Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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Eva aus dem Paradies wies, rief Annemarie begeistert: »Ganz wie unsere Hanne, die setzt Klaus auch immer an die Luft, wenn er genascht hat!«

      Als sie die Geschichte von Kain und Abel nacherzählen sollte, begann sie: »Kain und Abel waren furchtbar ungezogen und keilten sich doll. Dabei schlug Kain seinen Bruder mausetot.«

      Das Kapitel von der Sintflut machte den größten Eindruck auf Nesthäkchen.

      »Hat denn der Noah keine Gummischuhe und keinen Regenschirm gehabt oder wenigstens einen Lodenmantel mit Kapuze, daß er während der ganzen Regenzeit hat in seiner Arche bleiben müssen?« erkundigte es sich teilnahmsvoll.

      Auch wie der liebe Gott den Regenbogen an den Himmel gesetzt hatte, stellte sich Klein-Annemarie eigentümlich vor.

      »Weißt du, Hänschen,« sagte sie zu dem Bruder, »muß der liebe Gott aber einen großen Tuschkasten gehabt haben. Der war bestimmt noch größer als deiner!«

      Von der Turnstunde war unser Wildfang ebenfalls sehr entzückt. Die kleinen Rekruten waren schon ganz forsch einexerziert. Sie marschierten jetzt hintereinander im Takt eins – zwei, eins – zwei und liefen nicht, wie im Anfang, gleich einer Herde wildgewordener Gänse durcheinander. Sie streckten nicht mehr den rechten Arm vor, wenn der linke Fuß kommandiert war, und sie hatten sogar schon gelernt, im Kiebitzschritt zu hüpfen.

      »Großmama, kannst du Kiebitzschritt?« fragte Nesthäkchen die Großmama und führte ihre neue Kunst auch sogleich stolz vor. Großmama lachte.

      »Nein, Herzchen, solch Springinsfeld bin ich nicht mehr. Ich muß froh sein, wenn ich ganz gewöhnlichen Schritt einhergehen kann, ohne daß mich mein Reißen zu sehr plagt.«

      »Klaus plagt das Reißen auch sehr, Großmama«, schwatzte die Kleine. »In seine guten, neuen Hosen hat er sich gleich das erstemal ein Dreieck gerissen. Fräulein sagt, er sei ein Reißdeibel. Aber ich habe gedacht, Großmamas sind schon zu alt dazu.«

      Großmama lachte, daß sich lauter kleine Linien um ihren Mund und ihre Augen gruben.

      »Ich wünschte, ich wäre noch solch ein Reißdeibel. Aber mein Reißen ist schmerzhafter, wenn auch vielleicht das von Klaus für Fräulein recht schmerzhaft ist. Mein Reißen sitzt in den Knochen und nicht in den Kleidern.«

      Das konnte sich Klein-Annemarie schwer vorstellen.

      Wenn Großmama aber auch keinen Kiebitzschritt konnte, so verstand sie doch eine Kunst, die Nesthäkchen eigentlich noch wertvoller erschien als das Kiebitzhüpfen. Hatte Klein-Annemarie doch schon bittere Tränen geweint, weil es ihr so unsagbar schwer fiel, dieselbe zu erlernen. Das war die schwierige Kunst des Strickens.

      »Ach, Großmama, sieht dein Strumpf aber sauber aus!« rief Nesthäkchen voll Bewunderung, als Großmama ihr weißes Strickzeug vorzog.

      »Ei, Herzchen, das liegt nur daran, daß ich immer reine Hände habe, wenn ich an die Arbeit gehe.«

      »Nee, Großmama, nee, ich kann noch so saubere Hände haben, mein Strickzeug wird doch schwarz. Lauter Löcher und Knoten kommen immer in meinen Waschlappen, ganz von allein, ich kann gar nichts dafür. Und Fräulein Hering hat mich gestern in der Handarbeitsstunde ein Prudellieschen genannt. Ist das eine Schande, wenn man als Erste in der Klasse ein Prudellieschen ist? Mutti hat’s gesagt.«

      »Ja, das ist in der Tat eine Schande«, nickte Großmama, und die Brille auf ihrer Nase nickte mit. »Aber mein kleines Annemiechen soll das Stricken bald lernen und kein Prudellieschen mehr sein. Wozu wäre denn wohl die Großmama da! Nächsten Sonntag lade ich dich den ganzen Tag zu mir ein, da bringe ich’s dir schon bei.«

      »Muß ich dann den ganzen Sonntag Stricken lernen?« erkundigte sich Nesthäkchen noch vorsichtig, trotzdem ihr Gesicht vor Freude über die Einladung strahlte. Großmama bejahte, aber als sie sich jetzt Annemaries Leibgericht ins Ohr sagen ließ, da wußte Nesthäkchen, daß es nicht allzu schlimm werden würde. Schokoladenspeise und Stricknadeln, das paßte doch nicht zueinander. Und dann, bei Großmama war alles hübsch, selbst das abscheuliche Stricken!

      Des Sonntags in aller Herrgottsfrühe, Hanne und Frieda waren kaum aufgestanden, begann Nesthäkchen schon zu rumoren.

      »Fräulein, wir müssen aufstehen, Großmama erwartet mich schon ganz früh, hat sie gesagt.« Als Fräulein mit Anstrengung die müden Augenlider aufschlug, stand Annemarie im Nachthemdchen bereits vor ihrem Bett.

      »Willst du dich wohl gleich wieder hinlegen; wenn du dich nicht ganz artig und ruhig verhältst, darfst du überhaupt nicht zur Großmama«, sagte Fräulein aufgebracht.

      »Aber ich muß doch Stricken lernen, nachher wird es zu spät.« Betrübt kroch Nesthäkchen wieder ins Bett.

      Vater, der den Sonntagsmorgenkaffee, wenn seine Zeit es erlaubte, gern etwas länger ausdehnte, um dabei mit Frau und Kindern zu plaudern, mußte heute auf sein Nesthäkchen verzichten. Das stand bereits um acht Uhr fix und fertig für den Besuch bei Großmama da. Am Arm hatte es ein Körbchen, in dem das von Tante Albertinchen zum letzten Weihnachtsfest erhaltene Wunderknäuel bereitlag. Das sollte heute eingeweiht werden.

      »Lotte, die Großmama ist ja noch gar nicht auf, du kannst ruhig deinen Hut noch ein Stündchen absetzen«, meinte Mutti.

      »Ach, alte Leute schlafen nicht mehr so gut, Großmama hat es neulich selbst gesagt, da ist sie ganz sicher schon wach!« behauptete die Kleine. Sie gab nicht eher Ruhe, als bis sich Fräulein ebenfalls den Hut aufsetzte, um den Quälgeist nur endlich los zu sein.

      Großmama war aufs freudigste überrascht, als ihr kleiner Besuch schon zu dieser frühen Morgenstunde antrat.

      »Du bist wohl jetzt der Nachtwächter von Berlin?« scherzte sie, »na, für die Großmama kommst du nie zu früh, Herzchen.« Die alte Dame war noch bei ihrer Morgentoilette.

      Fräulein verabschiedete sich, nachdem sie Annemarie noch ermahnt hatte, recht artig zu sein. Nesthäkchen aber sah andächtig zu, wie Großmama sich frisierte.

      »Großmama, du hast so niedliche graue Haare, und so kurz sind sie noch wie von meiner Puppe Gerda!« sagte sie voll Bewunderung. Ach, und wie wunderbar – Großmama konnte ihren Zopf abnehmen, der war nicht angewachsen! Großmama kämmte und flocht ihn in der Hand.

      »Tut dir das weh, Großmama, wenn du den Zopf ziepst?« erkundigte sich Klein-Annemarie angelegentlich.

      Großmama konnte vor Lachen kaum den Kopf schütteln.

      Aber als die Kleine dann noch einmal mit Großmama auf dem Balkon frühstücken sollte, meinte sie: »Nein, Großmuttchen, dazu haben wir heute keine Zeit, sonst wird’s zu spät mit dem Strickenlernen.«

      »Herzchen, meinen Kaffee muß ich haben, auf den kann ich selbst dir zuliebe nicht verzichten«, meinte Großmama belustigt. Da zügelte auch Klein-Annemarie ihren Eifer so weit, daß sie sich erst mal eine große Honigsemmel schmecken ließ.

      »Nun können wir anfangen, Großmama«, meldete das kleine Mädchen, nachdem es diese Arbeit vollbracht, und griff nach dem Strickkörbchen.

      Aber »halt, Herzchen, halt!« rief die das Kaffeegeschirr zur Seite räumende alte Dame. »Wenn du mit klebrigen Honighänden die Arbeit beginnst, kann sie nicht sauber ausfallen. Solch Wunder vermag selbst ein Wunderknäuel nicht zustande zu bringen.«

      Die Händchen wurden geseift und gebürstet und die Maschen von Großmama aufgelegt.

      »So, jetzt stricken wir zusammen, Herzchen, du sollst mal sehen, wie schön das gehen wird. Also: Einstechen, Faden durchziehen, abheben. Hast du das fertig gekriegt?«

      »Ja, Großmuttchen, ich habe sogar noch drei Maschen dazu abgehoben«, rühmte sich Nesthäkchen stolz.

      »Nein, Kind, eine ist genug, mehr ist von Übel.« Großmama holte die drei Ausreißer schnell wieder zurück.

      Wieder begann es: »Einstechen, Faden durchziehen, abheben.« Diesmal gelang das Kunststück.

      »Jetzt die nächste!« Nesthäkchen saß mit heißen Wangen