Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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den Schlüssel an dem rosenroten Bändchen, das sie stolz um den Hals trug, hervor.

      »Laß lieber s–tecken«, meinte die verständigere Ellen. »Wir sollen uns doch zum Abendbrot fertig machen. Gleich wird es schellen.«

      Aber Doktors Nesthäkchen pflegte daheim auch nicht immer zu gehorchen. Nein, sie mußte Ellen und Gerda, die sich auch inzwischen eingefunden hatte, unbedingt erst noch die schönen, neuen Sachen aus ihrem Köfferchen zeigen.

      Nun mag man noch so verständig sein: wenn man erst dreizehn Jahre alt ist, hat man auch ein ganzes Teil Neugierde in sich. Ellen war genau so begierig wie Gerda, zu sehen, was die kleine Fremde Schönes mitbrachte. So hockten sie alle drei um das neue Köfferchen herum, aus dem Annemarie jetzt all die hübschen, neuen Sachen, die Mutti so ordentlich eingepackt, wild durcheinander auf dem Fußboden herumstreute. Immer höher wurde der Berg von Sachen um die kleinen Mädchen. Bewundernde »ach, wie fein!« und »nein, ist das süß« begleitete zu Annemaries freudigem Stolz fast jedes Stück.

      Vergessen war das Abendbrot – nicht einmal die Glocke, welche die Kinder zum Essen rief, wurde von ihnen beachtet. Ellen, eine kleine Leseratte, war bereits in das schöne Geschichtenbuch, das Annemarie ausgepackt, vertieft. Gerda begutachtete inzwischen die Garderobe ihrer Puppennamenschwester. Und Annemarie selbst hatte den blauen Badeanzug mit dem weißen Anker selig vor sich ausgebreitet und sah sich bereits damit in den Nordseewellen herumhopsen.

      Da wurden sie alle drei jäh aus ihrer Versunkenheit herausgerissen. Die Tür ward geöffnet. Miß John erschien, um die drei kleinen Säumigen zum Essen zu holen.

      »Himmel – wie sieht der Stube aus!« Entsetzt blieb sie an der Schwelle stehen. »Ellen, du sein genug groß, nicht zu dulden das Unordnung«, meinte sie ärgerlich.

      Trotzdem es unartig war, zu lachen, wenn eine Lehrerin böse war, konnte sich Annemarie nicht helfen. Laut los kicherte sie, die Sprache der englischen Miß war aber auch zu ulkig!

      »Warum lachen du? Es sein nicht zu lachen, wenn du machen der schöne Stube so häßlich. Aber jetzt erst kommen zu essen die Abendbrot.« Wieder begann es um Annemaries Lippen zu zucken, aber diesmal nicht vor Lachen. Das kleine Fräulein war sehr empfindlich, ein Vorwurf von fremder Seite ging ihr nah. Stumm folgte sie Ellens und Gerdas Beispiel und wusch sich die Hände.

      Inzwischen tat es Miß John leid, daß sie der kleinen Fremden, die ja noch nicht die Hausordnung kannte, den ersten Verweis in ihrer neuen Heimat gegeben.

      »Du brauchen nicht zu sein betrübt, Annemarie«, sagte sie beim Verlassen des Zimmers, die Wange des kleinen Mädchens aufmunternd klopfend.

      Aber Annemarie war gar nicht mehr »betrübt«. Die sauste bereits wieder zur nicht geringen Verwunderung der Engländerin höchst fidel das blanke Treppengeländer hinab.

      »Gerda, das kannst du auch machen, trotz deines kranken Beines«, rief sie von unten hinauf.

      Aber Gerda hatte gar keine Lust dazu, die war durch ihr Leiden niemals ein wildes Kind gewesen. Miß John schüttelte den Kopf, sie mochte nicht schon wieder schelten. Doktors Nesthäkchen aber hat, trotz allen Kopfschüttelns und aller Verweise – wie ich gleich verraten will – das ganze Jahr, das es im Kinderheim zubrachte, kaum einmal die Treppenstufen hinunter benutzt. Das blanke Geländer war stets zu verlockend.

      Die andern Kinder waren schon eifrig am Werk.

      »Na, ihr drei habt wohl gar keinen Hunger?« Frau Kapitän drohte lächelnd.

      »Ei, Annemarie, du hast wohl gleich ausgepackt?« scherzte Tante Lenchen, die Kleine auf einen leeren Stuhl neben sich ziehend. Sie ahnte nicht, daß sie das richtige getroffen.

      Annemarie wurde rot.

      »Bitte, Tante Lenchen, seien Sie nicht böse, ich wollte Ellen und Gerda so schrecklich gern die neuen Sachen in meinem süßen Köfferchen zeigen. Und dabei habe ich alles furchtbar liederlich gemacht – aber Miß John hat schon geschimpft«, setzte sie noch schnell hinzu. Als ob Tanke Lenchen das nun nicht mehr nötig hätte.

      Nein, Tante Lenchen schalt auch nicht. Die freimütige, offene Art der kleinen Neuen nahm ihr Herz gefangen. Wenn es auch eine wilde Hummel zu sein schien, die Hauptsache – es war ein ehrliches, aufrichtiges Kind.

      Zum Abendbrot gab es Himbeergrütze mit Butterbroten. Das schmeckte Annemarie wie allen andern fein. Wenn nur nicht der große Becher Milch vor jedem Gedeck gestanden hätte.

      Puh – Milch trank sie so ungern! Noch dazu mit der dicken Sahne, welche die gute Hanne zu Hause »ihrem Kinde« stets vorher durchsiebte. Nein, die konnte sie bestimmt nicht herunterkriegen. Als die Teller und Becher schon sämtlich geleert waren, stand der ihre noch unberührt.

      »Na, Annemarie?« sagte Tanke Lenchen und nichts weiter.

      Das genügte aber auch. Während Mutti und Fräulein zu Hause sich stets den Mund fusselig reden mußten, bis Nesthäkchen sich dazu bequemte, seine Milch zu trinken, leerte es hier in wenigen Zügen trotz der Sahne das Glas. Und als Tante Lenchen, die sah, daß es dem Kinde nicht leicht wurde, ihm anerkennend über das Blondhaar strich, war keiner froher als Annemarie.

      Mit kundiger Hand schaffte Tante Lenchen auch bald in dem wüsten Durcheinander, das Annemarie in ihrem Zimmer angerichtet, Ordnung. Zum Spielen kam die Kleine heute freilich nicht mehr. Aber es war ebenso hübsch, Tante Lenchen beim Einräumen der Sachen zu helfen und alles von ihr bewundern zu lassen.

      Um acht Uhr läutete es zum Schlafengehen. Müde von der Seeluft und all dem Neuen, das sie heute erlebt, streckte sich Doktors Nesthäkchen zum erstenmal auf ihrem Lager in Villa Daheim. Und gerade, als sie anfangen wollte, ein bißchen zu weinen, weil Mutti nicht wie sonst zu ihr kam, um ihr den Gutenachtkuß zu geben, kam ein anderer – der Sandmann. Schwapp – warf er ihr die Blauaugen voll Sand, und da schlief die Annemarie auch schon, und im Traum war sie bei ihrer Mutti.

      10. Kapitel

       Oll Modder Antje

       Inhaltsverzeichnis

      Eine Glocke weckte Annemarie in aller Herrgottsfrühe am andern Morgen. Sie war noch ganz verschlafen und glaubte, in Berlin zu sein.

      Himmel – war das nicht das Läuten des Schuldieners Piefke – kam sie zu spät in die Schule?

      »Fräulein – Fräulein – es läutet – Margot ist bestimmt schon ohne mich heute in die Schule gegangen«, mit beiden Beinen zugleich sprang Annemarie erschreckt aus dem Bett.

      Aber verdutzt blickte sie um sich. Da war kein Fräulein und keine Berliner Kinderstube. In den Betten drüben an den rosenrot getünchten Wänden lagen zwei fremde Kinderköpfe eingekuschelt, ein brauner mit Zöpfen und ein rötlich blonder Lockenkopf.

      Ach – sie war ja im Wittdüner Kinderheim! Jetzt wußte Doktors Nesthäkchen wieder Bescheid. Der Lockenkopf da drüben, der müde zu ihr hinblinzelte, gehörte ihrer neuen Freundin.

      »Du, Gerdachen, es hat eben zur Schule geläutet, du mußt aufstehen«, flüsterte Annemarie, da Ellen noch fest schlief.

      »Ih wo, das war doch die Dampferglocke«, Gerda legte sich gähnend auf die andere Seite und tat es Ellen nach.

      Aber Doktors Nesthäkchen war jetzt ganz ausgeschlafen, das mochte nicht noch einmal zurück ins Bett. Viel verlockender war es, in der neuen Heimat aus Entdeckungsreisen auszugehen.

      Geräuschlos kleidete Annemarie sich an. Seit einem Jahr wusch sie sich schon allein, nur die Ohren hatte Fräulein öfters einer gründlichen Nachuntersuchung zu unterziehen. Mit dem Kämmen war die Sache schon schwieriger. Die welligen Blondhaare waren hier durch den ständigen Wind noch zerzauster, als in Berlin. Annemarie riß, zerrte und ziepte, daß ihr der Kopf weh tat, aber sie wollten sich nicht entwirren lassen. Da machte die Kleine kurzen Prozeß und band sie mit dem roten Seidenband nach hinten in ein drollig vom Kopf abstehendes Schwänzchen zusammen. Nun noch flink das gepunktete Musselinkleid – o weh