auf der einen Seite die monarchistisch-feudal gesinnten Konservativen, auf der anderen die durch das rasche Wirtschaftswachstum in den 1850er- und 1860er-Jahren immer selbstbewusster gewordenen bürgerlich gesinnten Liberalen. Durch das preußische Dreiklassenwahlrecht fundamental benachteiligt, haben die Wähler aus Proletariat und Landbevölkerung keine parlamentarischen Vertreter, die genuin ihre Interessen vertreten könnten. Sie sind auf das Wohlwollen der von den Adligen sowie Besitz- und Bildungsbürgern gestellten Abgeordneten angewiesen. Die Minister werden direkt vom König bestimmt und sind nur diesem Rechenschaft schuldig. Der König kann den Landtag jederzeit auflösen und neu wählen lassen. Dieses preußische Abgeordnetenhaus hat also keine weitgehenden Rechte, doch ein Instrument der Beeinflussung der königlichen Politik besitzt es: das Budgetrecht. Das preußische Abgeordnetenhaus kann den jährlich vorgelegten Staatshaushalt ablehnen und so politische Forderungen artikulieren. Im Jahr 1862 ist die liberale Mehrheit des Hauses sehr unzufrieden mit dem Haushalt. Der Streit geht so weit, dass der König sogar daran denkt, abzudanken.
Was ist das Problem? Der Konflikt, der Preußen in eine Staats- und Verfassungskrise stürzt, dreht sich um die Heeresvorlage des königlichen Kabinetts. Diese sieht 1860 eine Verlängerung der Wehrdienstzeit und damit eine Vergrößerung des Friedensbestands des Heeres von zuvor 140 000 Mann, ein Stand, der seit 1815 trotz des schon erwähnten Anstiegs der Einwohnerzahl Preußens nicht mehr verändert worden war, auf nunmehr 200 000 Mann vor. Daneben bestehen bereits im Jahr 1858 Pläne zur Schwächung der Landwehr, die seit den Befreiungskriegen ein bürgerlich dominiertes Ersatzheer darstellt, das im Kriegsfall rasch mobilisiert werden kann. Die Pläne der Regierung sollen den Ausbildungsstand des Heeres verbessern und die Friedensstärke auf eine Größe bringen, welche die preußische Armee konkurrenzfähig mit den Heeren anderer Staaten machen soll. Weiterhin soll die Armee technisch modernisiert und aufgerüstet werden. Dieser Plan ist durchaus plausibel. Dadurch, dass die Einziehungsrate von Rekruten trotz der Verdoppelung der Einwohnerzahl seit vierzig Jahren nicht erhöht worden ist, entgehen jährlich 23 000 Männer dem Wehrdienst. Preußen ist von Kriegsgegnern umgeben und muss verteidigungsfähig bleiben. Gleichzeitig soll mit der Armee, die schließlich wesentlich an der Niederschlagung der Revolution beteiligt war, auch die Macht der Monarchie gestärkt, mit der Schwächung der Landwehr ein möglicher demokratischer Unruheherd ausgeschaltet werden. König und konservatives Kabinett bitten das Abgeordnetenhaus um die Bewilligung der nicht unerheblichen Mehrkosten für ihre Pläne. Die liberalen Kräfte, insbesondere die Mitglieder der 1861 gegründeten ›Deutschen Fortschrittspartei‹, lehnen die Heeresreform jedoch mit ihrer Mehrheit ab und versuchen an diesem neuralgischen Punkt, die Macht des Parlaments durch Verweigerung des Gesamthaushalts zu stärken. Die Liberalen sind keineswegs grundsätzliche Antimilitaristen. Vielmehr befürworten sie die Wehrpflicht und den Waffendienst für alle als eine demokratische Errungenschaft. Aber sie haben dem Heer seine Rolle in den Jahren 1848/49 nicht vergessen.
Ohne parlamentarisch abgesegneten Haushalt ist der Staat Preußen jedoch praktisch handlungsunfähig. Der König ist verzweifelt und hat sein Abdankungsschreiben angeblich schon abgefasst. In dieser Situation beruft Wilhelm I. jedoch, statt zu demissionieren, lieber Otto von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten. Dass diese Berufung auf Vermittlung ausgerechnet Albrecht von Roons, des preußischen Kriegsministers, zustande kommt, soll sich als symbolhaft für die Zukunft erweisen.
Bismarck hat den Auftrag, die Parlamentarier zu bändigen und den Willen des Königs durchzusetzen. In einem dramatischen Vieraugengespräch am 22. September 1862 zwischen Bismarck und dem König versichert Bismarck seinem Monarchen absolute Treue und einen Kampf bis aufs Letzte für die Durchsetzung der Heeresreform. Der 1815 in Schönhausen bei Stendal geborene Gutsverwalter und studierte Jurist Bismarck steigt 1847 in die Politik ein und macht sich als erzkonservativer Monarchist und reaktionärer Scharfmacher rasch einen bei Liberalen verhassten Namen. Als kleiner Landedelmann mit wenig herausragendem Juraexamen gilt er auch vielen Mitgliedern des Hochadels als wenig satisfaktionsfähig. Er spürt die Herablassung und beantwortet sie mit übersteigertem Selbstbewusstsein und zuweilen dröhnender Ruppigkeit. Selbstverständlich lehnt er die Revolution von 1848/49 strikt ab. 1851 wird Bismarck preußischer Gesandter im Bundestag von Frankfurt, 1859 wird er nach Sankt Petersburg versetzt, 1862 noch kurz nach Paris. Bismarck, zwar ein Mann von konservativen Überzeugungen, paart seinen Konservatismus mit einem kalten Machtinstinkt und scharfen Realitätssinn. Beide Gaben lassen dann zuweilen eine politische Wendigkeit und eine moralische Flexibilität erkennen, die Bismarck vielen Konservativen suspekt macht. Bismarck interessiert sich letztlich nicht für Prinzipien, sondern einzig für die Durchsetzung der Bedürfnisse Preußens und seines Königs, wobei Bismarck Wilhelm allerdings häufig erst zwingen muss, sein Handeln als tatsächliche Erfüllung königlicher Interessen zu verstehen. Dazu kommt Bismarcks Neigung, in der Formulierung seiner Meinung keinerlei Rücksicht auf die Empfindlichkeiten anderer zu nehmen – eine Eigenschaft, die durch seine Körpergröße, den buschigen Schnurrbart und einen strengen Blick noch an Schärfe gewinnt. Lediglich Bismarcks schwache Stimme passt nicht zu seiner einschüchternden Physis und dominanten Art. Die Urteile mancher Zeitgenossen sind harsch. Der englische Diplomat Sir Alexander Malet fällt 1862 ein ambivalentes Urteil: »Er hat eine starke, vielleicht unangemessene Verachtung der öffentlichen Meinung und eine kaum geringere gegenüber dem deutschen Liberalismus und seinen Führern; er ist in der Äußerung seiner Ansichten freimütig bis zur Unverfrorenheit und besitzt eine außerordentliche Selbstbeherrschung. Ich glaube kaum, dass irgendwelche Bedenken für ihn Gewicht haben, wenn es sich um eine territoriale Abrundung Preußens handelt […].«13 Max von Forckenbeck, führender Liberaler, schreibt über Bismarck deutlich schärfer als der neutrale Diplomat Malet: »Bismarck-Schönhausen bedeutet: Regieren ohne Etat, Säbelregiment im Innern, Krieg nach außen. Ich halte ihn für den gefährlichsten Minister für Preußens Freiheit und Glück […].«14 Auch Wilhelms Frau Augusta lehnt Bismarck ab. Die Abneigung ist wechselseitig. Später sollte er sich wenig freundlich über Augusta äußern und bemerken, dass sie ihm »mehr Probleme bereitete, als alle ausländischen Mächte und Oppositionsparteien im Innern«15. Was Bismarcks Opponenten jedoch meist übersehen, sind Bismarcks Gedankenschärfe und Tiefgründigkeit. Dieser Mann handelt selten unbedacht und seine Provokationen sind stets taktisch begründet. Berüchtigt, zugleich aber daneben Ausweis seiner Intellektualität sind Bismarcks scharfzüngige, stilistisch anspruchsvolle Beobachtungen menschlichen Handelns und menschlicher Charaktere, wie er sie in Briefen und Reden äußert. Hinter der ruppigen Fassade verbirgt sich schließlich ein feinfühliger, vielseitig interessierter Geist mit zuweilen schwachen Nerven. Der kettenrauchende, Unmengen Schinken und Brandy konsumierende Hüne Bismarck legt sich bei politischen Krisen gern krank ins Bett oder wandelt am Rand von dramatischen Nervenzusammenbrüchen.
Die erste Kostprobe seiner Fähigkeit zur rücksichtslosen Meinungsäußerung gibt er im neuen Amt gleich am 30. September 1862 vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses, indem er zwei seitdem viel zitierte Sätze ausspricht: »Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht. […] Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden […] – sondern durch Eisen und Blut.«16 Die Wut der liberalen Abgeordneten ist Bismarck so gewiss wie der Hass der freiheitlichen Presse, bündelt sich in dieser Sentenz doch Bismarcks politisches Credo: Es gilt das Recht des Stärkeren, Parlamente sind überflüssige ›Schwatzbuden‹ und Krieg ist ein legitimes Mittel zum Zweck. Vielen Liberalen, ›altrevolutionären‹ Demokraten und Vertretern der im Entstehen begriffenen Sozialdemokratie gilt Bismarck spätestens jetzt als »der schärfste und letzte Bolzen der Reaktion«17.
Bismarck regiert im Folgenden ohne abgesegneten Haushalt und beruft sich dabei auf eine vermeintliche Lücke der Verfassung, die im Falle eines derart tief greifenden Konflikts zwischen König und Parlament keine Regelung vorsehe, weshalb der König und sein Kabinett auch ohne Zustimmung ›souverän‹ handeln könnten. Trotz dieser originellen ›Lückentheorie‹ ist Bismarcks Handeln Verfassungsbruch. Dieses Hintergehen des Parlaments trägt Bismarck unversöhnliche Feinde und ein mit Aggressionen aufgeladenes politisches Klima ein. Die auf diese Weise trotzdem in Gang gesetzte Heeresreform, an deren Ende die preußische Armee zur mächtigsten und gefürchtetsten Streitmacht Europas wird, gründet auf gesetzwidriges Verhalten der Regierung Bismarck. Am Anfang der deutschen Militärmacht des 19. und des 20. Jahrhunderts steht