Clara Viebig

Menschen und Straßen


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waren die Lider; auf der weissen, kindlichen Stirn zogen die Brauen zwei eigensinnige Bogen.

      Draussen lag Schnee und dämpfte jeden Schall. Am Fenster duftete der Hyazinthentopf, lange, blasse Blüten, nur mit einem Hauch von Farbe. Es wollte dämmern.

      Sie schien zu schlafen. Er beobachtete sie lange, sehr lange, und dann reckte er den Hals — so konnte er gerade zum Fenster hinaussehen. Draussen alles tot und weiss, in einem fahlen Licht. Und jetzt hob sich die Dämmerung wie ein Riesenschatten und reckte sich am Haus in die Höhe und wuchs und wuchs, höher und höher, bis hinauf zu dem Fenster im vierten Stock.

      Die Kranke rührte sich und seufzte.

      „Mariechen,“ fragte er sanft, „hast du geschlafen?“

      „Ja, — und geträumt!“ Ihre Stimme klang erfreut. „So schön wie damals! Nun ist unser Kind da, nun kannst du mir doch auch“ — sie stockte — „sei nicht bös! Ich möchte wohl wissen, ob die kleinen, braunen Schuhchen schon verkauft sind?“

      Als die alte Nachbarin, welche die Kranke pflegte, mit der Lampe kam, ging der Sekretär und kaufte die Schuhe. Sie waren noch zu haben; grinsend und dienernd wickelte der Alte sie in ein grünweiss gestreiftes Seidenpapier.

      Mauke kam heim und legte sie Mariechen aufs Bett. Sie hatte wieder mit geschlossenen Lidern geruht, nun schlug sie die Augen gross auf, ein seltsames Glühen war in ihnen.

      „Sieh mal!“ Er schob ihr das grünweisse Seidenpapier-Päckchen unter die Hände. „Da, wickel mal aus!“ Schmunzelnd sah er seiner Frau zu.

      Ihre Blicke wurden erstaunt-froh, leuchtender und leuchtender; mit fiebrig zitternden Händen wickelte sie an dem Papier, es riss mitten durch. „O die Schuhchen, die —“

      Sie kam nicht weiter. Das Kind an ihrer Seite stiess einen Schrei aus, lauter denn je einen zuvor, streckte die geballten Fäustchen in die Luft und bäumte sich wie im Krampf.

      „Nanu?“ Der Vater beugte sich erschrocken übers Bett. „Was hat er? Aha, er freut sich über seine Schuhchen!“

      Und er nahm das Kind von der Seite der Mutter, tänzelte in der Stube mit ihm auf und ab und erzählte ihm kosend von seinen schönen, brauen Schuhchen.

      Die junge Mutter hörte ganz still zu, die Freude hatte sie erschöpft; sie stiess nur in Absätzen einen langen, zitternden Seufzer der Befriedigung aus. —

      In der kommenden Nacht starb Marie Mauke. Die alte Nachbarin wand ihr unter Stöhnen und Schluchzen den einen kleinen Schuh aus der kalten, krampfhaft geschlossenen Hand. Die Arme hatte ihn am Abend nicht hergeben wollen, nun musste sie doch. Die Hyazinthen am Fenster dufteten berauschend. Die Alte holte weinend eine Schere, schnitt die fetten Stengel ab und schob sie der Toten zwischen die blassen Finger.

      Wochen vergingen, Monate. Oben auf dem Schrank standen die kleinen, braunen Schuhe vergessen. Mauke mochte sie nicht ansehen, sie erinnerten ihn zu schmerzlich an seine Frau. Sie verstaubten. Mitunter stieg die Nachbarin auf einen Stuhl, langte sie herunter und pustete sie ab; es tat ihr jedesmal leid um die hübschen Dinger. Zuletzt, — der Junge brauchte Schuhe, — zog sie sie ihm an und gab einen Klaps unter jedes Söhlchen: „Da, jrossartig, sitzen jrossartig! So’n Staatsbengel!“

      Als der Sekretär nach Hause kam, strampelte ihm sein Junge auf dem Arm der Alten entgegen.

      Der Kleine konnte noch nicht laufen und sprechen, aber eitel war er schon auf seine kleinen Schuhe. Er weinte, wenn man sie ihm nicht anzog; er krähte vor Vergnügen, wenn er sie anhatte, er betrachtete sie mit grossen Augen und kratzte mit dem nadelscharfen Nagel des Zeigefingerchens an den weissen Steppverzierungen.

      „Mein Junge“, nickte Mauke. Das Wasser quoll ihm in die Augen. „Wenn Mariechen sie sehen könnte!“

      Weiter sagte er nichts, er war kein Mann von vielen Worten, er nahm alles resigniert, Gutes wie Böses; die Sonne hatte ihm nie voll auf den Kopf geschienen, immer nur hatte er sie durch einen Fensterspalt an einem winzigen Stück Himmel gesehen.

      Nach und nach litten die Schuhchen, der Junge rutschte soviel auf den Dielen. Die weissen Steppnähte waren längst schmutzig, das Braun schabte sich ab, und eines Tages klafften die Spitzen.

      Mauke trug sie zum Ausbessern, aber der Alte im Eckladen brummte: „Kinderschuhe lohnen das Reparieren nicht!“ Dann grinste er: „Weg damit!“ Und dann zeigte er Mauke andere Schuhe: „Gibt ja so viel neue, — enorm billig, — hehe!“ Das grinsende Lachen erstickte ihn fast, er hüstelte. „Kaufen Sie neue, — schrumm, ein anderes Bild, — hehe, — alles vergänglich!“ — — — — — —

      „Ich weiss was“, sagte Mauke beim Nachhausekommen zu seiner Freundin, der alten Nachbarin.

      „Na, was denn, Herr Sekretär? Schiessen Sie mal los!“ Sie wurde sehr neugierig, denn er lächelte so geheimnisvoll. „Man los!“

      Aber es war nichts aus ihm herauszubringen, er wiederholte nur noch einmal, wichtig wie ein Kind: „Ich weiss was!“

      Am nächsten Sonntag früh küsste er seinen Jungen; der war nun ein Jahr alt. Dann zog er seinen besten schwarzen Rock an, bürstete den Zylinder spiegelblank und ging aus. —

      Das Vorland der grossen Stadt schimmerte wie ein riesiges, weisses Feld; die Trottoire vor den letzten Häusern waren wohl frei gefegt, aber auf dem Damm türmten sich grosse Schneehaufen. Ein rechtes Weihnachtswetter. Und Tannenduft in der Luft; an den Strassenecken, auf den Plätzen grüne Tannenpyramiden, in den Läden bunte Lichter und goldige Ketten, Leckereien und glänzend-geriebene Äpfel.

      Hinter der grossen Scheibe des Eckladens standen die Stiefel aufgereiht zum Weihnachtsausverkauf, mit Tannenzweigen und Watteflocken war das Fenster garniert.

      Mauke warf einen trüben Blick auf die Schuhausstellung, einen langen, sehnenden Blick auf das Trottoirfleckchen vorm Schaufenster — da hatte sie so oft gestanden!

      Und dann ging er weiter durch alle die Menschen, an fröhlichen Kindern vorüber, vorbei an hastenden Käufern, an Tannenbäumen, an rollenden Pferdebahnen und schwer knarrenden Lastwagen, an prangenden Läden und beschneiten Vorgärten, — immer weiter, bis der Weg stiller wurde, zuletzt ganz still.

      Da war der Kirchhof.

      Vor ihm her stapften zwei Kinder, ihre kleinen Gestalten waren das einzig Bunte in der ganzen Umgebung und das einzig Lebende. Sonst alles tot und schweigsam. Jetzt hörte er ihre Stimmen; sie lachten, sie waren ganz vergnügt und trugen ein geputztes Bäumchen. Durch die lange Mittelreihe der Gräber folgte er ihnen; da hielten sie an einem schmalen Hügel, sie pflanzten wohl dem toten Brüderchen oder Schwesterchen den Tannenbaum aufs Grab.

      Auch die Toten bekommen zu Weihnachten Geschenke.

      Mauke ging weiter, nicht gemessenen Schrittes, wie man hier zu gehen pflegt, nein, er lief eilig, wie beschwingt, er rannte. An weissen Hügeln vorbei, an weissen Bäumen vorbei, ganz zum Ende des Gartens und dann rechtsum — da lag sie.

      Atemlos hielt er an, rot und heiss.

      Scheu sah er sich um: niemand in Sicht! Einsam waren die vielen Ruheplätze mit den Gittern, die Schneehauben trugen.

      Kahle Rosenstämme, verschneite Zypressen, und der Himmel darüber weisslich-grau und schwer zum Niedersinken.

      Mauke zog etwas aus der Tasche und legte es nieder aufs Grab mitten darauf:

      „Da, Mariechen, da hast du sie!“

      Der Kollege mit dem roten Nelkenstengel arbeitete nicht mehr im gleichen Bureau mit Sekretär Mauke, seit Dezember hatte er die Stellung gewechselt. Ein paar Wochen nach Weihnachten begegnete er aber dem früheren Amtsgenossen auf der Strasse.

      „He, Mauke!“ Der Kollege hatte heute keinen Nelkenstengel zwischen den Zähnen, wohl aber ein Tannenreis; er nahm’s heraus, um besser sagen zu können, wie er sich freue. „Ne, alter Knabe, famos, dass wir uns mal treffen, was? Na, wie jeht’s denn?“

      „Ich habe mein Kind verloren“, sagte Mauke eintönig.