Clara Viebig

Menschen und Straßen


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ik haue dir tot!“

      „Stibike, um Jottes Willen, Stibike!“ Zeternd hielt die Mutter dem Wütenden den Arm fest. „Du tust ihm ’nen Schaden, du machst ihm zum Krüppel, un wat denn? Stibike, Mann, um Jottes Willen!“ Sie heulte laut auf, und die kleinen Kinder stimmten mit ein.

      „Ruhe, halt’s Maul! Jebt mir meinen ehrlichen Namen wieder! Meinen ehrlichen Namen! Habe ick dir darum den Willen jetan un den Bengel mit ufjenommen, als ick dir heiratete? Du Rumtreibern, du liederliches Mensch! Was jeht mir der Bengel an? Ick haue ihm dot, mausedot!“

      „Stibike!“

      „Ruhe!“

      Ein Puff, ein Aufkreischen, das Weib flog zur Seite. Die Schürze vorm Gesicht, verkroch sie sich in den äussersten Winkel; da hockte sie und hielt sich die Ohren zu, sie konnte das Wimmern ihres Kindes nicht hören.

      Endlich liess der Wütende ab, erschöpft warf er sich aufs Sofa. „Meinen ehrlichen Namen — so en Hallunke — un so dumm! Weess nischt zu sagen! Aber der Inspekter estimierte mir jleich. ‚Stibike,‘ sagte er, ‚ich sehe, Sie sind en ordentlicher Mann‘, sagte er. ‚Ihnen zu Liebe,‘ sagte er, ‚wer ich’s nochmal mit dem Jungen versuchen, kommt aber das jeringste vor, denn‘ — Bengel, ik sage dir, lässte dir noch eenmal ertappen, haue ik dir zu Mus! So was muss mir passieren — mir — Jottlieb Stibiken?! Mein — mein janzes Leben lang habe ik mir anständig jeführt — da is nischt zu sagen — man schind’t un plagt sich — un so ’n Bengel — durch und durch — ’n Ehrenmann!“

      Das letzte sprach Herr Stibike nur noch undeutlich; er hatte sich zu dem Gang in die Molkerei gestärkt und auf dem Nachhauseweg wieder. Er schlief bald ein.

      Die Sterne standen am Himmel; einer von ihnen blinkte gerade über den Hof, als Hans Stibike die Kellertreppe heraufschlich. Er konnte nicht gehn, die Glieder schmerzten ihn unsäglich; er kroch die Stufen aufwärts. Er tastete sich über den Hof; im Winkel beim Hund sank er weinend nieder. Leise knurrend leckte ihn Pluto und streckte sich dann auf seine Füsse.

      So lagen sie beide — wund, müde, zerschlagen — und über ihnen stand ein goldener Stern. Sie sahen ihn nicht.

      „Männeken, wo haste den Jroschen? Du hast doch nich etwa wieder lange Finger jemacht?“ Der Kutscher rüttelte ihn.

      „Ik habe ihm nich, Se können mir jlooben, ik habe ihm nich jenommen, wahrhaftig nich! Jott, o Jott!“ Jammernd zeigte Hans Stibike die leeren Hände.

      Sie standen neben dem Milchwagen auf der Strasse, ein kühler Herbstwind fegte bunte Blätter von den Bäumen, ihnen vor die Füsse.

      Der Knabe zitterte und bebte im rauhen Hauch, selbst wie ein welkes Blatt. „Ik habe ihm nich, o lieber Herr Schulze, zeijen Se mir nich an! Ik habe ihm nich, ik habe ihm nich, ik habe ihm nich!“ Sinnlos wiederholte der Junge immer dieselben Worte.

      „Det kann jeder behaupten“, sagte der Kutscher phlegmatisch. „Komm man nach ’n Hof, det wird jemeld’t!“ Und er packte den Jungen am Kragen.

      Wo war der Groschen geblieben? Vielleicht zur Erde gerollt, vielleicht nicht richtig herausgegeben. Aber er war fort, und Hans Stibike, dem, der einmal gestohlen hatte, dem glaubte man nicht.

      „Du bist entlassen, und zwar sofort“, sagte der Inspektor. „Deinem Vater werde ich Mitteilung machen.“

      Schwankend, wie ein Trunkener, ging Hans durch die wohlbekannten Strassen. Sie glaubten ihm nicht, sie glaubten ihm nicht — was nun?! Eine sinnlose Angst bemächtigte sich seiner. Wieder fühlte er die Schläge, die damals im Sommer seinen schwachen Körper fast zerbrochen hatten; jetzt war es Herbst, aber die Schwielen waren kaum verharscht. Er hörte schon das Schimpfen des Vaters, er hörte das Jammern der Mutter, er hörte das eigene Ächzen. Kalter Schweiss trat ihm auf die Stirn und rieselte an seinen Schläfen herunter. Schwindelnd schloss er die Augen — wohin, wohin?! Sollte er sich im Grunewald verkriechen zwischen Kiefern und Wacholdergestrüpp? Sie würden ihn finden. Sollte er fortrennen draussen in die Haide, hinaus vor die Stadt? Sie würden ihn finden. Sollte er sich davon machen irgendwohin in die weite Welt? Sie würden ihn auch da finden.

      Mit trostlosen Augen, totenblass kam er heim; er sagte nichts, sie erfuhren’s ja noch zeitig genug.

      „Biste krank, Junge?“ fragte die Mutter und fuhr ihm mit der rauhen Hand übers Haar; sie mochte ihn doch leiden, sie traute sich nur nicht, heute jedoch war der Vater nicht zu Hause. „Biste krank?“

      Er nickte stumm, und dann kroch er in das schmale Bett, das er nachts mit den kleinen Geschwistern teilte, und drehte den Kopf nach der Wand. So lag er regungslos, in Schweiss gebadet, die Hände unter der Decke krampfhaft gefaltet. Er konnte nicht beten, das war er nicht gewohnt — was auch? Die Angst, die Angst war zu gross.

      Am Abend kam der Vater heim, schwer betrunken. „Wo is der Junge?“ lallte er.

      Hans zog zitternd die Decke über seinen Kopf und wagte keinen Atemzug.

      „Er is krank“, sagte die Mutter.

      „Nanu? Morjen — morjen — der verdammte — Bengel!“ Der Vater warf sich aufs Bett; schon schnarchte er.

      Morjen! Wusste er’s — wusste er’s nicht?!

      Im Fieberfrost schüttelte sich der Körper des Knaben; mit weit aufgerissenen, glühenden Augen starrte er ins Dunkel. Er konnte nicht schlafen, eine brennende Sehnsucht war in ihm, noch grösser als die Angst; eine brennende Sehnsucht, sich irgendwo anzuschmiegen, Schutz zu suchen für den müden Kopf.

      Pluto —! Der Knabe lächelte plötzlich. Ja, der war gut! Zu dem wollte er gehen, wenn der Morgen graute — zu Pluto — Pluto — — —

      Seine Gedanken verwirrten sich, allerhand Bilder kamen und gingen, immer war Pluto dabei. Und dann schlief er ein, die dünnen Hände auf der Decke gefaltet, den Mund halb geöffnet. —

      Es war sehr früh, als er aufwachte; er hatte sanft geschlafen. Noch schien bleicher Frühmond, kein Tageslicht. Leise stand er auf, er wusch und kämmte sich geräuschlos, aber mit mehr Sorgfalt als sonst.

      Im blauen Kittel, die grünumrandete Mütze auf dem Kopf, schlich er durch die Stube ans Bett der Mutter; er guckte ein paar Augenblicke auf sie nieder, dann schlüpfte er zur Tür hinaus.

      Herr Stibike schnarchte noch dröhnend, wie mitten in der Nacht, als Frau Stibike von einem gellenden Aufschrei erwachte. Das kam vom Hof!

      „Stibike — Frau Stibike — Sti — bi — ke —!“

      Was war denn los? Im Bett fingen die Kleinen an zu quarren. Schlaftrunken sprang die Frau auf, sie warf einen Rock über und tappte mit blossen Füssen zum Fenster. Da pochte es auch schon an die Scheiben.

      „Stibike — Frau Stibike — Sti — bi — ke —!“

      „Was ’s denn los?“ Die Frau bekam das Zittern, das Rufen klang so graulich.

      „Kommen Se man raus — schnell, schnell — Ihr Junge — ’s was passiert!“

      „Was passiert?“ Eine schreckenvolle Neugier durchrieselte Frau Stibikes Glieder, sie schrie ihren Mann an: „Stibike!“ Der drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.

      Draussen das Rufen laut und lauter. Ein Stimmengemisch, ein wirres Durcheinandersprechen und dazwischen Hundegeheul, schauerlich dumpf und anhaltend. Zitternd fährt das Weib in die Kleider.

      Nun ist sie draussen, ein allgemeiner Aufschrei empfängt sie.

      Im Winkel bei der Hundehütte drängen sich alle, in einem dichten Haufen stehen sie.

      „Was ’s denn los, was ’s denn los?!“

      „En Unjlück — Stibiken, Ihr Junge — Jott in ’n Himmel!“

      „Hans —?!“

      Man weicht zurück, die Mutter drängt sich durch, und nun gellt ihr Entsetzensschrei, dass die Hofwände widerhallen.

      Das