Tobias Arand

1870/71


Скачать книгу

sein. Zeitz hat von Krieg und Militär keine Ahnung und ist somit eine Belastung für seine Kompanie. Selbst die Funktionsweise eines Gewehrs muss er sich erklären lassen. Zeitz tritt nach dem Gespräch mit dem Bataillonskommandeur vor den Hauptmann seiner Kompanie: »›Nun, dann will ich sehen, einen tüchtigen Soldaten aus Ihnen zu machen. Kennen Sie das Zündnadelgewehr?‹ ›Nein, ich habe noch keins gesehen‹, mußte ich betreten zur Antwort geben. ›Kapitän d’armes!‹ rief der Hauptmann. Es erschien ein Mann in Uniform auf der Bildfläche, in dem ich später einen preußischen Sergeanten entdeckte. ›Ihr Gewehr!‹, befahl ihm der Hauptmann. Diese Scene spielte sich mitten auf dem Kasernenplatz ab, der Hauptmann saß dabei hoch zu Roß. Der Sergeant reichte ihm das Gewehr auf das Pferd. Der Hauptmann nahm es regelrecht, immer hoch zu Roß, in die linke Hand und sagte mir, indem er, wo dies zur Erklärung nötig, mit der rechten die betreffenden Griffe stramm durchmachte: ›Sehen Sie, das hier ist ein Zündnadelgewehr.‹ […] ›Das nehmen Sie so in die Hand!‹ Ich nickte. ›Schlagen die Kammer auf!‹ Ich nickte wieder. ›Legen so die Patrone ein!‹ Ich nickte nochmals. ›Schlagen die Kammer zu!‹ Ich nickte weiter. […] ›Dann brauchen Sie nur zu schießen!‹, schloß der Hauptmann seine kurze aber inhaltsschwere Instruktion. […] Der Musketier war fertig.«9 Dass Zeitz auch nach dieser peinlichen Vorführung noch nicht im Geringsten ahnt, worauf er sich eingelassen hat, wird er rasch erfahren.

      Doch der Großteil der Einberufenen besteht nicht aus Kriegsfreiwilligen, sondern neben den aktiven Jahrgängen und Berufsoffizieren aus Reservisten wie Albert Böhme, die im Alltag einer Arbeit nachgehen und meist Familien zu ernähren haben. Die Reservisten werden zu den Kasernen ihrer ›alten‹ Regimenter einberufen, die in der sogenannten ›Friedensstärke‹ nur aus den jeweiligen Wehrpflichtjahrgängen und ihren Berufsoffizieren bestehen. Mit den Reservisten und den Freiwilligen zusammen haben die Regimenter dann die erforderliche ›Aufwuchsstärke‹.

      Nach Sammlung aller Männer eines Regiments und nach einigen Tagen Drill in Übungslagern werden die Kämpfer, ihre Waffen, Pferde, Verpflegung und Munition so rasch wie möglich mit Zügen an die Grenze gebracht. Die Mobilisierung in den deutschen Ländern läuft nach präzisen Plänen und in bedeutend rascherem Tempo ab als von den Franzosen erwartet. Ein Grund für die deutsche Geschwindigkeit ist unter anderem die typisch preußische Präzision in Planung und Durchführung der Mobilisierung. Zwar verlaufen die Mobilisierung und der Truppentransport der Deutschen in äußerst geordneten Bahnen, doch überall, wo derartige Mengen von Menschen und Material bewegt werden müssen, passieren Unfälle, die sogar den besten Plan behindern können. So werden zum Beispiel am 27. Juli durch ein Zugunglück in Wallhausen im Harz sieben Mann des Füsilierbataillons des 26. Infanterie-Regiments getötet und 40 Männer verletzt. Der Militärtransport entgleist durch den Zusammenstoß mit einem leeren Waggon, nachdem eine Weiche falsch gestellt worden war. Bedeutsamer für die Schnelligkeit der deutschen Mobilisierung ist jedoch die Ausrichtung der Eisenbahnstrecken. Während die französischen Eisenbahnlinien konsequent mit Zielrichtung Paris konzipiert worden sind und so sternförmig auf die Hauptstadt zulaufen, wurde in Preußen beim Eisenbahnbau bereits weit vor dem Krieg strategisch gedacht. Die Grenzregion zu Frankreich ist gezielt mit Eisenbahnstrecken erschlossen worden, von allen Winkeln Preußens aus ist sie gut und rasch mit Zügen zu erreichen. Als problematisch erweisen sich jedoch an den innerdeutschen Grenzen unterschiedliche Spurgrößen zwischen den preußischen und den süddeutschen Bahnen.

      Ab dem 23. Juli, nur wenige Tage nach der französischen Kriegserklärung, rollen auf sechs norddeutschen und drei süddeutschen Eisenbahnlinien die Truppentransporte. Jede Form nicht militärischen Eisenbahnverkehrs ist für diese Zeit dort verboten. Die deutschen Bahnlinien werden in jede Richtung mit zwölf bis 18 Zügen belastet, die aus Sicherheitsgründen in mäßiger Geschwindigkeit und in Abständen von einer Stunde hintereinander herfahren. Jeder Zug umfasst um die 50 Waggons. Um Unregelmäßigkeiten durch Unfälle oder Verzögerungen ausgleichen zu können, gibt es auf allen Strecken Ruhepausen von sechs bis zwölf Stunden. Die Kämpfer werden in Güterwagen, aber auch in normalen Personenwaggons transportiert. Das geringe Tempo der Züge und die Pausen werden von vielen Soldaten als große Strapaze erlebt, da in den letzten Julitagen 1870 große Sommerhitze herrscht. Vom 23. bis zum 31. Juli befördern die deutschen Eisenbahnen mit rund 900 Zügen 460 000 Mann in die Ausgangsstellungen nahe der französischen Grenze. Damit ist der deutsche Aufmarsch für die ersten Operationen abgeschlossen. In den folgenden zwei Wochen, also schon nach Beginn der Kämpfe, werden dann mit 600 nachfolgenden Zügen 180 000 weitere Soldaten als erste Reserve über den Rhein gebracht. Insgesamt werden so in einer großen Kraftanstrengung innerhalb von drei Wochen 640 000 Mann und 170 000 Pferde mit 1500 Zügen transportiert. Im Verlauf des Krieges folgen noch knapp 390 000 Mann Landwehr und Ersatzreserve. Die Landwehr dient vor allem für den Einsatz in der Etappe und in der Heimat, zum Beispiel bei der Bewachung von Kriegsgefangenen. Auch bei Belagerungen kommt die Landwehr zum Einsatz. Der massive Verlust an wehrfähigen Männern in den ersten Monaten des Krieges macht mit der Einberufung der Landwehr zusätzlich ältere Männer zu Kriegsteilnehmern. Ihr Fehlen wirkt sich im Verlauf der Kämpfe auf die Wirtschaft, vor allem auf die Landwirtschaft, in den deutschen Ländern aus.

      Desgleichen müssen wehrpflichtige Männer im Ausland ihrem Gestellungsbefehl Folge leisten. So reisen auf Befehl der preußischen Botschaft am 17. Juli, abends um halb neun, in Paris lebende norddeutsche Staatsbürger mit einem Zug 3. Klasse von der ›Gare du Nord‹ über Belgien zurück in die Heimat. Vor allem in den Pariser Geschäfts- und Bankhäusern arbeiten 1870 zahlreiche Deutsche. In diesem Zug befindet sich auch der junge Franz Plitt. Plitt stammt aus einer wohlhabenden Familie im vormals kurhessischen, seit dem Krieg von 1866 preußischen Kassel. Nach Lehre und einigen Jahren Berufstätigkeit in London meldet sich Plitt am 1. November 1866 als ›Einjährig-Freiwilliger‹ bei der preußischen Armee, in welche die alte kurhessische Armee erst kurz zuvor aufgegangen ist. ›Einjährig-Freiwillige‹ werden Wehrpflichtige mit höherem Schulabschluss aus wohlhabenden Kreisen genannt, die nur ein Jahr dienen und dabei ihre Ausrüstung und Unterbringung aus eigener Tasche bestreiten müssen. Je nach Truppengattung können die Kosten für die ›Einjährig-Freiwilligen‹ enorm sein. Sie dürfen ihre Einheit selbst auswählen und nach dem Dienstjahr den Posten eines ›Reserve-Offiziers‹ antreten. Den Dienst in der Kavallerie können sich allerdings nur Adlige leisten, während Bürgersöhne meist den Dienst in der Artillerie oder der Infanterie wählen. Als Reserveoffiziere müssen ›Einjährig-Freiwillige‹ auch nach der Dienstzeit den Militärbehörden zur Verfügung stehen und für diese erreichbar bleiben. Plitt tritt dem Infanterie-Regiment (3. Kurhessisches) Nr. 83 bei. Schon seit den faszinierenden Berichten von der Pariser Weltausstellung 1867 ist es Plitts Traum, einige Zeit in Frankreichs Hauptstadt zu verbringen. Er spricht gut Französisch und reist daher wohlgemut und gespannt auf neue Eindrücke im Februar 1870 nach Paris. Er will dort für ein Jahr arbeiten. Vorher hat er sich von seiner Militärbehörde für ein Auslandsjahr beurlauben lassen. Allerdings hat er die Vorgabe erhalten, sich im Falle einer Mobilmachung ohne Warten auf einen Gestellungsbefehl zurück in die Heimat zu begeben. Franz Plitt findet in der Maschinenfabrik Petteau in Paris-Passy rasch eine Anstellung. Mit seinen Kollegen versteht sich der junge Franz sehr gut, sie zeigen ihm die Stadt und laden ihn zum Essen ein. Doch dann kommt der Juli: »Ich begann mich dort recht unheimlich zu fühlen; als aber die Regimenter durchkamen und nach den Bahnhöfen abrückten, da dachte ich, jetzt ist es die höchste Zeit, abzureisen, da ich befürchten musste, durch Hemmungen des Verkehrs nicht mehr rechtzeitig die Grenze erreichen zu können. Ich nahm von meinem Principal und dem Geschäftspersonal Abschied und fuhr den 17. abends vom Nordbahnhof über Belgien ab.«10 Unter Plitts Mitfahrern befindet sich auch mancher Deutsche, der nach Jahren in Frankreich heimisch geworden ist und dort eine Familie gegründet, dabei aber nicht die französische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Unter Tränen müssen diese Deutschen nun ihre Liebsten in Frankreich verlassen, um gegen die zweite Heimat zu kämpfen.

       Abb. 2: Maurice d’Irisson, Comte d’Hérisson, Fotografie, o. J.

      Der Schutz deutscher Staatsbürger in Frankreich wird mit Abgabe der Kriegserklärung durch die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika übernommen, für Franzosen in Deutschland ist ab diesem Zeitpunkt die