, ging stolz als »Fräulein« mit Millys Toni und Ernas Bubi in den Tiergarten. Und alle paar Minuten sagte sie zu Toni: »Aber du bist ja wirklich ein schrecklicher Quälgeist, Mädchen, spiele doch wie die anderen Kinder und sage nicht immer: ›Ich langweile mich‹«

      Als das richtige Fräulein erschien, um Annemie abzuholen, machte die Kleine ein betroffenes Gesicht.

      »Was – schon – wir spielen doch gerade so schön!«

      »Morgen spielt ihr weiter, jetzt muß ich doch auch Mittagbrot essen, nicht wahr?« Tante Martha strich der Kleinen zärtlich über den Blondkopf.

      Da schlang Annemie – eins – zwei – drei – die Ärmchen um den Hals der jungen Dame und flüsterte: »Ich hab’ dich lieb, Tante Martha!«

      »Ich dich auch, mein Herzchen, weil du so artig gewesen bist – adieu, Lotte!« sagte Tante Martha.

      Selig hopste Annemarie an Fräuleins Hand durch die Straßen. »Tante Martha hat mich lieb, und sie nennt mich »Lotte«, weil ich so schrecklich artig bin, und morgen darf ich meine Gerda mitbringen.« Eins war immer schöner als das andere.

      »Na, Annemie, wie war’s im Kindergarten?« fragte Bruder Hans zu Hause.

      »Wunder–wunderschön!« rief die Kleine begeistert.

      »Hat’s Wichse gegeben?« fragte Klaus interessiert.

      »Wichse – ja woll – Schokolade hat’s gegeben!« frohlockte das Schwesterchen.

      Mutti war glücklich, daß es ihrem Nesthäkchen, das sie schweren Herzens dort oben jammernd zurückgelassen hatte, so gut im Kindergarten gefiel.

      Auch Fräulein war erfreut, denn Annemie hatte heute den ganzen Nachmittag keine Langeweile.

      Nicht ein einziges Mal quälte sie. Sie hatte ja auch viel zu viel zu tun. Galt es doch, ihre Gerda zu morgen für den Kindergarten sein zu machen. Da mußten noch ganz flink Höschen in dem kleinen Waschfaß ausgewaschen und mit dem niedlichen Plätteisen geplättet werden. Was hätten wohl Ernas Bubi und Millys Toni dazu gesagt, wenn Gerda mit unsauberen Höschen in dem Kindergarten erschienen wäre! Auch die kleine Schulschürze von Irenchen wurde für Gerda hervorgesucht. Und dann mußten dem Kinde vor allem die wirren Locken gebürstet werden, denn als Struwwelpeter konnte sie sich unmöglich Tanta Martha vorstellen.

      »Freust du dich auf morgen, Gerdachen?« fragte Annemie beim Gutenachtkuß ihr Kind.

      Das machte ein strahlendes Gesicht, aber Nesthäkchen strahlte noch viel mehr.

      »Du brauchst nicht etwa so dämlich zu sein und zu heulen, wenn Fräulein nachher fortgeht«, wandte sich Annemie am nächsten Morgen auf dem Hinweg zu der erwartungsvollen Puppe.

      Nein, Gerda war lange nicht so dämlich wie ihre kleine Mama gestern. Die weinte kein bißchen. Als Annemie sie Tante Martha mit den Worten hinhielt: »Ich möchte meine Kleine gern in dem Kindergarten anmelden, weil sie sich zu Hause gar nicht mehr beschäftigen kann«, da machte Gerda einen artigen Knicks und reichte jedem Kinde ihre Zelluloidhand zum guten Tag.

      Heute, wo Gerda dabei war, wurde es noch schöner als gestern. Annemie baute ein Haus für Gerda, und die Krabbe warf es mit dem Fuß wieder um. Auch ein Lesezeichen aus rotem und goldenem Glanzpapier lernte Klein-Annemie bei Tante Martha flechten. Das sollte Großmama haben. Und das zweite aus hellblauem und silbernem Papier war für Tante Albertinchen bestimmt.

      Vorläufig aber kam das erste noch gar nicht zustande. Das Papier hatte die unartige Eigenschaft, immer aus der Flechtnadel herauszuspringen und sogar zu reißen.

      Ungeduldig warf es Nesthäkchen hin. Aber als sie sah, daß all die kleinen Mädchen, ja sogar die kleinen Jungen, die viel jünger waren, als sie, die Flechtarbeit so geschickt zuwege brachten, griff sie wieder beschämt danach. Tante Martha sollte doch auch heute wieder »Lotte« zu ihr sagen können.

      Und allmählich sprang der bunte Streifen nicht mehr aus der Nadel, und das Papier ärgerte Nesthäkchen auch nicht mehr und riß. Ach, wie stolz war die Kleine, als das erste Lesezeichen für Großmama fertig war! Und Gerda war fast ebenso stolz auf ihre geschickte kleine Mama.

      Dann kam die Belohnung für den Fleiß. Tante Martha setzte sich ans Klavier und sang mit den Kleinen lustige Kinderlieder: vom »spannenlangen Hansel« und der »nudeldicken Dirn«, und vom »Esel und dem Kuckuck«. Viel zu früh kam Fräulein wieder, Annemie und Gerda abzuholen.

      Am dritten Tage erschien mit Nesthäkchen und Puppe Gerda noch einer im Kindergarten, der angemeldet werden sollte – Puck. Aber statt höflich mit dem Schwanze zu wedeln, blaffte er Tante Martha feindselig an. An dem kleinen Mäxchen sprang er hoch, daß es laut zu schreien begann, und der kleinen Herta schnappte er frech ein Stück Schinken von dem Frühstücksbrot. Nein, solch einen unmanierlichen Gesellen konnte Tante Martha nicht in ihrem Kindergarten brauchen, Fräulein mußte ihn gleich wieder mit nach Hause nehmen.

      Nesthäkchen aber lernte bei Tante Martha wieder sich selbst zu beschäftigen. Niemals klagte sie mehr über Langeweile, auch daheim nicht. Denn noch eins hatte Annemie gelernt: Wieder als rechtes, echtes Puppenmütterchen für ihre Kinder zu sorgen. Die brauchten sich jetzt nicht mehr über ihr Mütterchen zu beklagen, Annemie hätte sich ja vor Erna und Milly halbtot geschämt, wenn sie ihre Kinder noch länger so verwahrlost einhergehen hätte lassen.

      Am schönsten von der ganzen Woche – das fand sowohl Nesthäkchen wie Puppe Gerda – waren stets die drei Vormittage im Kindergarten – wenn es auch eigentlich gar kein richtiger Garten war!

      17. Kapitel

       Tap – tap – Knecht Ruprecht kommt

       Inhaltsverzeichnis

      Es war die Zeit, da Knecht Ruprecht abends an den Türen der Kinderstuben herumhorcht, ob die Kleinen am Tage auch brav gewesen sind und schöne Weihnachtsgaben verdienen, oder ob er ihnen nur eine Rute bringen soll.

      Da wurde manch kleiner Wildfang zahm, denn Knecht Ruprecht notierte alles in seinem Büchlein, jede Unart wurde da gebucht, und die Weihnachtsgaben danach bemessen.

      Nesthäkchen war in diesen Wochen vor Weihnachten ganz besonders artig. Selbst mit Klaus vertrug sie sich einigermaßen, damit bloß alle Weihnachtswünsche in Erfüllung gehen sollten.

      Fräulein saß mit einem großen Bogen Papier und einem langen Bleistift am Kinderstubentisch und schrieb alle die Wünsche auf, die Annemie ihr diktierte, damit Knecht Ruprecht nur ja keinen vergaß.

      »Also erst mal eine kleine Sprechstunde, wie Vater hat«, begann Nesthäkchen ihren Wunschzettel.

      »Aber Annemiechen, das kann dir der Knecht Ruprecht doch nicht bringen, sowas gibt es doch gar nicht für Kinder«, lachte Fräulein.

      »Doch – eine kleine Puppensprechstunde, und ich bin der Herr Doktor, bitte, bitte, schreibe es doch auf, Fräulein. Knecht Ruprecht, der ist doch so klug, der wird schon wissen, was ich meine«, bat die Kleine voller Zärtlichkeit.

      Also