Georges Simenon

Maigret und das Gespenst


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Augenblick nicht.«

      Maigret ließ sich von Lapointe zur Avenue Junot fahren. Die Bäume hatten bereits alle ihre Blätter verloren, die auf dem feuchten Pflaster klebten. Obwohl es noch immer in Strömen regnete, standen etwa fünfzig Personen auf halber Höhe der Avenue herum.

      Uniformierte Polizisten hatten vor einem vierstöckigen Haus einen Teil des Gehwegs abgesperrt. Als Maigret aus dem Wagen stieg und sich zwischen den Schaulustigen und ihren Schirmen hindurchzwängen musste, waren die Fotografen sofort zur Stelle.

      »Noch einmal, Kommissar … Gehen Sie noch einmal ein paar Schritte durch die Menge …«

      Er sah sie mit dem gleichen Blick an, den ihm die Oberschwester im Bichat geschenkt hatte. Auf dem kleinen Stück freien Gehsteigs war eine Blutlache, die der Regen zwar nach und nach verdünnt, aber noch nicht weggespült hatte. Da Kreide hier nicht zu gebrauchen war, hatte man, mehr schlecht als recht, mit Holzstücken die Umrisse eines Körpers nachgezeichnet. Inspektor Deliot, der ebenfalls dem Kommissariat des 18. Arrondissements angehörte, zog seinen durchweichten Hut, um Maigret zu begrüßen.

      »Chinquier ist bei der Concierge, Herr Kommissar. Er war als Erster am Tatort.«

      Der Kommissar betrat das alte, aber sehr saubere, gut gepflegte Haus und öffnete die Glastür der Loge, als Inspektor Chinquier gerade sein Notizbuch in die Tasche steckte.

      »Ich dachte mir schon, dass Sie kommen würden. Ich war überrascht, niemanden vom Quai hier zu sehen.«

      »Ich war noch im Bichat.«

      »Wie ist die Operation verlaufen?«

      »Sie scheint geglückt zu sein. Der Professor meint, er kann es schaffen.«

      Auch die Loge war sauber und freundlich. Die Concierge, die etwa fünfundvierzig Jahre alt sein musste, war eine sympathisch wirkende Frau.

      »Setzen Sie sich, Messieurs … Ich habe dem Inspektor eben alles erzählt, was ich weiß … Sehen Sie mal auf den Fußboden …«

      Auf dem grünen Linoleum lagen Splitter der zerbrochenen Fensterscheibe.

      »Und hier …«

      Sie deutete auf ein Loch, etwa einen Meter über dem Bett, das hinten im Zimmer stand.

      »Waren Sie allein hier?«

      »Ja. Mein Mann ist Nachtportier im Palace an den Champs-Élysées und kommt erst um acht Uhr morgens nach Hause.«

      »Wo ist er im Augenblick?«

      »In der Küche.«

      Sie deutete auf eine geschlossene Tür.

      »Er will sich ein bisschen ausruhen. Trotz allem muss er ja heute Abend wieder zur Arbeit.«

      »Ich vermute, Chinquier hat Ihnen alle wesentlichen Fragen gestellt. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich selbst es noch einmal tue.«

      »Brauchen Sie mich?«, fragte Chinquier.

      »Im Augenblick nicht.«

      »Dann werde ich kurz hinaufgehen.«

      Maigret runzelte die Stirn, überlegte, wohin er wohl gehen wollte, fragte aber nicht nach, um den Inspektor nicht zu kränken.

      »Entschuldigen Sie, Madame …«

      »Madame Sauget. Die Mieter nennen mich Angèle.«

      »Setzen Sie sich bitte.«

      »Ach, ich bin es gewohnt, zu stehen.«

      Sie zog den Vorhang zu, der tagsüber das Bett verbarg. Jetzt wirkte der Raum wie ein kleines Wohnzimmer.

      »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Tasse Kaffee?«

      »Nein, danke. Heute Nacht also haben Sie geschlafen, als …«

      »Ja. Ich habe eine Stimme gehört. Man bat mich, die Tür zu öffnen.«

      »Wissen Sie, wie spät es da war?«

      »Mein Wecker hat Leuchtziffern. Zwanzig nach zwei.«

      »Handelte es sich um einen Ihrer Mieter, der rauswollte?«

      »Nein. Es war der Herr …«

      Sie machte ein verlegenes Gesicht, wie jemand, den man zu einer Indiskretion zwingt.

      »Welcher Herr?«

      »Der, auf den geschossen wurde.«

      Maigret und Lapointe blickten sich verblüfft an.

      »Sie meinen Inspektor Lognon?«

      Sie nickte und sagte:

      »Man muss der Polizei alles sagen, nicht wahr? Eigentlich spreche ich nicht über meine Mieter, über das, was sie tun, oder darüber, wer sie besucht. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Aber nach dem, was geschehen ist …«

      »Kennen Sie den Inspektor schon lange?«

      »Ja, seit Jahren, seit wir hier wohnen, mein Mann und ich … Aber ich kannte seinen Namen nicht … Ich wusste, dass er von der Polizei ist, denn er war mehrmals bei mir in der Loge gewesen, um die Identität von irgendwelchen Leuten zu überprüfen … Er war nicht gerade gesprächig …«

      »Wann haben Sie ihn näher kennengelernt?«

      »Als er begonnen hat, mit dem Fräulein im vierten Stock zu verkehren …«

      Diesmal verschlug es Maigret die Sprache, und auch Lapointe konnte das kaum fassen. Polizisten sind nicht unbedingt Heilige, Maigret wusste sehr wohl, dass es auch bei der Kriminalpolizei so mancher mit der ehelichen Treue nicht sehr genau nahm.

      Aber Lognon! Dass Inspektor Griesgram mitten in der Nacht eine junge Frau besuchte, kaum zweihundert Meter von seiner eigenen Wohnung entfernt!

      »Sind Sie sicher, dass es sich um denselben Mann handelte?«

      »Den kann man ja wohl kaum verwechseln!«

      »Geht das schon lange so, dass er … diese Person besucht?«

      »Seit zwei Wochen etwa.«

      »Er ist also eines Abends mit ihr hinaufgegangen?«

      »Ja.«

      »Hat er sein Gesicht verborgen, als er an der Loge vorbeikam?«

      »So wirkte es zumindest.«

      »War er oft da?«

      »Fast jeden Abend.«

      »Ging er sehr spät wieder weg?«

      »Anfangs, ich meine, in den ersten drei oder vier Tagen, ging er kurz nach Mitternacht … Dann ist er länger geblieben, bis zwei oder drei Uhr morgens …«

      »Wie heißt diese Frau?«

      »Marinette … Marinette Augier. Ein hübsches Mädchen, fünfundzwanzig Jahre alt, gut erzogen.«

      »Hat sie häufig Männerbesuch?«

      »Ich glaube, ich kann die Frage beantworten, denn sie hat nie ein Hehl daraus gemacht … Ein Jahr lang hat sie zwei- oder dreimal die Woche einen attraktiven jungen Mann empfangen, ihr Verlobter, wie sie mir sagte …«

      »Blieb er über Nacht?«

      »Sie werden es ja doch erfahren … Ja … Als er nicht mehr gekommen ist, wirkte sie traurig. Eines Morgens, als sie die Post holte, habe ich sie gefragt, ob sie die Verlobung gelöst hätten, und sie hat mir geantwortet:

      ›Ach, meine gute Angèle, sprechen wir nicht mehr darüber. Die Männer sind es nicht wert, dass man sich ihretwegen den Kopf zerbricht …‹

      Sie scheint ihm aber nicht lange nachgetrauert zu haben, denn bald war sie wieder ganz vergnügt … Sie ist ein sehr fröhliches, gesundes Mädchen …«

      »Arbeitet sie?«

      »Sie ist Kosmetikerin in einem Schönheitssalon