sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war, das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt war.
"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu hören.
"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder", sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl festbinden. Kannst du das verstehen?"
"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer Unterrichtsstunde still zu sitzen.
Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war heute gar keine Zeit gewesen.
Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit, die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig, nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Boden her.
"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein Rottenmeier hat es befohlen."
Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so fahre die Mamsell nur zu."
"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich Mamsell sage", erklärte Sebastian.
"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer hinzu.
"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im Schrank zurechtlegte.
"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können; es langte nur bis zum Gesims hinauf.
"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf wieder zurück.
"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht, was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen kann über das ganze Tal hinab?"
"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
"Weiß nicht", war die Antwort.
"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
"Weiß nicht."
"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
"Freilich weiß ich eine."
"So komm und zeige mir sie."
"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge! "Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein Bildchen wieder ein.
"Geld."
"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel willst du?"
"Zwanzig Pfennige."
"So komm jetzt."
Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der Junge stand still und sagte: "Da."
"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest verschlossenen Türen sah.
"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
"Weiß nicht."
Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kräften daran.
"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
"Was gibst du mir dann?"
"Was muss ich dir dann wieder geben?"
"Wieder zwanzig Pfennige."
Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus